Beim Frühstück reichte Andrew Wilhelm einen Brief. »Könntest du den heute aufgeben, wenn du in Pittsburgh bist? Von der Stadt aus kommt er schneller an.« Er hatte seiner Mutter geschrieben und ganz sachlich vom Leben auf der Farm erzählt. Ohne seinen fehlenden Arm oder den Unfall zu erwähnen.
»Den kannst du selbst abschicken«, erwiderte Wilhelm. Er trank seinen Kaffee schwarz, leerte den Becher fast in einem einzigen Zug und stellte ihn dann auf den Tisch. »Ich nehm dich mit nach Pittsburgh.«
Andrew hielt beim Kauen inne. »Mich?«
»Ja, dich.« Wilhelm grinste so freundlich, wie Andrew ihn schon lange nicht mehr erlebt hatte. »Iss auf, dann geht’s los. Wir werden ohnehin fast den ganzen Tag brauchen.«
»Aber was ist mit dem Ford?«
Wilhelm verließ das Zimmer und rief, ohne sich umzuschauen: »Ist repariert.«
Während der Fahrt breitete sich Schweigen zwischen den beiden aus, nur das regelmäßige Brummen des Motors und das Flattern des Gurts über der Motorhaube war zu hören.
»Das neulich hätte ich nicht sagen dürfen. Es stimmt nicht, und ich hab’s auch nicht so gemeint. Kein einziges Wort«, brachte Wilhelm schließlich hervor. »Es tut mir leid.«
Andrew wandte das Gesicht zum Fenster, das ganz oben einen Sprung hatte. Der Wind peitschte ihm durchs Haar und ließ ihn frösteln. »Du musst dich nicht entschuldigen.«
»Doch, muss ich. Ich hatte kein Recht, so was zu sagen.« Wilhelm umklammerte das Lenkrad und biss sich auf die Wange. »Du arbeitest genauso hart wie wir alle. Wahrscheinlich noch härter. Du hast meine Familie gerettet, als du den Wasserdost gefunden hast.«
Aber nicht rechtzeitig, um die Zwillinge zu retten, dachte Andrew und stemmte seine Füße gegen den Boden des Wagens.
»Deshalb nehme ich dich mit in die Stadt.« Verlegen sah Wilhelm seinen Neffen an. »Als eine Art Dankeschön.«
Als Wilhelm und Andrew in der Stadt ankamen, war es, als würde alles von Farbe auf Schwarz-Weiß wechseln. Die Straßen waren voller Autos und die Mauern grau vom Ruß. Andrews Onkel bog in eine Nebenstraße ein, die von Steinhäusern mit Schieferdächern gesäumt war. Auf beiden Seiten wuchsen hohe Ahornbäume, deren Blätter fast die Straßenlaternen dazwischen verdeckten. Wilhelm parkte den Wagen vor einem großen Haus mit einer breiten Veranda und Kletterrosen, deren Blüten langsam welk wurden.
Als er ausstieg, folgte ihm Andrew und lief mit ihm die flachen Schieferstufen hinauf. Noch bevor sie klopften, ging die Tür auf, und eine Frau in einem grün-gelben Kleid trat heraus.
»Willy!« Sie stemmte die Hände in die Hüften und musterte ihn neugierig. »Meine Güte, du warst ja schon ewig nicht mehr hier.«
»Hey, Francine.« Wilhelm lächelte verlegen. »Du siehst so hübsch aus wie eh und je.«
Voller Zuneigung drückte die Frau seine Schulter. »Ich hab gehört, du wärst mit deiner schönen Frau aufs Land gezogen. Wie ist denn das Leben dort?«
»Nicht so gut wie das bei der Eisenbahn«, erwiderte er, schon wieder mürrisch, und zuckte die Achseln. »Aber Eveline ist glücklich. Glaube ich jedenfalls.« Er wirkte verlegen über seine Offenheit.
Dann wandten sich beide zu Andrew. Die Frau presste ihre Hände zusammen. »Also wirklich! Ist das Andrew?«
Als Wilhelm nickte, versetzte sie ihm kokett einen kleinen Schlag auf den Arm. »Du hättest mir wenigstens sagen können, wie gut er aussieht! Wirklich, Junge, du bist wohl der hübscheste Kerl, den ich je gesehen habe.«
Andrew wurde rot und wusste nicht, wie er auf das Kompliment reagieren sollte. Die Frau war recht hübsch, zumindest war sie das früher einmal gewesen, aber ihr Gesicht hatte müde Falten bekommen. Sie war zu stark geschminkt und sah aus, als trüge sie eine pudrige Maske. Francine war wohl etwas älter als er, vielleicht Mitte zwanzig, hatte aber Ringe unter den Augen wie eine in die Jahre gekommene Frau. Ihr Kleid wirkte eine Nummer zu klein, da sich ihr Busen und ihre Hüften darunter deutlich abzeichneten.
Wilhelm setzte sich wieder seinen Hut auf und wandte sich zum Gehen. »Kümmert euch gut um ihn, ja?«
Sie legte Andrew die Hand auf die Schulter, sanft und viel zu vertraulich. »Mach dir darum keine Sorgen, Willy.«
Sein Onkel zwinkerte Andrew zu. »Du kannst mir später danken«, sagte er und ging zum Wagen.
Andrews Herz raste, weil er nicht begriff, was hier vorging. Die Frau legte ihren Arm um ihn. Mit sanfter, schmeichelnder Stimme gurrte sie ihm ins Ohr: »Mein Name ist Francine, aber du kannst mich Frannie nennen – ach was, nenn mich, wie du willst, mein Junge.«
Sie führte ihn ins Haus und zur Treppe. Andrew bemerkte, dass die obersten Knöpfe ihres Kleids geöffnet waren, so dass ihr Busen hervorquoll. Im gedämpften Licht des Flurs wirkte ihr blondes Haar unnatürlich. »Na komm«, sagte sie sanft. »Du brauchst keine Angst zu haben. Du bist bei mir in guten Händen.«
Er widersprach nicht, als sie seine Hand nahm und ihn die Treppe hinaufzog, deren Teppich in der Mitte schon ganz verschlissen war. Verschiedene Düfte von schweren Parfüms – Flieder, Rosen, Jasmin – vermischten sich in seinem Kopf, und ihm wurde schwindelig. Francine führte ihn in ein Zimmer, in dem sich kaum mehr befand als ein riesiges Bett mit einer dunkelgrünen Samtdecke. Sie schloss die Tür und trat von hinten an ihn heran. Ihr warmer Atem strich ihm über den Nacken, bevor sie die Arme um seine Taille schlang und anfing, seinen Gürtel zu lösen.
Als ihm klar wurde, was sie vorhatte, wich er abrupt von ihr zurück und hob die Hand. »Halt«, rief er. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. »Ich glaube, hier handelt es sich um ein Missverständnis.«
Francine schlug die Hand vor den Mund und sah ihn belustigt an. »Dann hat Wilhelm es dir nicht gesagt?«
»Was gesagt?«
Sie hörte auf zu lachen und trat verführerisch auf ihn zu, schlich sich fast an ihn heran. »Er hat dir nicht gesagt, was du hier machst oder was ich tue?«
Andrew wich zurück, aber sie folgte ihm und strich ihm mit ihren weichen Fingern übers Kinn. »Ich kümmere mich um die Bedürfnisse eines Mannes, Andrew.« Ihre Finger berührten seinen Hals und spielten mit seinem Hemdkragen. »Ich berühre einen Mann dort, wo er es am liebsten hat«, flüsterte sie und fummelte am obersten Knopf seines Hemds. Sie näherte sich seinem Ohr und berührte mit der Zunge sein Ohrläppchen. »Ich nehme dich zwischen meine Beine, Andrew.« Sie legte die Hand in seinen Schritt.
Sofort reagierte sein Körper darauf. Er wurde hart in ihrer Hand und konnte nicht mehr denken. Als sie ihn auf den Hals küsste und mit ihren Locken seine Wange streifte, bekam er wieder einen klaren Kopf. Er trat einen Schritt zurück, doch sie folgte ihm.
»Nein«, sagte er. »Hören Sie einfach auf. Okay?« Vor lauter Verwirrung schwankte seine Stimme. Francine verzog schmollend den Mund.
»Na gut«, räumte sie hochmütig ein, ging an ihm vorbei, setzte sich auf die Bettkante und schlug ein Bein übers andere, so dass er die Strapse über den Strümpfen sah.
Andrew trat schwitzend ein paar Schritte zurück. »Es ist nichts Persönliches, Miss.«
»Francine«, warf sie ein.
»Francine. Ich bin ehrlich geschmeichelt und weiß es zu schätzen, was Sie … tun. Aber ich möchte das nicht. Nicht so. Es fühlt sich nicht richtig an.« Er sah die Kränkung in ihren Augen. »Ich möchte das nur lieber mit einem Mädchen machen, das mir am Herzen liegt, wenn es der richtige Zeitpunkt ist.«
Francine sah ihn forschend an, und dann wirkte sie wieder versöhnt. Als sie lächelte, war ihr Blick nicht mehr müde. Jetzt wirkte sie wirklich hübsch, wenn auch ziemlich abgekämpft. Und Andrew erkannte, dass sie einst ein sehr schönes Mädchen gewesen sein musste.
Als Andrew sich neben sie aufs Bett setzte, ließ seine Unsicherheit nach. »Ich weiß nicht mal, wieso mich mein Onkel hergebracht hat. Das sieht ihm gar nicht ähnlich.«
»Er fühlt sich schlecht.« In ihren Augen las er Mitgefühl. »Er gibt sich die Schuld an deinem Unfall. Das ist seine Art, es wiedergutzumachen.«
Andrew senkte den Blick. »Sie meinen, ich tue ihm leid?« Die Erkenntnis traf ihn so, dass er kaum Luft bekam und Wut in ihm aufstieg. »Er meint, ich würde in meinem Zustand kein Mädchen mehr abbekommen. Deshalb hat er eins für mich gekauft.«
Sie berührte ihn kurz am Knie. »Er schämt sich und fühlt sich schuldig, Andrew. Er dachte, dies wäre ein Geschenk für dich, und vielleicht eine Art Buße.«
Andrew ballte die Faust. Damit hatte ihn sein Onkel noch schlimmer gekränkt als mit dem, was er in der Scheune zu ihm gesagt hatte.
Francine beobachtete ihn und legte den Kopf schräg. »Du bist ein gutaussehender Mann, Andrew. Es verschlug mir fast den Atem, als ich dich sah, und glaub mir, ich sehe täglich viele Männer. Aber du bist anders. Die Kerle, die hierherkommen, wollen sich fühlen wie ein Mann, aber du bist schon einer. Es ist vollkommen egal, dass du nur einen Arm hast. Jedes Mädchen kann sich glücklich schätzen, eine Nacht oder auch ein ganzes Leben mit dir zu verbringen. Das lese ich schon in deinen Augen, obwohl ich dich kaum kenne.«
Sie lächelte, doch dann wurde ihre Miene verschmitzt, und sie blickte über seine Schulter hinweg zur Uhr. »Hör mal, wir haben noch über eine Stunde, und es ist alles bereits bezahlt. Ich glaube, ich könnte noch was für dich tun, junger Mann. Wenn du dazu bereit bist.«
Wieder wurde er rot und schüttelte den Kopf. »Ich hab Ihnen doch gesagt, es würde sich nicht richtig anfühlen. Ich kenne Sie ja kaum.«
Sie lachte. »Ich weiß. Das meinte ich ja auch nicht. Ich dachte eher an …«, ihr Blick glitt suchend zur Decke, »eine Lektion.«
Sie stellte sich vor ihn. »Betrachte mich als Lehrerin«, sagte sie und fing an, ihr Kleid aufzuknöpfen. »Eines Tages wirst du das Mädchen deiner Träume kennenlernen, und da wäre es doch eine gute Idee, wenn du weißt, wie du ihr Vergnügen bereitest.« Sie streifte sich das Kleid von den Schultern und stand halbnackt im Korsett vor ihm. Wieder wurde Andrew hart und starrte auf ihren Körper, fasziniert von der blassen Haut und den weiblichen Kurven. Sie öffnete langsam das Korsett und ließ es zu Boden gleiten. Er schluckte.
»Die meisten Männer wissen nicht, wie sie eine Frau berühren sollen, Andrew. Die meisten finden das auch unwichtig. Aber wenn du tust, was ich dir sage, dann kannst du damit eine Frau sehr glücklich machen.«
Francine hüpfte zurück aufs Bett und lehnte sich in die Kissen. Als sie die Beine spreizte, konnte Andrew die Augen nicht von den feinen Haaren dazwischen abwenden. Er starrte darauf – und wenn man ihm eine Pistole auf die Brust gesetzt hätte, hätte er den Blick nicht davon abwenden können.
Francine wand sich behaglich und legte ihre Finger zwischen ihre Beine. »Und jetzt sieh genau zu …«
Als die bezahlte Stunde zu Ende war, brachte Francine Andrew zur Tür und flüsterte ihm dabei noch letzte Anweisungen zu. »Und jetzt vergiss nicht, was ich dir gezeigt habe. Du kannst das auch mit der Zunge machen.« Sie zwinkerte ihm zu. »Und vergiss nie, dir mit einer Frau Zeit zu lassen, sie soll es wollen, lass sie ruhig ein wenig warten. Küsse sie sanft, und nicht zu feucht. Küss sie auch auf den Hals.«
Wilhelm wartete auf der Veranda auf sie, noch verlegener als zuvor, wich Andrews Blick aus und begrüßte nur Francine. Sie wischte sich dramatisch über die Stirn. »Das Schätzchen hier hat mich völlig fertiggemacht.«
Unbeholfen zog Wilhelm ein paar Scheine aus seiner Brieftasche und gab sie ihr. »Danke, Frannie.«
»War mir ein Vergnügen.« Sie zwinkerte Andrew zu. »Ein echtes Vergnügen.«
Die Männer fuhren schweigend zurück. Andrew warf einen Blick auf das konzentrierte Gesicht seines Onkels, bevor er sagte: »Ich muss dich was fragen.«
Wilhelm erstarrte, als er seinen Ton hörte. »Was denn?«
»Warst du schon mal dort?« Er drückte sich fest in den Sitz, so sehr quälte ihn die Vorstellung des Verrats an seiner Tante – Eveline war mittlerweile wie eine zweite Mutter für ihn. »Warst du bei diesen Frauen?«, stieß er hervor.
Wilhelm Kiser riss das Steuer herum und an den Straßenrand. Die Räder hüpften gefährlich über die Steine, bevor der Wagen quietschend zum Stehen kam. »Jetzt hör mir mal gut zu! Ich habe solche Frauen nicht angerührt.« Wütend brüllte er: »Nicht ein einziges Mal!«
Aber Andrew ließ sich nicht einschüchtern und erwiderte seinen zornigen Blick.
Wilhelm wandte sich als Erster ab und fuhr zurück auf die Straße. »Obwohl ich schon verstehen kann, wie du darauf kommst«, räumte er ein und lehnte sich in seinem Sitz zurück. »Hör mal, viele Eisenbahner sind in solche Häuser gegangen. Wir haben mehr Leute an die Syphilis verloren als bei Unfällen. Wenn ein Mann wochenlang unterwegs ist, kann er ganz schön einsam werden.«
Abrupt drehte er sich zu Andrew um. »Aber ich schwöre bei meinem Leben, bei dem meiner Jungs, dass ich nie solche Frauen aufgesucht habe. Ich habe Eveline nie betrogen und würde das auch niemals tun. Ist das klar?«
Andrew glaubte ihm und atmete erleichtert auf. Beide Männer hingen ihren Gedanken nach, während sie an den stinkenden, schmutzigen Fabriken vorbei durch die Innenstadt fuhren. Als sie ein Stück entlang der Gleise zurücklegten, donnerte eine Dampflok der Pennsylvania Railroad vorbei. Wilhelm folgte ihr mit dem Blick und starrte ihr mit sehnsüchtiger Miene über den Rückspiegel nach, bis der letzte Waggon unter einer lang gezogenen Rauchfahne verschwand.
»Der Unfall war nicht deine Schuld«, sagte Andrew leise.
Sein Onkel umfasste das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. Sein Adamsapfel hob und senkte sich.
»Ich gebe dir keine Schuld«, fügte Andrew hinzu. »Hab ich nie.«
Wilhelm wandte das Gesicht zum Fenster und biss sich auf die Unterlippe. »Es vergeht nicht ein Tag, an dem ich mir diesen Unfall nicht vorwerfe.« Seine Stimme klang heiser von all der aufgestauten Reue, die er seit dem Unfall empfand.