Als Familie Kiser bei den Muellers ankam, empfand sie einen Anflug von Neid beim Anblick des frisch gestrichenen Hauses mit der breiten Veranda und dem makellosen Zaun. Edgar hüpfte von der Straße auf die große Rasenfläche vor dem Haus. »Sie haben Gras!« Damit fasste der Junge zusammen, woran es ihnen selbst noch alles fehlte.
Als sie den ebenen Weg zum Haus entlanggingen, tauchten zwei Männer aus der hohen, roten Scheune auf. Sie ähnelten einander so sehr, dass der eine wie das gealterte Spiegelbild des anderen wirkte. Kaum waren sie bei ihnen angekommen, streckte Wilhelm die Hand aus: »Peter und Heinrich Mueller, nehme ich an.«
Der ältere schüttelte allen herzlich die Hand. »Schön, Sie kennenzulernen. Willkommen.«
Andrew und Peter nickten einander zu.
»Kommen Sie, kommen Sie!« Heinrich eilte voraus und winkte sie eifrig zum Haus, wo sie von der korpulenten Gerda Mueller empfangen wurden, die sie mit kräftigen Armen an sich drückte. Sie hatte gelblich-blondes Haar mit weißen Strähnen, das sie zu einem Dutt am Hinterkopf aufgesteckt hatte, und ihre Stimme und Persönlichkeit waren genauso kräftig wie ihr Körper. Der Kontrast zwischen den beiden Ehepaaren hätte nicht größer sein können.
Gerda nahm Eveline einen der Zwillinge ab, wiegte ihn sanft in ihren Armen und flüsterte ihm deutsche Koseworte ins Ohr. Dann polterte Fritz die Treppe herunter, und hinter ihm folgte ein kleines Mädchen. Gerda stellte das Mädchen als die achtjährige Anna vor.
Die jüngeren Kinder und Fritz stürmten lachend in der Hoffnung auf ein Abenteuer nach draußen, während Peter mit Andrew zum Stall ging, um ihm die Ferkel und anderen Tiere zu zeigen. Eveline folgte Gerda in die Küche, die nach frisch gebackenem Brot, Kartoffeln und Pfefferkörnern roch.
Gerda deckte den Tisch mit einer Auswahl an Käsesorten und Hartwürsten, eingelegten Gurken und Zwiebeln. Dann stellte sie dunkles Brot und Butter dazu. Sie brachte Bierkrüge und stellte sie neben ein Fass auf einem Beistelltisch. Heinrich schenkte das Bier, das fast so dunkel war wie Melasse, in zwei Krüge und reichte einen davon Wilhelm. »Selbst gebraut«, erklärte er stolz. »Hopfen und Malz sind auch von hier. Alles von eigener Hand.«
Das Bier war stark und kalt. Kaum hatte Wilhelm den ersten Schluck gekostet, entspannte er sich. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal etwas so Gutes zu trinken gehabt hatte, und merkte erst jetzt, wie erstarrt er gewesen war.
Mr. Mueller sah ihn erwartungsvoll an. »Gut?«
Wilhelm lächelte und wischte sich den Schaum von der Oberlippe. »Sehr gut.«
Heinrich Mueller breitete die Arme aus und klopfte sich gegen die Brust. »Alles was wir für das Bier und die Wurst brauchen, haben wir hier auf der Farm.« Als er den Stolz des Mannes hörte, musste Wilhelm lachen, und es fühlte sich gut an. Er trank noch einen großen Schluck. Es tat ihm gut, sich zumindest für kurze Zeit wieder unbeschwert zu fühlen.
Heinrich sah Wilhelm forschend an. »Warum kommen Sie ausgerechnet jetzt hierher, Wilhelm? Im Frühling wäre das doch viel besser gewesen, oder?«
Wilhelm ließ sich mit der Antwort Zeit.
»Ärger in Pittsburgh?«, hakte Heinrich nach. »Wegen des Krieges?«
»Nein, es hatte nichts mit dem Krieg zu tun.« Er wollte nicht ins Detail gehen und sah sich in der Küche um. »Meine Frau – seit wir verheiratet sind, wollte sie weg aus der Stadt. Aber mit dem schlechten Zeitpunkt haben Sie recht. Musste für die Vorräte ein kleines Vermögen ausgeben.«
»Ja, ja«, brummte Heinrich. »Außerdem ist der Boden zu karg. Aber gib ein paar Jahre lang viel Dung auf die Felder, dann wird er wieder gut. Auf die oberen Äcker muss Mais. Und Heu wird alles mit der Zeit auflockern. Außerdem kann man Heu gut verkaufen.« Er nickte wissend. »Süßkartoffeln auch.«
Wilhelm wollte nicht über das Land reden, das ihn zu verspotten und ihm zu sagen schien, dass er ein Dummkopf war. Er wollte Bier trinken und geräucherte Wurst essen. Er wollte nicht über die Ausgaben reden, die selbst seine schlimmsten Befürchtungen übertroffen hatten. Er wollte nicht an die Tiere und Menschen denken, für die er sorgen musste, oder an das Haus, das er vor dem Kauf hätte begutachten müssen – wozu er aber nicht in Stimmung gewesen war.
Heinrich beobachtete ihn und schien seine Gedanken zu lesen. »Schwere Zeiten, was?« Er versetzte ihm einen leichten Schlag aufs Bein.
Wilhelm starrte ins dunkle Bier und nickte.
»Ich weiß, mein Freund.« Er blinzelte nachdenklich. »Als Gerda und ich hierherkamen, hatten wir nichts. Weniger als nichts.« Er breitete die Arme aus und zeigte seine leeren Handflächen. »Dann kamen die Babys. Ich war verloren. Nahm jeden Job an, nur um Arbeit zu haben. Pflügen, Säen, Dreschen, Melken. War eine sehr schwere Zeit für mich. Für uns alle. Aber wir haben hart gearbeitet. Sehr, sehr hart.« Er streckte die Hand aus und wies stolz auf das behagliche Wohnzimmer. »Und wir haben es geschafft.« Er nahm einen großen Schluck von seinem Bier. »Das schaffen Sie auch. Solange Sie arbeiten können, schaffen Sie alles.«
Vom Bier und der Herzlichkeit wurde Wilhelm warm; er fühlte sich kräftiger, spürte, wie seine trübe Stimmung verschwand. Die Farm wäre morgen auch noch da. Aber heute würde er trinken und sich die Geschichten eines anderen Deutschen anhören, mit ihm über den Stand der Dinge im Krieg debattieren und dem Johlen und Kreischen der draußen spielenden Kinder lauschen. Er würde nicht an den drohenden Winter denken. Als er den Bierkrug geleert hatte, streckte er ihn Heinrich entgegen. »Kann ich noch eins haben?«
Heinrich lachte herzlich und füllte beide Krüge wieder auf.
Gerda prüfte im Ofen den Zustand des Bratens und schöpfte Saft über das riesige Fleischstück. Allein vom Geruch lief Eveline das Wasser im Mund zusammen. Gerda warf einen Blick ins Wohnzimmer und schnalzte leise mit der Zunge. »Ist Ihr Mann ein Trinker?«
Die Frage überraschte sie. »Nein. Keinesfalls.«
Da lachte Gerda leise und hob die Augenbrauen. »Tja, dann schläft er morgen vielleicht länger. Heinrichs Bier ist stärker, als es aussieht.« Plötzlich wurde sie geschäftig, eilte zum Schrank und holte eine große Flasche ohne Etikett heraus, die eine sirupartige, leicht gelbliche Flüssigkeit enthielt. Sie schenkte zwei kleine Gläser ein und reichte eines davon Eveline.
»Oh nein, ich trinke nicht«, sagte sie und machte eine abwehrende Geste.
»Nun, das hier werden Sie mögen«, drängte Gerda und schob das Glas näher zu ihr. »Birnenschnaps. Schon mal gekostet?«
»Nein.«
Gerda beobachtete, wie Eveline die Augen aufriss, als sie ein winziges Schlückchen von der Flüssigkeit probierte. Der Schnaps roch traumhaft und schmeckte wie süßes Zuckerfeuer. Kichernd leckte sie sich über die Lippen. »Ziemlich gut.«
»Ja, ja.« Gerda setzte das Glas an die Lippen, leerte es und füllte es sofort nach. »Es kann ja nicht sein, dass nur die Männer ihren Spaß haben, oder?« Als sie verschmitzt lächelte, bemerkte Eveline die Schönheit der Frau unter ihren groben Zügen. Sie strahlte Stärke und Zuversicht aus. Eveline spürte einen Anflug von Neid.
Am zweiten Glas nippte Gerda langsamer und wies erneut mit dem Kopf zum Wohnzimmer. »Männer. Reden nur über Krieg und Arbeit. Glauben immer, die Welt ruht auf ihren Schultern, und sie würden alles bestimmen. Aber wir Frauen wissen es besser, oder? Wir wissen, dass es ohne uns Frauen gar keine Männer gäbe.«
Ein Lachen entfuhr Eveline so unerwartet, dass sie sich die Hand vor den Mund schlug.
»Was kichert ihr denn da?«, rief Heinrich belustigt aus dem Nebenraum.
Verschwörerisch legte Gerda den Zeigefinger an die Lippen. »Über Frauensachen. Babys und Haarnadeln, mein Schatz.«
Als darauf von beiden Männern nur ein Grunzen ertönte, mussten sich die Frauen wieder den Mund zuhalten.
»Wo wir schon davon sprechen. Lassen Sie mich mal die Zwillinge genauer anschauen.« Gerda griff in den Korb auf dem Boden, hob geschickt die Babys auf ihren Schoß und legte sich ihre Köpfchen in die Armbeugen.
Eveline wandte sich ab und trank ihren Schnaps. Sie konnte sich kaum an den kleinen Gesichtern der Babys erfreuen vor lauter Angst, sie würden gleich wieder den Mund aufreißen und anfangen zu schreien.
Als Gerda sich wieder Eveline zuwandte, wirkte sie besorgt. »Die zwei sind viel zu leicht.« Ernst schüttelte sie den Kopf. »Sie wiegen ja gar nichts.«
Eveline umklammerte das leere Glas mit ihren Händen und spürte heiß ihre Scham darüber, ihre Kinder nicht stillen zu können. »Sie sind eben sehr klein.« Etwas Besseres fiel ihr nicht ein.
»Das ist es nicht«, erwiderte Gerda grimmig. »Sie haben Hunger.« Sie versuchte, Eveline dazu zu bringen, sie anzusehen. »Ist die Milch versiegt?«
»Ja.« Eveline presste die Finger gegen das Glas, obwohl sie Angst hatte, es zu zerbrechen. »Zuerst hatte ich mehr Milch, als ich brauchte. Aber sie wollten nicht trinken, und wenn sie es taten, spuckten sie alles wieder aus. Da wurde ich nervös. Ich wusste nicht weiter.«
Gerdas Augen füllten sich mit Sorge, als sie erst das eine und dann das andere Baby anhob.
»Der Arzt kam. Er …«
»Dr. Neeb?«, unterbrach sie Gerda.
»Ja.«
»Ach.« Sie verdrehte die Augen. »Der Mann sollte kein Baby berühren. Er arbeitet mehr mit Toten als mit Lebenden.« Vielsagend zog sie die Augenbrauen in die Höhe. »Glauben Sie mir. Er gräbt Leichen aus und untersucht sie. In seinem Keller. Fängt Frösche aus den Bächen, schneidet sie auf und bewahrt die Eingeweide in Gläsern auf.« Sie erschauerte.
Eveline krümmte sich innerlich, weil ihr der Geruch nach Formaldehyd wieder einfiel, den der untersetzte Mann verströmt hatte. »Er sagte, ich solle nicht mehr stillen, sondern mit Kuhmilch zufüttern. Wir geben ihnen nur die Milch unserer besten Kuh, aber sie spucken alles wieder aus.« Sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund und griff erneut nach dem Schnaps.
»Ihre Babys sind schwach, Eveline«, sagte die Frau sanft, aber entschieden. »Irgendwas in der Milch ist nicht gut für sie.«
»Was soll ich denn machen? Ihnen keine Milch mehr geben?« Sie stieß die Worte hervor, als wäre die Vorstellung Irrsinn.
»Genau das will ich damit sagen. Versuchen Sie es mit Ziegenmilch. Wenn sie die auch ausspucken, zermatschen Sie Haferflocken oder Reis mit Wasser.«
»Das habe ich auch schon versucht, aber sie verschlucken sich daran.« Unwillkürlich fasste sie sich mit der Hand an die Kehle.
Gerda sah sie eindringlich an. »Es ist nicht Ihre Schuld. Sie müssen sich nicht schämen.«
Evelines Lippen begannen zu zittern. Doch, sie schämte sich. »Ich kann meine eigenen Kinder nicht ernähren«, flüsterte sie verzweifelt.
»Gott hat den Frauen das größte Geschenk gemacht: neues Leben zu empfangen und zur Welt zu bringen.« Gerda ließ nicht zu, dass Eveline ihrem Blick auswich. »Wir lieben diese kleinen Wesen, die in uns heranwachsen, so sehr, dass wir vergessen, dass wir nur Menschen sind und unsere Körper Grenzen haben.«
Gerda lehnte sich zurück und lächelte die schläfrigen Babys an. »Ich habe zwölf Kinder bekommen, aber es gab auch Leid. Und ich habe mich genauso geschämt wie Sie, liebe Eveline. Weil ich dachte, ich hätte etwas falsch gemacht.«
Ihr Blick wanderte zum Fenster. »Sie haben meinen Fritz ja gesehen, und dass er langsam im Kopf ist, nicht richtig denken kann.« Ihr trauriger Blick ließ sie viel älter wirken. »Mein Fritz ist ein guter Junge. Einen besseren könnte man gar nicht haben. Er ist schon fast ein Mann, aber mit dem Geist eines kleinen Jungen. Seine Geburt war schwer.« Die Erinnerung daran ließ sie erschauern. »Er kam mit den Füßen zuerst und hatte die Nabelschnur um den Hals gewickelt. War ganz blau, wie der Himmel kurz vor einem Sturm. Er überlebte, doch sein Kopf erholte sich nie davon. Aber er ist ein guter Junge und arbeitet hart.« Sie lächelte Eveline zu. »Wenn Sie einen starken Rücken brauchen, rufen Sie Fritz. Und dann ist da noch meine Jüngste, meine süße Anna.« Sie bemerkte Evelines überraschten Blick und fuhr fort: »Sie trägt eine Perücke. Meine Anna hat nicht ein einziges Haar auf ihrem Kopf. Mit vier bekam sie Scharlach. Wir hätten sie fast verloren, aber durch ein Wunder überlebte sie. Nur wird sie ihr ganzes Leben lang kahl bleiben.«
Eveline spürte ein hohles Gefühl in ihrer Brust. »Das tut mir sehr leid, Gerda.«
Doch die Augen der Frau blitzten auf. »Sind doch nur Haare. Was zählt, ist, dass sie noch alle bei mir sind.«
Als sie sich erneut den Babys zuwandte, erkannte Eveline darin wieder tiefe Sorge.
Andrew und Peter gingen durch einen der Schweineställe. Da es in diesem August kaum geregnet hatte, war der Boden hart und staubig. Nur die Bereiche an den Trögen waren feucht und glitschig, eine Mischung aus Schlamm, verrottenden Salatblättern und Möhren. Peter führte ihn zu einem niedrigen, mit Holz abgedeckten Pferch und spähte durch die Tür.
»Die Ferkel sind hier drin. Heute Nacht haben wir schon wieder eins verloren, daher werden die anderen wohl die Woche nicht überstehen. Aber versuchen kann man es ja mal. Ich gebe sie euch später mit.«
Die jungen Männer traten durch das breite Tor in die dreistöckige, an einer Schräge gebaute Scheune. Dort war es warm und staubig und roch süß nach frischem Heu und den Ausdünstungen der Tiere. Peter betrachtete die riesige Scheune, die Hände in die Hüften gestützt, so stolz, als hätte er sie selbst gebaut. »Einige dieser Balken sind über dreißig Zentimeter dick.« Er ging zu den Kuhställen auf der rechten Seite. »Das sind unsere neuen Kühe. Holsteiner. Die geben die beste Milch. Das wissen sogar die Farmer, die Deutsche hassen.« Er nickte stolz. »Die hier sind erst ein paar Wochen bei uns, geben aber genauso viel Milch wie unsere anderen.«
Peter tätschelte einer großen schwar-zweiß gescheckten Kuh die breite, feuchte Nase. »Sie ist unsere Leitkuh. Achtet darauf, auch eine zu haben. Wenn ihr sie rausholt, nimm die Leitkuh als Erste, dann werden die anderen folgen.«
Andrew bemerkte die unzähligen frischen Heuballen in den Ecken. »Das ist aber eine Menge Heu.«
»Ja, aber ihr werdet noch viel mehr brauchen, mein Freund. Ihr habt ja kein Gras, schon vergessen?«
»Wie könnte ich das vergessen? Wir lassen die Kühe im Wald weiden, bis es zu kalt wird, und versuchen so, Heu zu sparen.«
Peter machte eine bedenkliche Miene. »Da solltet ihr aufpassen. Die Milch schmeckt dann nach Tannennadeln. Und wenn ihr eine trächtige Kuh habt, verliert die das Kalb. Das ist uns ein paarmal passiert, bis wir einen Zaun vor dem Wald errichtet haben.«
Der junge Mann gab der Kuh einen Klaps aufs Hinterteil und ging dann durch die Scheune, um nach den Ziegen zu sehen. In einer dunklen Ecke säugte eine Katze ihre Jungen und ließ die beiden Männer nicht aus den Augen. Andrew begutachtete die anderen Tiere, die alle kräftig und gesund wirkten. Peter sah ihm dabei zu. »Nimm’s mir nicht übel, aber du siehst gar nicht wie ein Farmer aus.«
Andrew musste leise lachen. »Du bist schon der zweite, der das sagt. Wie kommst du denn darauf ?«
»Farmer sind irgendwie alle vom selben Schlag. Du siehst aus, als würdest du dir über alles viele Gedanken machen.«
»Tja, von Farmen habe ich wirklich keine Ahnung, wohl aber von Tieren.« Er streichelte das gefleckte Pferd, das zum Zaun gekommen war. »Und ich weiß, wie man einen Gemüsegarten anlegt. Aber mit Ackerbau kenne ich mich nicht aus.«
Peter spitzte die Lippen, als wollte er pfeifen. »Na, dann hast du wirklich großartige Voraussetzungen, mein Freund. Hundert Hektar ohne einen Grashalm oder ein Huhn zum Suppemachen.« Andrew nickte. »Wenigstens haben wir Äpfel. Das ist mir als Erstes aufgefallen«, sagte er leichthin. »Und die Hühner sind unterwegs.«
Peter schlug ihm auf den Rücken. »Ja, Äpfel habt ihr, aber das ist auch das Einzige. Aber keine Sorge. Wir Muellers wissen zwar nicht viel, sind aber mit Leib und Seele Farmer. Also helfen wir euch, wenn nötig.«
Die jungen Männer verließen die Scheune. Fritz kam an ihnen vorbei und trug auf seinen Schultern abwechselnd Will und Edgar, die Ritter auf einem Pferd spielten. Die beiden hatten Schluckauf vor Lachen.
Peter und Andrew gingen auf einem zugewachsenen Pfad in den Wald aus Tannen, Eichen, Ahorn- und Tulpenbäumen und stiefelten durch die Tannennadeln. Sie kickten einen Tannenzapfen über abgefallene Zweige und dicke Wurzeln hin und her. Im Wald war die Luft kühler und angenehmer, und ab und an geriet ihnen ein am Baum hängendes Spinnennetz ins Gesicht.
Andrew kickte den Zapfen vor Peters Schienbein. »Wir haben schon die Mortons kennengelernt. Lily hat im Haus mitgearbeitet und meiner Tante bei der Geburt geholfen«, erzählte er.
Peter nickte nur, sagte aber nichts, sondern lächelte nur belustigt. Dann kickte er den Tannenzapfen zurück.
Andrew fügte hinzu: »Sie scheinen nett zu sein.«
Jetzt grinste Peter breit und katapultierte den Zapfen tief in den Wald. »Sie ist hübsch, nicht wahr? Lily, meine ich.«
»Allerdings«, antwortete Andrew, und ihm fiel plötzlich ein, dass Lily und Peter vielleicht mehr als nur Nachbarn waren.
»Hübsch wie eine Giftpflanze.«
Andrew blieb stehen. »Was soll das heißen?«
Peter lächelte zwar, doch seine Stimme hatte einen warnenden Unterton. »Wenn du schlau bist, hältst du dich von ihr fern.«
»Sag’s doch einfach, wenn sie deine Freundin ist.«
»Ha!« Peter schlug nach einer Fliege, die seine Nase umschwirrte. »Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Wie ich schon sagte: Giftpflanze.« Finster rieb er sich über den Ellbogen. »Halt besser Abstand. Mehr will ich nicht sagen. Im Keller der Mortons liegen mehr Leichen als auf dem Friedhof.«
Als sie sich wieder in Bewegung setzten, schlurfte Andrew nur noch lustlos hinter Peter her. Er kickte kleine Steine vor sich her.
Peter sprang hoch, um an ein altes Vogelnest zu kommen, verfehlte es aber um wenige Zentimeter. »Früher gehörte das Haus der Mortons Claires und Lilys Vater, Mr. Hanson.« Er wies den Pfad entlang zu einer unsichtbaren Stelle weiter die Straße hinauf.
»Es heißt, bevor Mr. Hanson hierherzog, sei er ständig unterwegs gewesen, immer auf der Suche nach Einwanderern, die er betrügen konnte. Er war ein Gauner. Ich schätze, irgendwann wurde das bekannt, also verließ er die Stadt und zog in das Haus, in dem die Mortons jetzt wohnen. Aber das Land hat er nie bestellt. Zwar hatte er ein paar Kühe und Hühner, doch soweit ich mich erinnern kann nicht mal einen Gemüsegarten. Jedenfalls geht das Gerücht, dass er das Geld aus seinen Betrügereien an Einwanderer auf dem Land verlieh. Bevor man sich’s versah, hatte die Hälfte der Farmer in der Gegend Schulden bei ihm. Aber nicht mein Pa. Pa meinte, lieber würde er uns Heu und Kleie zu essen geben, als auch nur einen Cent von diesem Dreckskerl anzunehmen – diesem Hurensohn, schrie er immer.« Peter lachte, als er seinen Vater nachmachte.
Dann rieb er sich den Nacken und wirkte wie ein Mann mit einer schweren Last auf den Schultern. »Wir haben echt harte Zeiten erlebt. Jahre voller Entbehrungen. Pa hätte öfter zu Hanson rennen können, als ich zählen kann. Aber er sagte immer, dass ein Mann, der von Menschen in Not zehrt, nicht besser ist als eine Kakerlake. Nach dem Tod seiner Frau wurde Hanson ein anderer Mensch. Als käme alles Schlimme, was er anderen angetan hat, aus ihm heraus, als wäre er verrückt vor Wut. Damals war ich noch jung, aber meine Schwestern haben erzählt, dass Claire fast jeden Tag mit blauen Flecken und Schrammen zur Schule kam. Dann kam sie irgendwann gar nicht mehr. Ma ging ein paarmal zum Haus, aber niemand machte ihr auf. Sonntags hinterließ sie etwas zu essen auf der Vordertreppe, wusste aber nie, ob oder von wem das gegessen wurde.«
Peter spuckte auf den Boden. »Vor etwa zehn Jahren dann fand man Hanson tot in einer Lache bei seinem Haus. Ein Schuss in den Rücken. Man fand nie heraus, wer das getan hat. Der Mann hatte sich so viele Feinde gemacht, dass es jeder hätte gewesen sein können.«
Wieder verzog sich Peters Miene, diesmal vor Zorn. »Sofort danach tauchte Frank Morton auf und heiratete Claire vom Fleck weg. Er übernahm Hansons Kredite und Besitz, noch bevor sich der Staub auf dessen Grab gelegt hatte. Und es stellte sich heraus, dass er genauso skrupellos war wie er.«
Andrew war überrascht von Peters plötzlicher Heftigkeit. Etwas Heißes schoss in ihm hoch, und er hielt Peter am Arm fest. »Schlägt er die Frauen?«
»Nein, das nicht«, räumte Peter spöttisch ein. »Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Lily würde auch sicher nicht zulassen, dass jemand die Hand gegen sie oder ihre Schwester erhebt.« Er zwinkerte. »Ich hab mal gesehen, wie ein paar Jungs eine Katze in die Ecke trieben und mit Steinen bewarfen, und da ging sie mit einem Stock auf sie los, der halb so groß war wie sie. Sie kreischte wie eine Verrückte und vermöbelte sie mit dem Stock, bis die Jungs heulend wegrannten.«
Peter lachte, wurde dann aber wieder ernst. »Es gab mal eine Farm, etwa zehn Meilen nördlich von hier. Sie gehörte einer norwegischen Familie namens Paulsen. Nette Leute. Sie hatten ein Mädchen, Mary.« Er verstummte einen Augenblick und wirkte bedrückt. »Sie und Lily waren befreundet, obwohl Lily normalerweise immer für sich blieb. Aber mit Mary verstand sie sich. Wir waren alle miteinander befreundet und spielten in den Wäldern, wie Kinder das eben so machen. Aber Mary war mein Mädchen. Zwar machte Pa ständig Theater, weil sie keine Deutsche war, aber insgeheim mochte er sie genauso wie alle hier.« Seine Stimme wurde leiser. »Die Paulsens liehen sich Geld von Frank und verloren die Farm. Sie verloren alles und mussten zurück nach Minnesota ziehen. Ich erinnere mich immer noch, dass Mary mir nicht mal in die Augen blicken konnte, als sie mit einem Wagen wegfuhren, in den die ganze Familie und ihre Habe gezwängt war. Aber bei der Auktion, bei der das ganze restliche Zeug der Farm versteigert wurde – was glaubst du, wer bei der Fledderei ganz vorne mit dabei war?«
»Frank?«
»Nein.« Peter trat einen Schritt vor und sah ihn finster an. »Lily. Sie hob ihre Nummer bei allem, was früher Mary gehörte. Kleider. Schmuck. Selbst beim Teeservice, mit dem sie als kleines Mädchen gespielt hatte. Hör mal, ich will dir nicht vorschreiben, was du tun oder wen du mögen sollst.« Er zeigte den Pfad hinauf. »Aber da drüben gibt es jede Menge Dämonen. Von denen hält man sich besser fern.« Er verzog den Mund. »Du hast gesagt, ihr hättet Äpfel auf eurer Farm und viel mehr eigentlich nicht, oder? Tja, du weißt ja, was man von Äpfeln sagt … sie fallen nicht weit vom Stamm.«
Die beiden Männer kletterten vorsichtig einen steilen Hang hinunter und rutschten mit den Stiefeln über das Unterholz. »Spielst du Baseball?«, fragte Peter unvermittelt.
»Hab ich früher.«
»Welche Position?«
»Werfer.«
»Ach echt? Wir haben demnächst ein Spiel gegen die Hornets, ein Team vom anderen Ende des Ortes. Wir spielen jede Woche. Bist du dabei?«
Seit dem Unfall hatte Andrew keinen Baseball mehr angerührt. Wahrscheinlich konnte er gar nicht mehr werfen, selbst wenn er gewollt hätte. »Nein, eher nicht. Ich hab zu viel zu tun.«
Peter betrachtete ihn. »Na gut. Denk drüber nach. In unserem Team sind nur Deutsche, und die anderen benehmen sich, als würden sie bei jedem Schlag Krieg gegen uns führen. Fühlt sich ganz gut an, ihnen hin und wieder eine Lektion zu erteilen.«
»Vielleicht komme ich mal zuschauen.« Andrew grinste und sagte provozierend: »Vielleicht bringe ich Lily mit.«
Peter wurde ernst. »Du wirst feststellen, dass Lily vielerorts nicht willkommen ist, Andrew.« Fast mitfühlend fügte er hinzu: »Vielleicht tust du dich besser mit einem anderen Mädchen zusammen.«
»Die Leichen im Keller sind mir egal«, entgegnete Andrew. »Ich finde Lily nett.«
»Du hast es immer noch nicht kapiert, oder?« Das war keine Frage, sondern eher ein Vorwurf. »Die Wahrheit über Claire? Wer sie wirklich ist?«
»Sie ist Lilys Schwester.« Andrew hatte die Andeutungen langsam satt und stemmte die Hand in die Hüfte. »Und sie ist auch sehr nett.«
»Ja, sie ist Lilys Schwester«, bestätigte Peter und senkte dann die Stimme. »Aber sie ist auch Lilys Mutter.«
Das Essen bei den Muellers dauerte bis spät in die Nacht und sorgte für viel Gelächter und bis zum Platzen gefüllte Bäuche. Ununterbrochen wurde gegessen, Bier getrunken und erzählt, so dass die Kisers nicht die geringste Lust verspürten aufzubrechen. Schließlich machten sie sich doch auf den meilenweiten Rückweg. Peter hatte Spielzeuglokomotiven für Edgar und Will geschnitzt, die sogar einen Pfiff von sich gaben, wenn man durch ein Loch blies.
Als sie bei ihrer Farm ankamen, trug Eveline die Zwillinge, und Wilhelm hatte den schlafenden Will auf dem Arm, während Andrew den kleinen Edgar trug, dem die Augen immer wieder zufielen, der aber die Spielzeuglok in seiner winzigen Faust nicht loslassen wollte. Die Ferkel würde Andrew am nächsten Tag abholen.
Die Nachtluft war angenehm frisch, und auch im Haus war es kühl, so dass sie sich fest in ihre dünnen Decken wickelten.
Wilhelm, betrunken vom Bier, und Eveline, berauscht vom Schnaps, berührten einander unter den Laken, und zum leisen Quietschen der Sprungfedern liebten sie sich wie einst, als sie noch jung waren.