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26. Kapitel

Otto starb als Erster, in Evelines Armen. Immer leiser wimmerte er, bis er einschlief und schließlich aufhörte zu atmen. Eveline hielt das tote Kind, als würde es sich nur ausruhen, als würde die reglose Brust nur kurz in der Bewegung innehalten und sich bald wieder heben. So saß sie die ganze Nacht, wiegte das tote Baby in dem einen Arm und das lebende im anderen. Sie betrachtete ihre Söhne im Dunkeln, zu müde zum Schlafen, zu benommen, um sich zu bewegen. Wilhelm war erschöpft neben ihr eingeschlafen, hatte sich um ein Kissen gekrümmt, das er sich an den Bauch statt unter den Kopf geschoben hatte.

Schließlich hörte auch Harold auf zu atmen, doch Eveline blieb einfach sitzen. Die Stille dröhnte ihr in den Ohren. Es war die lauteste Stille, die sie je gehört hatte, so laut, dass sie das eigene Blut in den Ohren pochen hörte.

Als Eveline die Augen schloss, quoll eine Träne daraus hervor und rann ihr über die Wange. Nicht aus Traurigkeit, sondern aus Entsetzen darüber, dass sie nichts fühlte. Erschüttert von ihrer eigenen Gefühllosigkeit, blickte sie auf die Babys. Ich fühle nichts. Aus Scham liefen ihr Tränen über das Gesicht. Ich halte meine toten Kinder im Arm und fühle gar nichts. Mein Gott!

Dr. Neeb hatte sich am Kopf gekratzt und gemeint, alles läge in Gottes Händen. Derselbe Arzt, der ihr geraten hatte, den Zwillingen Kuhmilch zu geben; derselbe Arzt, dem plötzlich wieder eingefallen war, dass der frühere Besitzer ihrer Farm einen Teil seiner Schafe genau wegen dieser Giftpflanze verloren hatte. Nun liegt alles in Gottes Händen, hatte dieser Arzt gesagt. Und so war es.

Schwermütig krähte der Hahn, bevor das Licht des Morgens den schwarzen Himmel schiefergrau färbte. Wilhelm drehte sich schwerfällig auf den Rücken, nahm das Kissen und schob es sich unter den Kopf.

»Sie sind tot, Wilhelm«, sagte Eveline leise.

Ihr Mann stützte sich auf einen Ellbogen. Verschlafen und zerzaust sah er erst das eine und dann das andere Baby an. Ein Laut, den Eveline noch nie gehört hatte, entfuhr ihm, als er ihr seine Söhne aus den steifen Armen nahm und verzweifelt an seine Brust drückte. Sie hatte ihn noch nie weinen sehen, nicht ein einziges Mal. Bei diesem Anblick überkam sie Zorn.

»Hör auf«, zischte sie. Der Gegensatz zwischen seiner Verzweiflung und ihrer eigenen Gefühllosigkeit machte ihr Angst. Sie kam sich unmenschlich vor. Am liebsten hätte sie ihn geschlagen, weil er so empfindsam war und sie nicht.

»Sie waren von Anfang an krank«, sagte sie. »Da ist es besser so, anstatt sie ewig weiter leiden zu sehen.« Sie bemühte sich, ruhig zu sprechen. »Gott hat uns die Gnade erwiesen, sie ohne weiteres Leid von uns zu nehmen.«

Wilhelms Tränen tropften über ihre Köpfchen.

»Das reicht!«, befahl sie. Ihre Hände zitterten. Sie nahm die Babys und wickelte sie in die Häkeldecke. »Du musst es dem Pastor sagen.«

Wie in Trance drehte sich Wilhelm um, auf dem Gesicht noch die Spuren trocknender Tränen, zog sich die Hose an, ließ die Hosenträger über die gebeugten Schultern schnappen und schlich nach unten.

Eveline legte die Babys in die Wiege und schenkte ihnen keinen weiteren Blick mehr. Sie machte das Bett und ging in die Küche, um das Frühstück zu bereiten.

Am kurzen Trauergottesdienst nahmen lediglich ein paar Mitglieder der protestantischen Gemeinde teil.

Die Muellers nahmen mit ihrer gesamten Sippe teil. Der alte Stevens und Bernice kamen Händchen haltend. Die Mortons waren ebenfalls da. Frank hatte seinen Cowboyhut zu Hause gelassen und sich das dichte Haar ordentlich hinter die Ohren gekämmt. Die Muellers und die Mortons würdigten einander keines Blickes. Als die winzigen Babys schließlich gesegnet worden waren, brachte man sie zurück zur Farm der Kisers, um sie unter dem Apfelbaum zu begraben.

Die Trauergäste versammelten sich im Esszimmer der Kisers, aßen die von den Nachbarn mitgebrachten Speisen und unterhielten sich über die Kälte und den vorhergesagten harten Winter.

Eveline fühlte immer noch nichts. Von den Gesprächen und den an sie gerichteten Worten des Trostes bekam sie nichts mit. Als sie mit einem silbernen Servierlöffel Mais auf einen Teller gab, spürte sie nicht mal das Metall an ihren Fingern.

Frank Morton kam zu ihr und legte ihr leicht die Hand auf den Unterarm. Und das spürte sie. Tatsächlich drang die Hitze derart unvermittelt durch ihre Taubheit, dass sie den Arm so rasch zurückzog, als hätte sie sich verbrannt. Abwesend rieb sie sich über die Stelle.

»Ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte er. »Lily würde sich freuen, Ihnen weiterhin im Haus zu helfen. Sie müssen sie nicht bezahlen. Sie macht das gern.«

Eveline nickte. »Sehr gerne. Lily ist hier jederzeit willkommen.« In diesem Augenblick wünschte sie sich, er würde sie in den Arm nehmen, ihren Kopf an seine Brust drücken und ihr den Rücken streicheln. Sie wünschte, er würde ihr von seinem Besuch in Holland erzählen, Erinnerungen an glücklichere Zeiten heraufbeschwören, sie durch seine Nähe wieder zum Leben erwecken.

Stattdessen wandte sich Frank einer Frau zu, die sich ihnen schüchtern von hinten genähert hatte. »Ich weiß, es ist nicht der beste Zeitpunkt, aber ich möchte Ihnen meine Frau Claire vorstellen.« Er legte seiner Frau die Hand auf ihren schmalen Rücken und schob sie vorwärts.

Claire war sichtlich nervös. »Mein herzlichstes Beileid, Mrs. Kiser.«

Für Eveline war das nur eine hohle Floskel, und sie verspürte tiefe Abneigung gegen die Frau. Claire war schwach und scheu und verdiente den Mann an ihrer Seite gar nicht. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs. Morton«, erwiderte sie kalt. »Wir freuen uns, dass Sie gekommen sind.«

Am Abend verabschiedeten sich alle Nachbarn außer Lily und Claire. Lily brachte Will und Edgar ins Bett. Wilhelm redete draußen vor dem Haus mit Heinrich Mueller. Andrew war spurlos verschwunden.

Claire spülte in der Küche das Geschirr und legte die übrig gebliebenen Fleischplatten und Aufläufe auf Teller. Dabei bewegte sie sich stiller als ein Mäuschen.

Eveline war erschöpft und wollte nur, dass die Frau endlich ging. »Das müssen Sie nicht machen, Mrs. Morton.« Allein Claires Anwesenheit nervte sie. »Wilhelm wird Sie heimfahren.«

»Nein, ich bleibe hier«, erwiderte sie nur. »Und bitte nennen Sie mich doch Claire.«

Diese Frau drang in ihr Haus ein, in ihre Küche, und wollte nun auch noch länger bleiben als nötig.

»Ich koche uns einen Tee«, bot Claire mit nervöser Stimme an. Mit stockenden Bewegungen füllte sie den Wasserkessel und stellte ihn auf den Ofen.

Eveline folgte ihr mit dem Blick, während sie die Schränke nach Tee, Zucker und Tassen durchforstete. Sie zog die Schultern bis zu den Ohren hoch. Schließlich stellte sie einen Becher mit heißem Tee vor Eveline.

Claire zog einen Stuhl unter dem Tisch heraus, rührte in ihrem eigenen Becher und starrte wie hypnotisiert auf den kreisenden Löffel.

Trink deinen verdammten Tee und lass mich in Ruhe, dachte Eveline. Etwas nagte in ihrem Innern. Vor lauter Feindseligkeit brach ihr der Schweiß aus. Hier in der Küche, gegenüber von Franks Frau, fühlte sie sich wie in einer Falle und bekam keine Luft mehr.

Claire trank vorsichtig einen Schluck von ihrem heißen Tee und stellte den Becher auf ihrem Schoß ab. »So k-k-kleine Kinder …« Sie hielt inne und spitzte die Lippen, als wollte sie ihren Mund davon abhalten zu stottern. Dann setzte sie noch mal an, langsamer jetzt: »So kleine Kinder sterben zu sehen, ist einfach furchtbar.« Ihre Augen huschten hin und her, als würde sie eine traurige Geschichte in der Zeitung lesen.

Hitze durchfuhr Eveline. Wie konnte sie es wagen! Sie ballte die Fäuste und wollte einfach aufstehen und gehen, nur um von dieser Frau mit ihren hohlen Phrasen wegzukommen.

»Danke für Ihr Mitgefühl, aber mir ist im Moment nicht nach reden, Claire. Wie Sie sich denken können, war es ein langer Tag. Außerdem passiert es häufig, dass Mütter ihre Kinder verlieren. Das ist Gottes Wille.« Sie klang verbittert über einen Gott, der nichts getan hatte, um ihre Kinder zu beschützen. Ganz sacht führte sie den Becher an ihre Lippen, umklammerte aber gleichzeitig so heftig den Griff, dass sie befürchtete, er könnte jeden Moment abbrechen.

Sanft nahm Claire ihr den Becher ab und stellte ihn auf den Tisch. »Sie haben diese Babys noch nicht begraben.« Sie sagte es fast lautlos, aber Eveline verstand jedes Wort.

Am liebsten hätte sie ihr ins Gesicht gespuckt, in diese mitleidigen Augen. »Ich habe sie gerade eben begraben«, zischte sie. Sie wollte ihren Tee zurück, um sich daran festzuhalten, um etwas zu tun zu haben. »Sie waren doch dabei.«

»Sie sind noch nicht begraben.« Claire krümmte sich leicht und schüttelte langsam den Kopf. »Noch nicht. Nicht, bis Sie sie betrauert haben.«

Gefühle stiegen in Eveline auf und machten sie noch wütender. Sie wollte um sich treten und Claire vom Stuhl stoßen. Sie wollte jemanden beißen, ihre Zähne in die Haut eines anderen schlagen und wie ein tollwütiger Hund daran zerren. Der Zorn brachte ihr Gesicht zum Glühen, und am liebsten hätte sie so laut geschrien, dass alle Fensterscheiben zersprungen wären.

»Ich muss nicht weinen oder trauern«, sagte sie abfällig. »Wissen Sie, warum?« Ihr ganzer Körper zuckte, sie konnte nicht mehr klar denken und sprach aus, was ihr in den Sinn kam. »Weil ich froh war, als sie weg waren! Also ersparen Sie mir Ihre Predigt über den Verlust von Babys, die ich von Anfang an nicht geliebt habe!« Ein Schluchzen brach aus ihr heraus. Schnaubend stieß sie heiße Luft durch die Nase.

Sie sprang auf, wollte die Frau vor sich anschreien, sie als dumm und beschränkt beschimpfen. »Ich habe alles dafür getan, damit sie gesund wurden, aber es ging einfach nicht. Sie schrien die ganze Zeit. Sie waren so schwach, und ich wusste, dass ich sie verlieren würde. Ich wusste es!« Sie schluchzte so heftig, dass sie nicht mehr atmen konnte und nach Luft schnappte. »Wissen Sie, wie das ist, seine Kinder zu jeder Minute des Tages im Arm zu halten und zu wissen, dass sie sterben werden? Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie sich das anfühlt?«, schrie sie Claire an.

»Ja.« Vor lauter Mitgefühl hatte Claire die Augen aufgerissen. Tränen schimmerten darin. »Das habe ich.«

Evelines Weinen verebbte, und ihr Körper erschlaffte. Sie knüllte die Falten ihres Rocks in ihren zitternden Händen zusammen. Als sie aufblickte, nahm sie zum ersten Mal wirklich das Gesicht dieser Frau wahr. Sie sah darin ihre eigene Trauer gespiegelt, und diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.

»Ich vermisse sie so«, stieß Eveline hervor. Claire nickte nur, und eine einzelne Träne rann ihr über die Wange. »So sehr, dass es sich anfühlt, als hätte ich keine Haut mehr. Alles ist nackt und wund.«

»Ich weiß.«

Die beiden Frauen saßen am Tisch in diesem alten, knarzenden Haus und schwiegen. Während der Tee kalt wurde, spürten sie plötzlich eine tiefe Verbundenheit.

Andrew machte kein Licht, sondern hockte im Schutz der Dunkelheit in seinem Zimmer. Im ganzen Haus war es still, und doch hörte er immer noch die fernen, nachhallenden Schreie der Babys, als wären sie in den Kern des Hauses eingedrungen.

Er hätte es besser wissen müssen und die Kühe nicht im Wald grasen lassen dürfen. Die Krankheit hätte sie alle umbringen können. Er dachte an Edgar und Will, daran, was hätte passieren können, wenn alle Kühe vergiftet worden wären. Er dachte an das Schicksal seiner Cousins, wenn sie die gleiche Milch wie ihre kleinen Brüder getrunken hätten. Er drückte sich die Hand in den Bauch, als er an die kleinen Jungen dachte, die ihm so ans Herz gewachsen waren. Sein ganzer Körper wurde kalt und taub.

Er erinnerte sich daran, wie er die Zwillinge wieder ins Haus gebracht hatte, als Eveline sie in jener Nacht auf dem Feld zurückgelassen hatte. Sie wären ihm fast aus dem Arm gerutscht, und nun waren sie ihnen doch entglitten. Jetzt saß er hier, in der Dunkelheit, mit seinem schwachen Körper, weil er niemandem helfen, niemandem das Leben retten konnte. Weder seinem Vater noch den Zwillingen. Am Ende entglitten sie ihm alle.

Es klopfte leise an der Tür, doch Andrew war in Gedanken und hörte es nicht. Er registrierte es nur, wie man das Rattern des Windes an der Fensterscheibe wahrnimmt.

Lily erschien in der Tür und drückte sie hinter sich zu. Zwar hatte er ihr den Rücken zugewandt, doch spürte er, dass sie es war.

Über die knarzenden Dielen kam sie näher, und das Bett senkte sich leicht ab, als sie neben ihm Platz nahm.

Andrew hörte sie schlucken, aber sie sagte nichts. Sie atmete nur ruhig, und das gleichmäßige Geräusch beruhigte ihn etwas. Sie wandte sich zu ihm und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Er schloss die Augen.

Er begriff mit einem Mal, dass er Lily liebte. Unter seiner dumpfen Trauer liebte er sie, ihr weiches Haar an seinem Hals, den Duft ihrer Haut. Lily drang ihm bis unter die Haut und in die Knochen.

Dabei wusste er, dass Lily nur einen weiteren Verlust bedeuten könnte, eine weitere Wunde. Sie würde sein Leben mit ihrem ganzen Wesen umkrempeln und dann verschwinden, weil auch sie Andrew früher oder später entgleiten würde. Er konnte einfach nicht noch einen Verlust ertragen.

Er wandte den Kopf und ließ sich von ihrem Haar die Wange streicheln. Er öffnete den Mund, weil er ihr sagen wollte, sie solle gehen, doch stattdessen strichen seine Lippen über die warme Haut ihrer Schläfe. Sie hob das Gesicht, und sein Mund glitt über ihre Stirn und ihre geschlossenen Augen hinunter bis zu ihrer Nase. Sie legte den Kopf in den Nacken, und ihre Lippen trafen sich, und sie ließen sich in den Kuss sinken. Andrew liebte Lily, obwohl er gleichzeitig Angst vor dem Gefühl hatte. Seine Hand glitt über ihren Rücken.

Ihre Lippen waren weich und zärtlich, und eine Wärme ging von ihr aus, die seine Glieder bis in die letzten Nervenspitzen kribbeln ließ. Schließlich löste sich Lily aus dem Kuss und lehnte ihre Stirn gegen seine.

Sie betrachtete seine gesenkten Lider, zog langsam und zärtlich seinen Kopf an ihr Schlüsselbein und umschlang ihn fest, bis er endlich weinte.