Lily schmeckte Blut. Als sie sich über den Mundwinkel fuhr, sah sie einen roten Tropfen auf ihrem Finger. Frank hatte sie schon früher geschlagen, aber da war sie noch ein Kind gewesen. Sie hatte wegen der Ohrfeige geweint und sich danach im Wald versteckt.
Obwohl ihre Wange schmerzend pochte, würde sie ihm das nicht zeigen. Sie war kein Kind mehr. Sie hatte keine Angst. Sie starrte ihren Schwager mit eisigem Blick an, bis er den Blick abwandte.
»Wieso zwingst du mich dazu, Lily?« Frank kratzte sich am Kopf. »Wieso musst du so verdammt stur sein?« Wieder hob er die Hand, versuchte dann aber, sich zu beherrschen. »Wenn ich dir was befehle, dann hörst du besser auf mich, bei Gott!«
»Schlag mich doch, Frank«, gab sie zurück. »Ich werde nie auf dich hören, also kannst du mich gleich wieder dafür bestrafen.«
Er trat einen Schritt auf sie zu, und er überragte sie bedrohlich. Sie atmete bewusst langsam ein und aus, um nicht die Nerven zu verlieren, und lehnte sich zurück, bemüht, nicht unter seinem Blick zurückzuweichen.
Frank Morton lächelte. Er streckte die Hand aus und strich ihr zärtlich übers Haar. Sie zuckte zurück und bekam eine Gänsehaut von seiner Berührung. Lieber hätte sie noch tausend Ohrfeigen erduldet als seine sanften Finger auf ihrer Wange gespürt.
»Ich werde dich nicht mehr schlagen, Lily«, sagte er und lachte leise. »Nie wieder.«
Jetzt fühlte sie sich doch wie ein Kind. Jetzt wollte sie weinen und sich im Wald verstecken. Er spürte ihre Furcht und kam noch näher, strich mit seinen Fingern über ihren Hals. »Du warst schon immer hübscher als deine Schwester. Und klüger.«
Nur ihr Kinn zitterte, der Rest ihres Körpers war wie erstarrt.
»Wenn ich wollte, könnte ich dich nehmen.« Er fuhr mit dem Finger vom Hals bis zu ihrem Schlüsselbein. »Das weißt du genau. Und du könntest nicht das Geringste dagegen machen.«
»Ich würde schreien«, zischte sie kaum hörbar.
»Nein, würdest du nicht.« Wissend strich er ihr über die Arme. »Dann würde Claire doch Angst kriegen. Ich könnte alles mit dir machen, was ich wollte, und du würdest keinen Mucks von dir geben, oder?«
Jetzt flossen ihr Tränen über ihr erstarrtes Gesicht. Ihre Beine zuckten in dem Drang loszurennen. Weg, nur weg!
Plötzlich ließ er sie los und trat einen Schritt zurück. »Aber ich geh nicht mit dir ins Bett, kleine Lily.« Er zwinkerte und setzte sich in Bewegung. »Ein Händler wird sich hüten, seine eigene Ware zu verbrauchen.«
Bei der Erinnerung an die Frau in Pittsburgh durchströmte Andrew in den nächsten Tagen immer wieder eine Hitzewelle. Nachts lag er manchmal wach, und tagsüber konnte er nicht klar denken. Und wenn sein Verlangen zu stark wurde, hackte er zur Ablenkung Holz, bis er Blasen an den Händen bekam. Dann starrte er auf den dichten Wald und fragte sich, ob es genug Holz gab, um ihn einen weiteren Tag überstehen zu lassen.
Aber sein Begehren galt nicht jener Frau, sondern einem Mädchen, dessen Name in die Rinde des Apfelbaums geritzt war. Schon über eine Woche war Lily nicht mehr gekommen, und er sehnte sich nach ihr, nach ihrem Lächeln und dem frischen Duft ihrer Haut. Bevor er wusste, was er tat, hatte er schon wieder nach der Axt gegriffen.
»Ach, hab ich dir das nicht erzählt?«, antwortete Eveline später auf sein Nachfragen. »Frank ist vorbeigekommen und hat gesagt, Lily müsse eine Zeitlang Mrs. Sullivan helfen.« Sie faltete ein Laken. »Offenbar geht es der Frau nicht gut.«
Daraufhin begab sich Andrew am Abend zum Haus der Witwe. Er zog sich die Kappe tief ins Gesicht und schob die Hand in die Hosentasche.
Er lief über die Straße bis zu dem reizenden Häuschen der alten Dame und klopfte an die Tür. »Ich geh schon!«, hörte er Lily drinnen rufen. Als sie Andrew sah, wirkte sie erschrocken und legte unwillkürlich die Hand auf ihre Wange.
»Hi«, sagte er.
Sie blickte erst über ihre Schulter und dann zu Boden. »Das ist jetzt kein guter Zeitpunkt. Mrs. Sullivan kann keinen Besuch empfangen.«
»Ich wollte auch nicht Mrs. Sullivan besuchen.«
Lily sah nicht auf. »Ich kann jetzt auch nicht reden.«
»Wer ist denn da, Lily?« Mrs. Sullivan kam zur Tür gehumpelt. Ihr Rücken war so krumm, dass es aussah, als hätte sie einen Buckel. »Um Himmels willen, Kind, warum bittest du den Jungen nicht ins Haus?« Ohne auf eine Antwort zu warten, machte die Witwe die Tür weiter auf und zog Andrew am Ellbogen herein.
»Draußen ist es doch eiskalt«, schalt sie. »Komm und wärm dich am Feuer, mein Junge.«
Andrew ließ sich ins Haus führen und sah, wie Lily im Schatten verschwand. »Wie geht es deiner Tante?«, fragte Mrs. Sullivan. »Ich hab sie seit der Beerdigung nicht mehr gesehen.«
»Besser.« Er lächelte die alte Frau an und spürte, wie seine kalten Finger in dem gemütlichen Zimmer auftauten.
»In letzter Zeit ist es schwer für mich, aus dem Haus zu kommen«, klagte sie. »Nicht mal mit dem Zweispänner kann ich fahren …« Sie wischte sich mit einem Taschentuch über ihr tränendes Auge. »Aber das ist ja unwichtig. Du wirst mich für eine alberne alte Närrin halten.«
»Sie sind doch nicht albern, Mrs. Sullivan.« Lily zupfte an der Häkeldecke, die über das Sofa drapiert war. »Es ist nicht albern, sich um sein Pferd Sorgen zu machen.«
Die Unterlippe der Frau begann zu zittern, und wieder tupfte sie sich über ihr Auge. »Sie ist auch ganz krank geworden«, erklärte sie Andrew. »Der Bauch ist angeschwollen wie ein Wassertank. Sie kann kaum laufen.«
»Dürfte ich mal einen Blick auf sie werfen?«
»Andrew wollte Tierarzt werden«, fügte Lily hinzu.
Da wurde die Frau neugierig. »Ach, würdest du das tun? Ich wollte schon Mr. Thompson aus der Stadt kommen lassen. Natürlich versteht er eher was vom Schlachten als vom Heilen, aber ich dachte, vielleicht könnte er helfen.« Mit zur Seite gelegtem Kopf sah sie Andrew an. »Du meine Güte, jetzt schaue man sich mal diese Augen an!«
Suchend blickte sie sich nach Lily um, bis sie sie in der Nähe des Sofas entdeckte. »Lily, hast du die Augen dieses Jungen gesehen?«
»Nein.« Lily wurde rot und drückte sich noch näher an die Wand.
»Ha!« Die alte Frau lachte verschmitzt und tätschelte Andrew das Knie. »Oh, und ob sie die gesehen hat.«
Lily seufzte und verschränkte die Arme. »Wollten Sie ihm nicht das Pferd zeigen?«
»Oh ja!«
Alle drei zogen sich ihre Mäntel an und gingen hinaus in die Scheune. Dort drückte sich das Pferd tatsächlich an die Wand des Stalls und ließ den Kopf hängen. Sein Bauch war angeschwollen. Die Witwe nahm ihren Schal ab und legte ihn über das arme Tier.
»Ich darf sie nicht verlieren. Nicht sie«, flüsterte Mrs. Sullivan. »Die gehört meiner ältesten Tochter. Wenn diesem Pferd etwas passiert, wird sie mich wohl nie wieder besuchen.« Vergebens versuchte sie, sich ihre Angst und Einsamkeit nicht anmerken zu lassen.
Andrew berührte liebevoll das Pferd und begutachtete den Futterbeutel, der nicht angerührt worden war. Er verließ den Stall und untersuchte die restliche Scheune, bis er einen aufgerissenen Jutesack fand. Aus dem Loch war Grünhafer gequollen und lag jetzt in einem Haufen auf dem schmutzigen Boden.
Andrew fragte: »Haben Sie das Pferd mit diesem Hafer gefüttert?«
Die Witwe kam näher und begutachtete die Körner in seiner Hand. »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Diesen Hafer wollte ich zurückgeben. Der war mir zu grün.« Sie verzog den Mund. »Offenbar haben Nagetiere den Sack angefressen. Jetzt wird ihn Campbell nie im Leben zurücknehmen.«
»Das waren keine Nagetiere, sondern Ihr Pferd, Mrs. Sullivan.« Andrew ließ die Körner wieder in den Sack rieseln. »Deshalb ist sie so aufgebläht.«
Der Frau klappte der Mund auf. »Ist das denn die Möglichkeit!«
»Wenn Sie eine Spritze haben, kann ich sie ganz schnell wieder auf Vordermann bringen. Wir brauchen nur starken Kaffee und ein bisschen Whisky.«
»Sind Sie nicht ein bisschen zu jung für Whisky?« Dann lachte sie herzlich und umarmte ihn. »Ich mache nur Spaß, mein Junge.«
»Ich hole alles«, bot Lily an und verschwand durch die Scheunentür.
Eine gute Stunde nach Verabreichung des Abführmittels entwichen dem Pferd alle Gase, und der Bauch schwoll allmählich ab. Den ganzen Rückweg zum warmen Haus lächelte die Witwe Sullivan und ließ Andrews Arm vor lauter Dankbarkeit gar nicht mehr los.
Im Wohnzimmer holte sie ihre Tasche herbei und wollte ihm mehrere Geldscheine in die Hand drücken.
»Das ist doch nicht nötig.« Andrew wich zurück. »Ich kann kein Geld von Ihnen annehmen.«
»Doch, das kannst du und wirst du.« Sie packte seinen Ärmel und drückte ihm die Scheine in die Hand. »Du hast gerade dem Pferd das Leben gerettet, deshalb nimmst du dieses Geld, ob du willst oder nicht.« Streng und doch mit großer Zuneigung zeigte sie auf ihn. »Ich habe Geld, mein Sohn. Nicht viel, aber genug, um für Dienste zu bezahlen, die mir erwiesen wurden. Verstanden?«
Widerstrebend nickte er und griff nach seinem Mantel. Als er der alten Frau einen Kuss auf die Wange drückte, kicherte sie wie ein Schulmädchen. »Und bringst du bitte Lily nach Hause?«
Lily runzelte die Stirn. »Ich übernachte doch hier, schon vergessen?«
Mrs. Sullivan löschte das Licht und lächelte listig. »Das ist nicht mehr nötig. Du lässt dich jetzt von diesem netten, jungen Mann heimbringen.«
Forsch, fast schon im Laufschritt, marschierte Lily die Steigung der Straße hinauf und presste dabei ein altes Notizbuch an ihre Brust. Ihr Atem stieg in weißen Wolken in die kühle Nachtluft, während ihre Stiefel auf dem Schotter knirschten. Ein Monat war vergangen seit der Beerdigung, seit ihrem ersten Kuss, und seitdem hatten sie kaum miteinander gesprochen.
Da Neumond war, blieb der Himmel schwarz bis auf vereinzelte Sterne. Andrew legte den Kopf in den Nacken und betrachtete sie. »Ich hab dich in letzter Zeit vermisst. Eigentlich hatte ich gehofft, du würdest mal für eine Lektion im Lesen vorbeikommen.« Ihm fiel wieder ein, was Francine in Pittsburgh ihm beigebracht hatte, und er wurde rot. Glücklicherweise war es dunkel.
»Ich hatte zu tun. Hab Mrs. Sullivan geholfen und so.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu.
Da fiel ihm zum ersten Mal ihr Bluterguss am rechten Mundwinkel auf. Ein Schauer überlief ihn. Er hielt sie auf. »Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?«
Ihre Hand flog an ihre Wange. Sie wandte sich ab und setzte sich erneut in Bewegung. »Nichts.«
Er packte sie am Ärmel und zog sie zu sich. »Hat dich jemand …«
»Nein«, sagte sie. »Niemand hat irgendetwas, klar? Ich war nur tollpatschig und hab mir das Gesicht in der Scheune angeschlagen. Weil ich die Laterne nicht angezündet hatte und nichts sehen konnte.«
Sie entzog ihm ihren Arm und erklärte mit zunehmend schriller Stimme: »Du musst nicht auf mich aufpassen, Andrew Houghton. Klar? Du musst mich nicht nach einer dämlichen Schramme fragen. Du musst mich auch nicht nach Hause bringen. Bisher hab ich alles sehr gut allein geschafft.« Jetzt klang ihre Stimme aufgebracht und zitterte leicht.
»Was ist denn bloß los, Lily?«
»Nichts.« Tränen quollen aus ihren Augen, die sie grob wegwischte. »Es wäre nur besser, wenn du mich in Ruhe lassen würdest.«
Da legte er die Hand in ihren Nacken und küsste sie, spürte die salzigen Tränen auf ihren Lippen. Obwohl ihr Körper und ihre Lippen sich gegen ihn pressten, versuchte sie gleich darauf, sich von ihm zu lösen. Er legte die Hand an ihre Wange, strich ihr durchs Haar, hielt ihren Hinterkopf und küsste ihren Hals. Sie schmiegte sich an ihn.
»Bitte«, flehte sie vergeblich, »lass mich einfach in Ruhe.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.« Als er seinen Arm um ihre Schulter schlang, spürte er, wie sie zusammensackte. »Das werde ich nicht tun, Lilymädchen.«
Als sie ihn umarmen wollte, glitt ihr Notizbuch zu Boden und klappte auf, so dass ihre Bleistiftzeichnungen zu sehen waren.
»Hast du die gezeichnet?«
»Die sind nicht besonders gut.« Lily wollte das Notizbuch aufheben, aber er kam ihr zuvor.
»Darf ich sie mir wenigstens mal ansehen?«
Hastig riss Lily das Buch aus seiner Hand. »Ich hab doch gesagt, sie sind nicht besonders gut.« Sie blätterte die Seiten kurz auf, zeigte ein Tier nach dem nächsten, und klappte es schnell wieder zu. »Bist du jetzt zufrieden?«
»Ja. Sie sind sehr gut.«
Sie schnaubte, doch dann fragte sie zaghaft: »Findest du wirklich?«
»Ja, finde ich, Lily.« Dann wies er auf eine verfallene alte Steinmauer. »Komm, setzen wir uns mal kurz.«
Sie ruhten sich auf den kalten Steinen aus. »Hast du einen Bleistift?«, fragte er. Lily holte einen aus ihrer Tasche heraus und gab ihn ihm. »Darf ich was hinzufügen?«
Sie runzelte die Stirn, klappte aber das Notizbuch auf und legte es auf ihren Schoß. Auf die erste Seite schrieb er das Wort »Reh«, auf die zweite »Hase«, auf die dritte »Habicht«. Jede Seite versah er mit der Bezeichnung des Tiers, das sie dort gezeichnet hatte. Dann gab er ihr den Bleistift zurück. »Da. Deine erste Leselektion.«
Ihre Mundwinkel hoben sich. Wieder sah er den Bluterguss an ihrer Wange, was ihm ein hohles Gefühl im Magen bescherte. Am liebsten hätte er einen sanften Kuss auf die Verletzung gedrückt. Lily strich mit den Fingern über die Buchstaben, die er auf jeder Seite hinterlassen hatte, und bewegte lautlos die Lippen, während sie die Worte formte.
Lilys Unschuld und Schönheit wurden ihm mit einem Mal so bewusst, dass er hochrot anlief. »Ich bring dich besser mal nach Hause, bevor du noch erfrierst«, brachte er mit Mühe hervor. Er nahm ihre Hand, zog sie hoch und verschränkte seine Finger mit ihren.
Den Rest des Weges legten sie eng aneinandergeschmiegt zurück, klammerten sich in der eisigen Luft aneinander und hatten es warm. Lily wandte sich zu ihm. »Du hast noch gar nicht gesagt, warum du zur Witwe Sullivan gekommen bist.«
»Ich wollte dich was fragen.« Plötzlich nervös, umklammerte er ihre Hand noch fester. »Diesen Samstag spiele ich Baseball, und ich dachte, du hättest vielleicht Lust, auch zu kommen. Ich dachte, danach könnte ich mit dir in den Ort gehen.« Er grinste verlegen. »Wir könnten etwas zusammen essen oder was anderes machen, wozu du Lust hättest.«
Vor lauter Freude presste sie die Lippen zusammen. Ihre Wangen glühten. »Willst du dich etwa mit mir verabreden?«
»Sieht so aus.«
Da richtete Lily sich auf und wirkte ein ganzes Stück größer. »Das fände ich sehr schön.«
Vor lauter Erleichterung drückte er ihr einen Kuss auf ihre seidigen Haare und hätte am liebsten sein Gesicht darin vergraben. Am Haus der Mortons angekommen, küsste er sie noch einmal auf den Mund, ganz vorsichtig, um ihr nicht wehzutun. Als er sich von ihr löste, seufzte sie leise.
»Gute Nacht, Lilymädchen. Wir sehen uns Samstag.«
»Gute Nacht, Dr. Houghton«, sagte sie zärtlich. Sie neigte den Kopf zur Seite und sah ihn bewundernd an. »Heute Abend warst du ein richtiger Tierarzt, schon vergessen?« Sie gab ihm einen Luftkuss.
In diesem Augenblick erwachte seine Sehnsucht nach diesem Beruf erneut in ihm. Zwar war er kein Tierarzt, doch vielleicht konnte er dennoch Tieren helfen.