flower_h2

27. Kapitel

Die Kolben der mächtigen schwarzen Dampfmaschinen der Pennsylvania Railroad arbeiteten unter Hochdruck, und die Räder knirschten wie zusammengebissene Zähne, wenn das Ungetüm zum Rangieren, Koppeln oder Gleiswechseln zurückgezwungen wurde. Die Bahnarbeiter sahen durchs Fenster zu und hörten, wie die Dampfmaschine ächzte und stöhnte. Gleichzeitig erstreckten sich die Gleise vor ihnen in endlose Ferne.

Seit Andrews Unfall war Wilhelms Leben jedoch zum Stillstand gekommen. Das Ächzen und Seufzen des alten Hauses machten ihn so unruhig, dass er nicht mehr einschlafen konnte. Schließlich kapitulierte er und zog sich in der Dunkelheit an. Auf dem kleinen Nachttisch stand der Spielzeugzug, den Peter Mueller für Edgar geschnitzt hatte. Wilhelm roch das frische, helle Kiefernholz. Er begutachtete den Zug, mit dem sein Sohn spielen und den er später wegstellen und vergessen würde. Die Eisenbahn, das war einmal sein Leben gewesen. Er hatte die mächtige Bremse im Waggon betätigt, sein ganzes Leben hatte sich bei der Pennsylvania Railroad abgespielt, sein Beruf hatte ihm immer viel bedeutet. Jetzt aber fühlte er sich so leblos wie dieses Spielzeug.

Wilhelm Kiser war als Farmer geboren und aufgezogen worden – ein paar Jahre hatte er in Deutschland verbracht, den Rest in Amerika. Aber das Land war den Kisers nicht wohlgesinnt. Für seine Eltern hatte es keine reiche Ernte gegeben. Und so lange Wilhelm denken konnte, hatte er das Leben auf der Farm gehasst: das Graben und Pflanzen, den Geruch der Tiere, die allgegenwärtigen Fliegen und das Aufstehen vor Tagesanbruch. Das Land hatte sich als Fluch erwiesen, und er musste mit ansehen, wie seine Eltern daran zugrunde gingen. Er sah, wie sie sich hinter dem Pflug krümmten, und als er aufwuchs, lernte er das Land zu hassen und konnte es kaum abwarten, ihm zu entfliehen und ein ganz neues Leben anzufangen. Was er auch tat. Von ganz unten arbeitete er sich bei der Eisenbahn hoch: vom Packer zur Hilfskraft des Heizers, zum Heizer bis zum Bremser. Wilhelm sog den Ruß ein, als wäre er frische Luft, die er zum Atmen brauchte.

Jetzt stellte er die Spielzeuglok auf den winzigen Tisch zurück. Der Tag brach an, und der Raureif an den Fenstern kündigte einen eisigen Herbstmorgen an. Zu dieser frühen Stunde kam ihm nichts richtig vor; es war nicht richtig, dass ein Körper sich aus dem Schlaf und den noch warmen Decken quälte. Selbst die Vögel wussten, dass es noch zu früh war, um diese Ruhe zu stören. Und doch setzte Wilhelm sich nun in Bewegung, nahm den Eimer mit zur gottverdammten Scheune, um sich auf einen gottverdammten kalten Schemel zu setzen und eine gottverdammte Kuh zu melken. Er spürte geradezu, wie ihm eine Hand die Gurgel zudrückte, so dass er kaum schlucken konnte und alles wieder hochzukommen drohte.

Wilhelm ging zur Scheune, vorbei an dem riesigen Apfelbaum. Er blickte hinauf zu den nackten Ästen, an die sich noch ein paar alte Äpfel klammerten, und betrachtete den Baum und seinen mächtigen Stamm. Darunter lagen nun seine Söhne begraben.

Wilhelm betrat die dunkle Scheune, zündete die Laterne an, hockte sich auf den eisigen Schemel und beugte den Rücken. Als er die warme Zitze anfasste, zuckte die Kuh wegen seiner kalten Hände zusammen, aber das war ihm egal. Ist ja nur ’ne gottverdammte Kuh. Er zog und drückte, drückte und zog, und der Strahl der Milch spritzte in den Eimer. Hier saß er – alles in seinem Leben war zum Stillstand gekommen.

Immer härter und schneller drückte er. Die Jahre bei der Eisenbahn waren ein verlorener Traum, erschienen ihm heute wie eine Spinnerei, während das Farmerleben sein eigentliches Schicksal zu sein schien. Und während er auf dem dreibeinigen Schemel hockte, fühlte er sich morsch wie altes, brüchiges Holz.

Als er sein verzerrtes Spiegelbild im Metalleimer betrachtete, war ihm, als würden die Augen seines Vaters zurückstarren. Er litt unter der Wiederholung einer Vergangenheit, der er mit aller Macht zu entfliehen versucht hatte. Und doch saß er hier, wie schon sein Vater auf einem solchen Schemel gesessen hatte. Und er konnte nichts dagegen unternehmen.

Seine Gedanken wanderten zu seinem Vater, einem sturen, stoischen Deutschen. Wenn er eines gekonnt hatte, dann war das zuzupacken, wo immer es nötig war. Sobald das Haus, ein Tisch oder eine Wand gestrichen werden musste, holte Wilhelms Vater alle Farbeimer aus dem Schuppen, mischte die Farben zusammen und färbte alles, was sie besaßen, zu einem stumpfen Grau. Das vergaß Wilhelm nie. Wie das Grau langsam auch in seine Mutter drang, bis sie nicht mehr hübsch und lebensfroh war, sondern nur noch stumpf und matt und ohne jede Farbe.

Als Wilhelm nach Pittsburgh zog, schwor er sich, dass das seiner Frau niemals geschehen sollte. Er kaufte Eveline feine Sachen wie dicke Teppiche, Federdecken und Duftöle aus Frankreich. Damals war Geld noch kein Problem gewesen. Jetzt aber spürte er drückend die Last seiner schwindenden Ersparnisse, wo er doch eine Familie zu ernähren und ein Land zu bestellen hatte.

Er warf einen Blick zu dem neuen Fordson-Traktor, der hinter den Kuhställen stand. Bei seinem weitläufigen und steinigen Land konnte er es nicht riskieren, einen gebrauchten zu benutzen. Aber jetzt kam ihm sein Kauf leichtsinnig vor. Eigentlich hatte Wilhelm kalkuliert, dass seine Rücklagen eineinhalb Jahre reichen würden. Jetzt konnten sie davon, mit Glück, gerade den Winter überstehen. Aber dies würde er, wie so vieles andere, für sich behalten. Auf gar keinen Fall würde er seine finanziellen Sorgen mit Eveline teilen. Frauen verstanden nichts davon, dachte er. Ihr ganzes Leben drehte sich um Kinder, Essen und den Haushalt. Und doch beklagten sie sich. Trotz eines so sorglosen und bequemen Lebens beklagten sie sich.

Korn und Gras würden wachsen, das wusste er. Und die Hühner würden Eier legen, die Kühe Milch geben. Der Garten würde die Familie ernähren. Aber Wilhelm war als Farmer aufgewachsen und wusste, dass all dies Zeit brauchte und die Bedingungen stimmen mussten. Wilhelm Kiser wusste genau, was der Preis für jedes bisschen Wachstum war.

Als die Kuh keine Milch mehr gab, rückte Wilhelm den Hocker zur nächsten, fing wieder von vorne an und versuchte, an diesem Leben nicht zu ersticken.

Eveline wendete die Kartoffelpuffer mit dem Pfannenheber. Im siedenden Öl wurden sie schnell braun und zogen sich dann kreisförmig zusammen. Wilhelm knallte die Tür zur Veranda zu und stellte die Milcheimer neben der Speisekammer ab.

»Kannst du die Tür nicht einmal leise schließen?«, fauchte sie.

»Falls du es nicht gesehen hast: Ich hatte die Hände voll«, antwortete er grimmig.

Eveline schnaubte und stapelte die Reibekuchen auf einem Teller. Ihr Mann würde meckern, weil es zum Frühstück kein Fleisch gab, aber darauf war sie gefasst. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sie war müde, gereizt und streitlustig. Deshalb hatte sie sich beim Reiben von Kartoffeln und Zwiebeln abreagiert.

Der kleine Will saß am Tisch und ließ seine Fingerknöchel knacken. Bei dem Geräusch zuckte sie zusammen.

»Will!« Bei ihrem scharfen Ton zuckten alle am Tisch zusammen. »Wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst das nicht machen!«, rief sie vorwurfsvoll.

Will verschränkte trotzig die Arme und verbarg seine Hände, peinlich berührt, weil seine Mutter so gegen ihn aufbrauste.

»Lass ihn in Ruhe, Eve«, befahl Wilhelm. »Der Junge hat nichts falsch gemacht. Herrgott, was bist du wieder reizbar.«

Eveline drückte die Masse aus Ei und Kartoffeln in ihrer Hand zusammen und warf sie ins siedende Öl. Ein heißer Spritzer traf sie am Arm. Sie kniff die Lippen zusammen, bis das Brennen nachließ. Sie stocherte in dem Reibekuchen. Sie war tatsächlich gereizt, konnte aber nichts dagegen machen. Alles an Wilhelm brachte sie auf: seine Stimme, sein Gang, die widerspenstigen Haare an seinen Ohren. Sie war schon beim Aufwachen gereizt gewesen. Das Schnarchen ihres Mannes hatte sie aus irgendeinem Traum gerissen, und die letzte Stunde vor dem Aufstehen hatte sie an die Decke gestarrt und versucht, sich zu erinnern, was sie geträumt hatte.

»Tante Eveline hat recht«, sagte Andrew zu seinem kleinen Cousin. »Du solltest nicht mit den Knöcheln knacken. Davon werden deine Hände hässlich.«

Jetzt schob Eveline die Reibekuchen langsamer hin und her und spitzte die Ohren, damit ihr nichts entging.

»Ehrlich?«, fragte Will.

»Ja. Wenn du alt wirst, sind deine Gelenke dann ganz knotig und brüchig.«

»Stimmt gar nicht«, widersprach der Junge.

»Doch, das stimmt.« Andrew erhob sich vom Tisch, holte von der Anrichte das Apfelmus und stieß seine Tante liebevoll an. »Ich kannte mal einen Mann in den Minen, der mit den Knöcheln knackte, seit er klein war. Am Ende sahen seine Hände aus wie Bärenklauen.« Zur Demonstration krallte er seine Hand wie ein Grizzly. »Selbst wenn er am Ende des Tages seine Schippe fallen ließ, waren seine Hände so gekrümmt, als würde er sie immer noch festhalten.«

»Nur vom Knöchelknacken?«

»Ganz genau.« Andrew gab einen Löffel Apfelmus auf Wills Teller und sah zu, wie der Junge unter dem Tisch seine Finger begutachtete, sie streckte und dann wieder zur Faust ballte, um zu erkennen, ob das wirklich wahr sein konnte.

Eveline brachte die nächsten Reibekuchen zum Tisch und gab Andrew den ersten. Sie lächelte ihn an. Er war durch und durch gut. Es gab nicht viele Männer wie Andrew, mit starkem Körper und empfindsamem Herzen.

»Wo ist das Fleisch?«, wollte Wilhelm wissen.

»Es gibt heute keins.«

»Wieso nicht?«

Den Teller noch in der einen Hand, stemmte sie die andere in die Hüfte. »Weil ich keine Lust hatte, welches zu braten, deshalb.«

Wilhelm verdrehte die Augen und murmelte etwas Unverständliches.

Eveline ging mit dem leeren Teller zur Spüle. Sie musste unwillkürlich an Frank denken. Plötzlich erinnerte sie sich, dass er es war, von dem sie in dieser Nacht geträumt hatte. Sie errötete bis zum Haaransatz, warf einen Blick auf Wilhelm, der missmutig vor seinen Reibekuchen saß, und spürte das schlechte Gewissen an ihr nagen. Sie holte den geschnittenen Schinken heraus und warf ein paar Scheiben in die Pfanne.

Sobald Lily kam, stieg Eveline die knarzenden Stufen zum Obstkeller hinab und hielt sich dabei die baumelnde Laterne dicht vors Gesicht. Dicke Spinnweben, in denen sich der Staub verfangen hatte, hingen in jeder Ecke und über jedem Regal. Die Luft war überraschend mild und roch muffig, aber der Raum war für das, was sie vorhatte, viel zu groß, so dass sie unschlüssig im Licht stand und nicht wusste, wo sie anfangen sollte.

Als Lily zu ihr herunterkam, hallten ihre Schritte dumpf und hohl von den Steinwänden wider. »So einen großen Obstkeller habe ich ja noch nie gesehen«, rief sie aus. »Ich glaube, hier war seit Ewigkeiten niemand mehr.«

Eine Reihe Gläser, von denen einige gesprungen waren und andere unidentifizierbare grüne oder gelbe Klumpen enthielten, belegte zwei der Regale. Ihre metallenen Deckel waren nach oben ausgebeult.

»Die sind nicht mehr gut.« Lily kümmerte sich nicht um die Spinnweben und begutachtete einige der Gläser. »Damit könnte man eine Ziege vergiften. Nicht ein einziges ist noch zu gebrauchen.« Sie fegte eine weitere Spinnwebe aus dem Weg und wischte sich das klebrige Netz am Rock ab. Dann zog sie aus dem hinteren Teil ein paar leere Gläser. »Aber die sind noch gut, Mrs. Kiser. Schauen Sie, nicht ein einziger Sprung.«

Eveline sah sie sich an, und tatsächlich, sie waren unversehrt und würden sich gut zum Einmachen eignen, wenn sie sie erst mal gründlich ausgekocht hatte.

»Ich laufe hoch und hole ein paar Kisten, damit wir hier aufräumen können.« Als Eveline ihre blitzenden Augen sah, musste sie lächeln, denn ihre Begeisterung war ansteckend. Sie mochte das Mädchen sehr. Es erinnerte sie an sich selbst, als sie noch jung gewesen war.

Als Lily zurückkehrte, fegten und wischten sie zusammen die Regale sauber. Am Ende waren die alten Lappen schwarz von Staub und toten Fliegen. Eveline hielt kurz inne und sah Lily beim Arbeiten zu. Sie war zwar zierlich, aber nicht schwach. Und ihr Gesicht war selbst mit Schmutzspuren an ihren Wangen so hübsch, dass man sie ständig nur ansehen wollte.

»Sie können hart arbeiten, Miss Morton.«

»Ich hab schon mein ganzes Leben gearbeitet, Mrs. Kiser. Spinnweben entferne ich, seit ich denken kann.« Sie wurde leiser und verstummte. Dann wandte sie sich zu Eveline, als wollte sie etwas sagen, hielt aber inne.

»Was ist denn?«

»Ich hab mich nur gefragt, wieso Sie hier aufs Land gezogen sind. Anscheinend hatten Sie doch ein schönes Leben in Pittsburgh. Frank war schon oft dort. Er sagt, ihr früheres Zuhause war wunderschön.«

Eveline dachte an ihr Backsteinhaus, an die Bequemlichkeiten, die vielen Kamine, durch die es im Winter genauso warm war wie im Sommer. Sie erinnerte sich an die Köchin und die Putzfrau, die jeden Mittag gekommen waren. An die Nähe zur Innenstadt und die Frauen, die sie zum Tee besucht hatten. Jetzt fiel ihr auch auf, wie anders Wilhelms Gesicht damals ausgesehen hatte, wie er vor Stolz auf seinen Beruf und seine Familie fast geplatzt war. Als sie daran dachte, wie niedergeschlagen ihr Mann nun aussah, tat es ihr in der Seele weh.

»Ich schätze, es steckt mir im Blut«, gestand Eveline. »Auf dem Land zu leben und zu arbeiten, meine ich. Ich wollte, dass meine Jungs fernab der Stadt aufwachsen, wo die Luft noch sauber ist. Ich wollte, dass sie lernen, das Land zu respektieren und zu bestellen.«

Unvermittelt stand sie auf und ging mit dem Besen in eine Ecke, weil sie den Erinnerungen an ihr früheres Leben entkommen wollte. Lily begriff, dass das Thema erledigt war, und reckte den Besenstiel zur Decke, um dort die Spinnweben zu entfernen.

Eveline fegte den Boden und beförderte haufenweise vertrocknete Wespen und Blätter aus den Ecken. Mit einem Mal ließ Lily ihren Besen fallen und starrte Eveline an, als hätte sie einen Geist gesehen.

»Was ist?«, fragte Eveline.

Langsam beugte sich Lily zum Besen vor, den Blick fest auf Evelines Schulter gerichtet. Sie flüsterte: »Nicht bewegen.« Und dann fegte sie blitzschnell etwas Großes, Schwarzes von Evelines Schulter.

Eveline sah die glänzend schwarze Spinne mit dem roten Kreuz auf dem Rücken zu Boden fallen und zerquetschte sie hastig mit ihrem Absatz.

Eveline drückte sich die Hand aufs Herz; ihr rauschte das Blut in den Ohren. Vor ihren Augen wurde alles schwarz. Als sie wieder auf die tote Spinne blickte, wich sie vor Angst und Ekel zurück. Sie wusste nur eines über die Schwarze Witwe: Das Weibchen paarte sich mit dem Männchen und fraß es dann bei lebendigem Leib auf.

Eveline Kiser erzitterte am ganzen Körper.