Lily Morton hielt mit dem Einspänner am Rand des Ahornwäldchens, das von der Kirche aus nicht zu sehen war. Dann presste sie ihre Fäuste gegen ihren Bauch, um das Rumoren darin zu unterbinden. Das dünne gelbe Kleid gehörte einer von Mrs. Sullivans Töchtern und war für die Mode viel zu lang. Der Absatz von einem ihrer schwarzen Schuhe war abgebrochen und nur notdürftig mit Teer wieder angeklebt. Lily überlegte, ob sie wieder nach Hause fahren sollte. Sie wusste ja nicht mal genau, was sie hier wollte. Sie wusste nur, dass Claire wieder ein Baby verloren hatte. Es war noch früh in der Schwangerschaft gewesen, doch sein Verlust erfüllte das ganze Haus, und nicht einmal im Wald fand Lily diesmal Trost.
Sie erwartete nicht, in der Kirche Frieden zu finden oder von der Trauer erlöst zu werden. Eher hatte sie die Hoffnung, abgelenkt zu werden. Daher ging sie auf ihren kippelnden Absätzen unsicher auf die kleine weiße Kapelle zu und raffte dabei das zu lange Kleid.
Da die Eichentür gnadenlos quietschte, wandten sich ihr alle Köpfe zu. Der Priester gab ihr mit einem kurzen Nicken von der Kanzel seine Missbilligung zu verstehen. Zwar drehten sich die Köpfe wieder nach vorn, doch alle Augen folgten ihr, als sie nach einem freien Platz suchte. Der kleine Thomas, der Jüngste vom Forrester-Clan, rutschte ein Stück zur Seite und klopfte auf den Platz neben sich. Seine Mutter reckte in stillem Tadel das Kinn vor, wandte sich aber ab, als Lily sich hinsetzte und dem Jungen, dessen Hals vom gestärkten weißen Kragen gerötet war, ein dankbares Lächeln zuwarf.
Lily betrachtete die Gemeinde: die Katholiken, die sie aus der Stadt kannte, und die Farmer vom höher gelegenen Umland. Mr. Campbell, der Besitzer des Kolonialwarenladens, saß ganz vorn, und seine gelangweilte Haltung und sein kahl werdender Kopf, auf dem sich das Kerzenlicht spiegelte, standen im scharfen Kontrast zu den straffen Schultern und der aufrechten Haltung seiner Frau. Seine drei Töchter, von denen die Älteste eine junge Frau in Lilys Alter war, trugen steife Kleider und glänzende Schuhe. Ins Haar hatten sie seidene Bänder gebunden, jede in einer anderen Farbe, und ihre dunklen Locken schimmerten im Licht der Buntglasfenster. Lily warf einen Blick auf ihren kaputten Schuh und den verblichenen Stoff ihres Kleides über den Knien.
Sie war so tief in Gedanken versunken, dass sie die allgemeine Bewegung erst bemerkte, als der Junge neben ihr sie anstupste und ihr bedeutete, sich wie alle anderen hinzuknien. Sie neigte den Kopf über ihre gefalteten Hände und beobachtete unter halb geschlossenen Augen die um sie herum Sitzenden. Die Stimme des Priesters ging in einen monotonen Singsang über, und seine Worte kamen ihr bedeutungslos vor.
Thomas’ Mutter rieb ihm die Schulter. In der Bank auf der anderen Seite des Ganges hielt Gerda Mueller ihrer Tochter ein Taschentuch unter die Nase. Mr. und Mrs. Johnson hatten sich bei den Händen gefasst, und ihre gebeugten Gestalten wirkten wie zusammengewachsen. Im Gegensatz dazu wurde die Kluft zwischen Lily und den anderen Kirchgängern immer größer.
Als die Orgel dröhnte, stieß der kleine Thomas sie erneut an. Folgsam wie ein Lamm reihte Lily sich in die Schlange ein, die zum Priester vorrückte. Als sie vor ihm stand, zog er seine ausgestreckte Hand zurück und starrte sie finster und ungläubig an.
»Du darfst nicht zur Kommunion, Lily.« Sie spürte, dass alle sie beobachteten, hörte das Scharren der Füße hinter sich.
»Ich …«
Jetzt hob er streng die Augenbrauen. »Du bist keine Christin.«
Du gehörst nicht hierher, Lily. Diese Worte hallten so laut in ihr nach, als wären sie tatsächlich gefallen. Du gehörst nirgendwohin.
Sie brach aus der Schlange aus. Die Campbell-Mädchen kicherten verstohlen. Ernst flüsterte Mrs. Johnson ihrem Mann etwas ins Ohr. Lily eilte auf den Ausgang zu, doch der Gang zwischen den Bänken schien grausamerweise immer länger zu werden. Als sie umknickte, brach der angeklebte Absatz erneut ab. Sie stürzte durch die knarzende Tür nach draußen, kickte den kaputten Schuh wütend von sich, zog auch den anderen aus und warf ihn fort.
Barfuß floh sie über den eiskalten Boden zum Wäldchen, das dicht genug war, um sich darin zu verstecken. Sie riss sich das Perlenhaarband vom Kopf. Die Glocke der Kapelle fing an zu läuten und übertönte die Stimmen der Kirchgänger, die jetzt ins Freie strömten. Ganze Familien kamen nacheinander heraus. Zu Hause würde es etwas Warmes zu essen geben und nach frisch gebackenem Brot duften. Die Väter würden in großen Sesseln sitzen, Pfeife rauchen und einen Tag ohne Holzhacken oder Jagen genießen. Am Abend würden die Mütter ihre Söhne und Töchter ins Bett stecken und ihnen einen Gutenachtkuss auf die Stirn geben.
Lily Morton lehnte sich an einen Baum, ließ sich daran zu Boden sinken und umschlang ihre Knie. Neidisch beobachtete sie das Geschehen von ihrem Versteck aus.
Du gehörst nicht hierher, Lily, würden sie sagen. Du bist viel zu wild …
Ein Vogel raschelte im welken Laub und pickte an einem Tannenzapfen. Lily beugte sich vor, öffnete ihre Hand und bewegte langsam die Finger, um ihn anzulocken. Zentimeter für Zentimeter rückte sie näher an ihn heran, um ihm übers Gefieder zu streicheln, doch plötzlich breitete er seine scharlachroten Flügel aus und erhob sich in die Lüfte. Lily ließ sich wieder an den Baumstamm sinken.