Lily machte sich wieder daran, die Wäsche von Frank zu waschen und zu flicken: sie trockenzuschleudern, zu stärken und zu bügeln, bis ihr Gesicht vom feuchtheißen Dampf glühte. In der hintersten Ecke ihrer Kommode, in einer alten Socke von ihrem Vater, hatte sie ihr Eiergeld gesammelt, ein paar jämmerliche Münzen. Geh einfach weg. Verschwinde von hier, Lily. Hier gibt es nichts mehr für dich. Aber mit dem Geld käme sie kaum weiter als bis Pittsburgh.
An diesem Abend war Frank in die Stadt gefahren, um mit dem Sheriff und ein paar anderen wichtigen Männern Karten zu spielen. Sie würden wieder über den Krieg reden, und Lily war nur froh, dass sie nicht hier im Haus waren. Krieg, Krieg, immer nur Krieg. Sie hatte das Gerede so satt. Wenn sie an die Deutschen dachte, die sie persönlich kannte, passten sie gar nicht in das Bild, das die Männer im Ort von ihnen zeichneten. Da war zum Beispiel Mrs. Mueller, die Claire früher Essen gebracht hatte, wenn sie nicht kochen konnte, weil sie mal wieder verprügelt worden war. Dann gab es Mr. Cossman unten bei der Brauerei, der Mrs. Sullivan immer extra Getreide für ihre Pferde brachte. Und die Kisers. Hörte man Frank reden, waren die Deutschen ein Haufen Wilder, die kein Herz, sondern nur Gewehre hatten und danach gierten, Babys zu töten, Frauen zu vergewaltigen und die Weltherrschaft an sich zu reißen. Aber diese Männer hatten doch auch irgendwo Mütter und Schwestern; sie waren die Söhne, Brüder und Geliebten von irgendjemandem.
Als Andrew ihr wieder in den Sinn kam, wurden ihre Wangen noch rosiger, obwohl der Dampf um sie herum nachließ. Sie versuchte, ihn aus ihren Gedanken zu verjagen und die Erinnerung an seine betrügerischen Küsse und leeren Worte zu verdrängen. Sie war nicht gut genug, und er wusste es, das war die hässliche Wahrheit. Sie hatte keine Tränen mehr, geschweige denn Hoffnung. Lily war für Andrew nur ein Zeitvertreib zwischen den Frauen gewesen, die seine Bedürfnisse befriedigen konnten.
Jetzt stellte sie die Bügeleisen auf den Ofen. Am Küchentisch saß Claire neben der Lampe und nähte Knöpfe an Hemden. Erneut musste Lily an ihr Geld denken; ein Luftzug drang durch die alten Fenster und fuhr ihr über die Schulterblätter. Sie betrachtete ihre Schwester verstohlen, dann setzte sie an: »Ich glaube, dieser Winter wird besonders hart, meinst du nicht auch?«
Claire erschauerte. »Ja, so hart wie noch nie.«
Lily hob eines der Bügeleisen an, spuckte darauf, um die Hitze zu prüfen, und stellte es wieder ab.
»Ich spüre es immer mehr in den Knochen, weißt du?« Claire rieb sich die Fingerspitzen. »Sie sind ganz taub«, fuhr sie fort, dann grinste sie. »Weißt du noch, wie wir als Kinder nur in Kleidern und Stiefeln durch den Schnee tollten? Ich kann mich nicht erinnern, damals die Kälte überhaupt gespürt zu haben. Schon merkwürdig.«
Lily nickte, hob das Bügeleisen und ließ sich von der Hitze, die von ihm ausging, das Gesicht wärmen. »Es wäre schön, in den Süden zu fahren, findest du nicht?« Heimlich warf sie einen Blick zu Claire, um zu sehen, wie sie reagierte. »In Florida ist es das ganze Jahr über warm. Ich hab gehört, dass dort in den Gärten Zitronen- und Orangenbäume wachsen. Es wäre nett, frischen Saft machen zu können, nicht wahr?«
»Ja, das wäre nett.« Ihre Schwester lächelte, ohne den Blick von ihrer Näharbeit zu heben.
Lily hängte ein Hemd über die Stuhllehne und nahm sich das nächste vom Haufen. »Das könnten wir doch machen. Nur du und ich.« Vor lauter Aufregung schien sich ihr Herzschlag zu verlangsamen. »Vielleicht nur für einen kurzen Besuch.«
Claire schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass Frank nicht wegkann. Er hat zu viel mit seinem Geschäft zu tun.«
»Ich weiß. Aber ich dachte, wir zwei könnten fahren. Wäre ja auch nicht für lang.«
Claire blickte auf. Eine Ahnung schimmerte in ihren unschuldigen Augen auf. Aber dann verschleierten sie sich wieder, und sie widersprach heftig: »Nein, es würde Frank nicht gefallen, wenn ich einfach so weggehe. Du weißt doch, wie er sein kann, Lily.« Sie zog die Strickjacke mit den Mottenlöchern enger um ihre Taille.
Da klopfte es an der Vordertür. Claire stand auf und reckte den Kopf, um den Besucher auf der Veranda zu erkennen. »Andrew!«, sagte sie fröhlich. »Und er hat Blumen.«
»Ich will ihn nicht sehen.« Lily warf das Hemd auf den Stuhl und zog sich in eine Ecke zurück.
»Aber er sieht so gut aus, Lil– «
Wieder klopfte es. »Bist du sicher?«, fragte Claire.
»Bitte, schick ihn einfach weg.« Lily drückte sich noch enger an die Wand. Ihre Augen waren schon wieder feucht.
Claire verließ die Küche, dann hörte Lily, wie die Tür zur Veranda laut quietschend aufging. »Ich fürchte, Lily hat jetzt keine Zeit für dich«, murmelte Claire.
Zwar konnte Lily Andrew nicht hören, aber seine Gegenwart erfüllte das ganze Haus und verschlimmerte den Schmerz über das, was er getan hatte.
»B-b-besser, du gehst einfach«, sagte ihre Schwester. »Ich weiß nicht. Ist gut. Mach ich. Danke, Andrew. Grüße an deine Familie.«
Wieder quietschte die Tür. Claire kam in die Küche, ging zu Lily und reichte ihr den Strauß weißer und purpurfarbener Chrysanthemen. Als ihr der würzige Geruch in die Nase drang, lastete die Sehnsucht noch schwerer auf ihrer Brust.
In Claires Miene spiegelten sich Bedauern und Verwirrung. »Warum kränkst du ihn so, Lily? War er gemein zu dir?« Sie wartete auf eine Antwort, doch vergeblich. »Du hättest ihn sehen sollen. Er sah aus, als hätte er seinen besten und einzigen Freund auf der Welt verloren.«
Lily drückte Claire den Blumenstrauß in die Hand. »Da, für dich. Ich will ihn nicht.« Als sie erneut das Bügeleisen nahm, stach ihr der Dampf so in den Augen, dass ihr nun doch die Tränen kamen. In ihrem Bauch bildete sich ein großer Knoten.
Claire holte eine Vase für die Blumen und stellte sie auf einen Beistelltisch. »Hübsch, nicht wahr?«
Lily presste die Hand auf den Mund. »Behalt das Bügeleisen im Auge, Claire.« Ihre Stimme war gepresst. »Ich brauche frische Luft.« Sie eilte nach draußen, vorbei an den kümmerlichen Resten ihres Gemüsegartens. Die Blätter alter Salatköpfe waren vom Nachtfrost durchscheinend wie Spitze. Der winzige Stall neigte sich gefährlich nach rechts, und das niedrige, morsche Dach bot gerade mal Schutz für ihre zwei Kühe. Lily ging hinein und streichelte der schwarzen die Nase.
Sie erinnerte sich noch, wie Frank die Kuh gekauft und wie sie kurz darauf gekalbt hatte. Als Frank das Kalb ein paar Tage später verkaufte, hatte die Mutterkuh vor Trauer fast einen Monat lang gemuht. Lily hatte sich das Kopfkissen auf die Ohren gedrückt, aus lauter Mitleid geweint und sich geschworen, nie wieder eine solche Trennung zuzulassen.
Jetzt presste sie ihre Stirn gegen die der Kuh. »Es tut mir leid.« Sie weinte, das Gesicht in das weiche Fell gedrückt, und spürte, wie die feuchte Nase unter ihrem Kinn schnaufte. »Es tut mir leid, was wir dir angetan haben.« Sie weinte wegen der Kuh und wegen des Kalbs. Sie weinte nicht um das, was ihr im Leben genommen worden war, sondern um das, was sie nie gehabt hatte.
Die Kuh wich schnaubend zurück. Lily wischte sich mit der Schulter die Tränen von der Wange.
»Lily?«
Sie wirbelte herum. Andrew stand im Türrahmen, groß und gutaussehend, und sie wollte nichts mehr, als sich in seine Arme zu werfen. Aber sie wusste, was er getan hatte, und seine Anwesenheit, allein sein Anblick, verursachten ihr Übelkeit.
Langsam trat er auf sie zu. »Du hast ja geweint«, sagte er. Sie schüttelte den Kopf. Andrew begriff nicht, warum sie ihn so hasserfüllt ansah.
»Ich will dich nicht mehr sehen«, zischte sie so böse, dass er schockiert zurückwich.
»Wieso?«, fragte er kalt, ohne sich vom Fleck zu rühren. »Wenn du mich nicht mehr sehen willst, werde ich dich auch nicht mehr belästigen. Aber ich will wissen, warum.«
»Ich hab beim Spiel was gehört, Andrew«, stieß sie hervor und wich seinem Blick aus. »Über dich.«
Ihm fielen wieder die Beleidigungen der gegnerischen Mannschaft ein, aber ihm war nicht klargewesen, dass Lily sie ebenfalls gehört hatte. Doch anstatt für ihn da zu sein und ihn zu unterstützen, hatte sie sich verdrückt. Ihre Illoyalität machte ihn wütend. »Du hast gehört, was sie gesagt haben, und gibst mir die Schuld?«
»Willst du es denn nicht mal leugnen?«
»Was denn leugnen?« Grob fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. Er würde sich nicht dafür entschuldigen, sich oder Peter verteidigt zu haben. »Dass ich mich wie ein Mann verhalten habe?«
Vor Abscheu verzog sie das Gesicht. Neue Tränen stiegen in ihr auf. »Wie konntest du nur?«, stieß sie hervor. »Ein Mann tut so was nicht. Du solltest dich schämen!«
Andrew kochte vor Zorn. Er stemmte die Hand in die Hüfte und starrte auf die zerbrochenen Dachlatten des Stalls. Lily hatte ja keine Ahnung. »Ich will dir mal was sagen«, setzte er schroff an. »Ich würde es jederzeit wieder tun. Wie jeder andere Mann auch.« Er wandte sich zum Gehen. »Und wenn du das nicht verstehen kannst, Lily, dann will ich dich auch nicht mehr sehen.«