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15. Kapitel

Im Haus stemmten sie ein Fenster nach dem anderen auf; etliche Rahmen splitterten dabei, und manche konnten nur mit einem Stemmeisen nach oben geschoben werden. Als frische Luft in das stickige Haus strömte, schaukelten die Spinnweben, und tote Fliegen und verpuppte Insekten fielen zu Boden und knirschten und knackten unter ihren Schritten. In zwei Schlafzimmern im oberen Stockwerk empfingen sie gefährlich summende Hornissennester, und einige Fledermäuse wurden aufgescheucht. Selbst bei offenen Fenstern roch das Haus nach Mäusekötteln und Motten, und der Geruch verstärkte sich durch die Schwüle des Spätsommers nur noch mehr.

Eveline nahm sich die Küche vor und ließ Edgar und Will die Asche aus dem alten Kamin ausfegen. Trotz der Unordnung gefiel ihr der Raum. An der Wand gegenüber vom Steinkamin befanden sich gleich zwei Herde mit Platz für acht Töpfe und Öfen, in denen sie gleichzeitig Brot und Kuchen backen und Fleisch rösten konnte. Der Eisschrank wirkte neu. Und in der Vorratskammer gab es genug Regale und zudem eine Tür, die in einen Keller führte, in dem sie Obst lagern wollte.

Eveline drehte den Hahn über der Spüle auf. Gurgelnd kam das Wasser heraus, und die Kupferrohre klopften so heftig, dass sie eilig den Hahn wieder zudrehte, bevor noch Wasser aus den Rohren trat. Stattdessen schickte sie Will mit einem Eimer zum Brunnen.

Während sie die Regale abschrubbte und dabei mit ihrem dicken Bauch gegen die Arbeitsfläche drückte, wischte sie sich immer wieder die Stirn an der Schulter ab. Seit Tagen fühlte sich ihr Bauch schon hart an, und die Haut spannte. Die Zwillinge waren dagegen ruhiger geworden.

Nicht heute, flehte sie innerlich. Noch nicht.

Oben brachten Wilhelm und Andrew eines der Schlafzimmer auf Vordermann. Wilhelm putzte die breiten Eichendielen und den Kamin, während Andrew mit Feger und Kehrblech den über Jahre angesammelten Staub aus dem Fenster beförderte. Sie kratzten die sich ablösende Tapete und die Klebereste darunter ab.

Als alles fertig war, hielt Wilhelm schwer atmend inne. »Jetzt müssen die Möbel rein«, sagte er und warf Andrew mit gerunzelter Stirn einen Blick zu.

»Dabei kann ich helfen«, antwortete Andrew auf die unausgesprochene Frage seines Onkels.

»Bist du sicher?« Nachdenklich biss Wilhelm sich auf die Unterlippe. »Die sind schwer.«

»Ja, sicher.« Andrew ging in den Flur und trug ein Seitengitter des Messingbetts herein. Wilhelm folgte seinem Beispiel, dann bauten sie das Bett zusammen. Sie schoben die viktorianische Walnusskommode an die saubere Wand. Der Schmerz in Andrews Schulter, während er sich mit aller Macht gegen das schwere Möbelstück stemmte, motivierte ihn nur noch mehr. Er war kein Krüppel, und das würde er beweisen, was es auch kostete!

Auf Wilhelms Gesicht legte sich der Staub, und das Haar klebte ihm an der Stirn. Er wischte sich mit einem Lappen den Nacken trocken. »Ich hol uns was zu trinken.« Erschöpft musterte er seinen Neffen. »Alles klar bei dir?« Sein Blick war jetzt sanfter. Andrew nickte.

»Gut«, sagte Wilhelm und atmete aus. »Mann, ist das heiß!« Mit dem Besen in der einen und dem Kehrblech in der anderen Hand ging er in den Flur. »Die Jungs sollen schon mal im nächsten Zimmer anfangen. Wir machen das hier fertig, dann kann Eveline sich einrichten. Sie ist seit unserer Ankunft ununterbrochen auf den Beinen.«

Als er mit schweren Schritten die schmale Treppe hinunterpolterte, ließ Andrew sich in einer Ecke zu Boden sinken und lehnte müde den Hinterkopf gegen die Wand. Sein rechter Arm pochte, sein Bizeps zuckte. Als er die Hand hob, zitterten seine Finger unkontrollierbar von der Anstrengung. Er schluckte, weil sein Mund so trocken war, dass ihm fast schwindelig wurde. Mit reiner Willenskraft stand er wieder auf und ging ins Nebenzimmer.

An diesem Sommerabend senkte sich die Dunkelheit spät über die stillen Felder und warf Schatten auf das baufällige Farmhaus. Zwar wurde die Luft kaum kühler, aber die Hitze nahm ab.

Die Familie aß draußen und saß dabei in einer Reihe auf dem Boden der Veranda. Schweigend und erschöpft aßen sie ihre Sandwiches. Das Zirpen der Grillen stieg zwischen den bittersüßen Weinreben wie Dunst von der heißen Erde auf. Die Rufe zweier Schleiereulen erklangen und hallten durch die anbrechende Nacht.

Aus dem hohen Gras kam zögerlich eine bunt gescheckte Katze geschlichen. Als Andrew ein Stückchen Wurst in ihre Richtung warf, robbte sie sich dorthin und schnappte es sich. Andrew riss noch ein Stück von seinem Sandwich ab und hielt es ihr hin. Die Katze kam näher.

»Achtung, die beißt dich«, warnte Wilhelm.

Als Andrew die Katze trotzdem fütterte, rieb sie ihren Kopf schnurrend an seinem Bein, und er streichelte sie unter dem Kinn. »Die ist mit Menschen vertraut. Irgendjemand füttert sie bestimmt.«

»Woher weißt du, dass sie ein Mädchen ist?«, fragte Will.

»Bunt gescheckte Katzen sind immer weiblich«, erklärte er. Der kleine Edgar streichelte sie entzückt.

»Sieht so aus, als hättet ihr euer erstes Haustier«, bemerkte Andrew.

Edgar lächelte, und bevor er sich’s versah, sprang die Katze auf seinen Schoß und wollte über sein Gesicht lecken. Der kleine Junge kicherte wild los, doch seine schwachen Versuche, sie wegzuschieben, spornten sie nur noch mehr an.

»Na großartig«, tadelte Wilhelm, musste aber grinsen. »Am Ende kriegst du noch Würmer von der Katze.«

»Dann nenne ich sie Wormy«, erklärte Edgar und schlang seine pummligen Arme um das Tier. »Komm her, kleine Wormy.«

Eveline hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr Lachen zu unterdrücken. Andrew lächelte und sah seine Tante an. Sie erwiderte seinen Blick, streckte die Hand aus und drückte sein Knie.

»Schön, dich lächeln zu sehen«, flüsterte sie.

Nach dem Essen gingen Eveline und Wilhelm nach oben, und Andrew und die Jungen zogen mit Kissen und Decken zum Heuboden der Scheune, weil nur eines der Zimmer schon bewohnbar war. Da Will und Edgar niemals außerhalb ihres gepflegten Hauses in Pittsburgh geschlafen hatten, musterten sie mit großen Augen die riesige Scheune und ihr Lager in luftiger Höhe.

Oben auf dem Heuboden breitete Andrew die Decken aus und polsterte sie mit altem Heu. Will rümpfte die Nase.

»Wir werden stinken wie Kühe.«

»Ich mag das«, sagte Edgar und rollte sich neben Andrew zusammen. »Ich will nie wieder nach Hause zurück.«

»Wir sind doch zu Hause, du Knallkopf.« Will legte sich auf Andrews andere Seite und starrte hinauf zu den Dachsparren. »Aber ich mag es hier auch.«

Andrew grinste im dämmrigen Licht. »Und warum?«

»Weiß ich nicht.« Als Will darüber nachdachte, wurden seine weichen, kindlichen Züge ungewöhnlich ernst. »Schwer zu sagen. Irgendwie fühle ich mich wie ein Eichhörnchen, das man aus einer Schuhschachtel befreit.«

»Genau«, murmelte Edgar schläfrig. »Ich auch.«

Schon kurz darauf schliefen die beiden Jungen tief und fest, und zum Geräusch ihres sanften Atems gesellte sich das Zirpen der Grillen.

Andrews Körper sank tief in die raue Decke. Er sehnte sich nach Schlaf, aber die Gedanken kreisten in seinem Kopf. Er lag auf dem Rücken, den Kopf auf seine Hand gebettet. Im Zwielicht starrte er hinauf zu den Dachbalken. Durch ein paar Löcher in den Schindeln konnte er die Sterne sehen. Ein Loch war groß genug, um dadurch einen Teil des Mondes zu erkennen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals einen so klaren Himmel gesehen zu haben.

Auf dem Heuboden war es angenehm, viel kühler als im Haus. Will schmiegte sich immer dichter an ihn und zuckte mit den Augenbrauen, offenbar träumte er. Unten huschte ein Tier über den Boden, kratzte mit den Krallen über das Holz. Fledermäuse zogen Schatten über das Dach und hinterließen einen kurzen Luftzug auf der Haut.

Andrew versuchte zu schlafen, doch vergeblich. Sanft schob er Will ein Stück von sich weg. Gebückt bewegte er sich unter den niedrigen Balken leise über den Heuboden, stieg die Leiter hinunter und ging ins Freie. Der Himmel war unendlich weit, und die Sterne erstrahlten in Formationen, von denen Andrew einige benennen konnte. Glühwürmchen tanzten zwischen den Bäumen und Büschen und blitzten in Dunkelheit auf.

Andrew ließ sich unter dem riesigen alten Apfelbaum nieder, der den Garten dominierte. Vom Gewicht der Äpfel hingen seine Äste tief. Da spürte er, wie sich etwas an seinem Bein rieb und miaute.

»Hallo Wormy.« Er streichelte das warme Fell der Katze und lächelte. »Tut mir leid mit dem Namen. War nicht meine Schuld.« Die Katze sprang ihm auf den Schoß und drückte ihm eine Pfote gegen die Brust. Als er sie in seine Armbeuge bettete, vibrierte ihr Schnurren an seiner Brust.

Fünf Monate waren seit seinem Unfall vergangen. Innerhalb eines Jahres hatte er seinen Vater und seine Mutter verloren, sein Zuhause, seine Freunde, seinen Arm und seine Zukunft. Dieses neue Leben war ihm fremd, er fand einfach nicht seinen Platz darin, und ihm war, als würde er orientierungslos durch ein nebliges Labyrinth irren.

Die Katze rieb ihren Kopf an seiner Schulter. Im Laufe der Monate war das Brennen schwächer geworden und mittlerweile kaum noch zu spüren. Der Schmerz war einer Taubheit gewichen, die ihm das Gefühl gab, innerlich tot zu sein.

Er erinnerte sich an ein dickes Buch, das Miss Kenyon ihm einmal gegeben hatte: Die göttliche Komödie von Dante, eine Geschichte von einer Reise durch die Hölle, das Fegefeuer und das Paradies. Die Hölle kannte Andrew bereits: Feuer in allen Formen. Er spähte hinüber zu dem alten Farmhaus und lauschte auf das leise Schnurren der Katze und das Summen über dem Land. Er hob den Blick zum Himmel über dem Blätterdach und staunte erneut über die Sterne, die wie Diamanten funkelten. Und er fragte sich: Muss alles zerfallen, damit die Sterne so scheinen können?

Er hatte es satt, sich selbst zu bemitleiden. Er hatte nur einen Arm, er hasste es, aber er musste sich auf das konzentrieren, was ihm geblieben war, und versuchen, wieder seinen Weg zu finden. Er streichelte die Katze, die daraufhin auf seine Schulter kletterte und auf einen Ast hinter ihm sprang. Als er sich umdrehte, entdeckte er am Stamm eine Stelle, wo die Rinde kreisförmig entfernt worden war. Er kniff leicht die Augen zusammen, um das Wort zu entziffern, das in das glatte, helle Holz darunter geschnitzt worden war: Lily.