Pittsburgh wurde zur Waffenschmiede der Alliierten, zur Waffenschmiede der ganzen Welt. Mit dem Ersten Weltkrieg wuchs die Zahl der Fabriken, die die Hälfte des Stahls für den Krieg produzierten und verarbeiteten und über fünfhunderttausend Männern und Frauen Arbeit boten, noch weiter an. Beinahe ununterbrochen wurde das Metall geschmolzen, die Eisenhütten pumpten Tag und Nacht. Unfälle wurden vertuscht, neue Männer in die Fabriken geschleust. Die Streiks wurden aufgelöst, die deutschen Arbeiter ausspioniert. Die Immigranten wurden eingezogen und bis aufs Blut ausgequetscht. Die giftigen Dämpfe verätzten Augen und Lungen. Kohle wurde geschürft, Munition gegossen. Waffen wurden verschickt und immer schneller auf die Züge gepackt. In einer fiebrigen, manischen, wahnwitzigen Geschwindigkeit agierte die Stadt, um den Krieg am Laufen zu halten.
Nach Andrews Unfall kehrte Wilhelm zwar zu seiner Arbeit bei der Eisenbahn zurück, aber er war nervös, reizbar und unbeherrscht. Nachts hatte er Alpträume, aus denen er schreiend und schweißgebadet aufwachte. Wenn er zur Arbeit aufbrach, zitterten seine Hände. Weder redete er vom Unfall noch betrat er Andrews Zimmer.
Die Stunden auf den Gleisen waren gnadenlos, denn ununterbrochen und ohne Rast pflügten sich die Lokomotiven durchs Land und zogen eine endlose Reihe von Waggons mit Kohle und anderen Kriegsgütern hinter sich her. Das Rote Kreuz pflasterte die Bahnhöfe mit Plakaten, die einen jungen, verwundeten Soldaten auf einer Bahre zeigten. Darunter stand: Wenn ich versage, stirbt er. Und diese Prophezeiung hing lastend über den Männern, deren Söhne in Europa waren, und den Arbeitern, deren Kräfte nachließen.
Granaten für Haubitzen, Dosen für die Armeeverpflegung, Millionen von Kugeln, Gasmasken, Panzerteile und Maschinengewehre gelangten aus den Pittsburgher Fabriken direkt in die wartenden Hände der müden Soldaten in Übersee. Überfüllte und verstopfte Bahnstrecken ließen die Eisenbahner vor Wut mit der Faust gegen ihre stählernen Ungetüme hämmern, während sie darauf warteten, endlich weiterfahren zu können. Denn Verspätung konnte sich niemand leisten. Wenn ich versage, stirbt er.
Wilhelm sprach nicht vom Krieg. Am Abend las er stundenlang die Schlagzeilen der Pittsburg Press und starrte dann reglos vor sich hin.
Eines Tages dann kam Wilhelm am späten Nachmittag unerwartet nach Hause, schickte seine Kinder nach oben und setzte sich zu seiner schwangeren Frau an den Tisch. Eine ganze Weile saß er nur zusammengesunken mit gesenktem Kopf in seinem Korbstuhl.
Eveline sagte erst nichts, sondern drückte ihre Hand gegen den Bauch, um die unruhigen Babys zu beruhigen.
»Was ist denn?«, fragte sie schließlich.
Reglos, mit leerem Blick sagte er: »Ich bin gefeuert worden.«
»Das verstehe ich nicht.« Sie blinzelte irritiert. Dann hörte sie ihre Kinder in Andrews Zimmer, und ihr dämmerte es. »Wegen des Unfalls? Aber das war doch nicht deine Schuld.«
Kurz verzerrte er schmerzlich das Gesicht. »Er hätte nicht da oben sein dürfen«, murmelte er. »Ich hätte ihn nicht da rauflassen sollen.«
»Aber dich gleich zu feuern …«
»Ich war wie gelähmt«, stieß er hervor und verzog die Oberlippe vor lauter Selbsthass. »Und gestern hätte ich fast den Zug entgleisen lassen!«
Er legte den Kopf in die Hände und raufte sich die Haare. »Ich war wie gelähmt, Eve. Die Gleise waren nass, alles war feucht.« Er riss die Augen auf, sah alles wieder vor sich. »Wir näherten uns einem stehenden Zug, und ich konnte einfach nicht bremsen. Die Lokomotive pfiff, immer und immer wieder. Aber ich konnte mich nicht rühren. Sah nur, wie sein Körper vom Dach rutschte, wie sein Schatten am Fenster vorbeifiel …«
Eveline wollte nach seiner Hand greifen, aber er zog sie so heftig zurück, als hätte sie versucht, ihn zu beißen. »Ich hab dir gesagt, dass ich den Jungen nicht bei mir auf der Arbeit haben will. Oder etwa nicht? Hab ich dir nicht gesagt, wir hätten nichts mit ihm zu schaffen?«
Wieder traten die Zwillinge gegen ihre Rippen, und sie atmete gepresst aus. »Er hat seinen Vater verloren, Wilhelm. Sie hatten kaum Geld zum Leben.«
»Und?«, zischte er. »Jetzt haben wir ihn am Hals. Noch einen, den wir durchbringen müssen, und dann auch noch einen Krüppel!«
»Wie kannst du nur so was sagen?« Ihr wurde fast übel von seinen Worten. »Du kannst doch auch zur Baltimore and Ohio Railroad gehen«, stieß sie hitzig hervor. »Oder sogar zur New York Central. Die würden dich sofort nehmen.«
Wilhelm lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und lachte zynisch. »Du kapierst es einfach nicht, oder? Die haben doch nur auf einen Vorwand gewartet! Glaubst du vielleicht, sie wollen, dass ein Deutscher – auch noch ein Deutscher mit dem Namen Kiser – bei ihrer Eisenbahn arbeitet? Glaubst du, sie wollen einem Deutschen den Transport von Material für ihre Artillerie und ihre Maschinen anvertrauen?«
»Du hast zu viele Geschichten gelesen.« Sie nahm die Zeitung, stand auf und warf sie in den Mülleimer. Dann kehrte sie zum Tisch zurück. »Der Feind ist in Europa und kein bescheidener Bremsenwärter in Troy Hill.«
Seine Miene verdüsterte sich. »Du ahnst ja gar nicht, mit welchen Anfeindungen wir zu kämpfen haben. Immer wieder drangsaliert und bedroht man uns, nur weil wir aus Deutschland kommen.« Seine Stimme wurde dumpf und leise.
Eveline rann ein Schauer über den Rücken. Sie wollte das Gesicht in den Händen verbergen, aber Wilhelm löste ihre Finger.
»Du weißt ja gar nicht, wie es da draußen ist«, zischte er. »Du hast keine Ahnung!«
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte sie, bereute es aber sofort. Sie versuchte, Klarheit in ihre Gedanken zu bringen, aber sie hatte Mühe, die Panik zu unterdrücken, die in ihr aufstieg. »Ziehen wir in eine andere Stadt?«
Da lachte er wieder, es klang bitter. »Gute Nachrichten für dich, Eve. Ich habe unser Haus gegen eins auf dem Land eingetauscht.«
»Du musst nicht mehr in der Stadt leben.«
Sie rieb sich mit den Fingern über ihre pochende Schläfe. »Was hast du …«
»Was denn, freust du dich gar nicht? Na komm!«, sagte er sarkastisch. »Dein Traum ist doch wahr geworden.«
»Es geht dir nicht gut, Wilhelm«, sagte sie besorgt. Sie stemmte sich vom Tisch hoch und stand auf. »Du weißt ja nicht, was du sagst.«
Als er sich ebenfalls erhob, war seine aufgesetzte Munterkeit wie weggeblasen. »Ich weiß ganz genau, was ich sage.« Mit leerem Blick reichte er ihr ein Dokument.
»Da hast du deine Farm, Eve«, sagte er. »Genau das, was du immer wolltest.«
Das Buch lag auf Andrews Knien, und die Seiten fächerten sich unberührt auf. Mit dem warmen Luftzug drangen auch der Duft von Evelines Kletterrose und die Worte der beiden durch sein offenes Fenster. Als das Gespräch endete und die Haustür zuknallte, schloss Andrew die Augen. Die Sätze, die zwischen den beiden hin und her gegangen waren, schmerzten wie Stichwunden. Benommen öffnete er die Augen und blickte über das schiefergraue Meer aus Dächern. Ein Schwarm Tauben ließ sich auf der nächstgelegenen Traufe nieder. Sie ruckten mit den Köpfen, bis sie sich paarweise wieder in die Lüfte erhoben.
Als die Jungen die Auseinandersetzung unten hörten, hatten sie ihr Murmelspiel auf dem Teppich unterbrochen. Sie warteten darauf, dass Andrew sie ansprach und irgendwie beruhigte, doch er konnte ihnen nicht ins Gesicht blicken, sondern konzentrierte sich auf die Leere, die er beim Anblick der Dächer, Schornsteine und gurrenden Tauben fand.
Der siebenjährige Wilhelm kam zum Bett, kletterte auf die Matratze und stützte sein Kinn aufs Knie. Eine Murmel rollte aus seinen winzigen, weichen Fingern. Er wandte sich zu Andrew, und sein kummervoller Blick huschte zu Andrews Schulterwunde. »Tut es weh?«
Andrew nickte. »Ja«, sagte er matt, »es tut weh.«
Wieder schloss er die Augen und kämpfte gegen das Brennen, die Wut, die Verbitterung. Der Arzt hatte behauptet, die Schmerzen würden aufhören, wenn die Nervenenden verheilt wären, aber die sengende Hitze war mittlerweile sein ständiger Begleiter geworden: ein Schmerz in einem Körperteil, den es gar nicht mehr gab, wie die Erinnerung an ein gebrochenes Herz, die Erinnerung an seine Eltern und seine im Keim erstickten Hoffnungen.
Will schob sich näher zu ihm, starrte mit leicht zusammengekniffenen Augen auf die Amputationswunde und die gezackte Narbe. »Sieht aus wie der Schornstein in der Fabrik.«
Da kletterte auch Edgar aufs Bett und drängte sich an seinem Bruder vorbei. »Lass mal sehen.« Andrew krümmte sich innerlich, als die zwei kleinen Jungen die Schnitte begutachteten. »Ah, jetzt sehe ich es auch!« Edgar zeichnete in der Luft die Form der Narben nach. »Stimmt, sieht genauso aus, mit Rauch und allem Drum und Dran.«
Andrew betrachtete die Gesichter, die keinerlei Mitleid zeigten. Ganz bewusst entspannte er den Nacken und seine Schultern und spürte, dass sein Körper schlaff wurde wie ein Ballon, aus dem die Luft entwich. Unwillkürlich musste er lächeln, was sich seltsam fremd anfühlte, wie ein Relikt aus vergessenen Zeiten. Er ließ zu, dass die Jungen seinen Körper begutachteten, weil ihre Neugier irgendwie den Schmerz linderte und ihn den harschen Wortwechsel aus der Küche kurzzeitig vergessen ließ.
Auch wenn Wilhelm Kiser ihn als Krüppel betrachtete, so sahen diese Jungen – und dafür war Andrew dankbar – nur ein Wahrzeichen von Pittsburgh in seiner Narbe.