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33. Kapitel

Der Winter suchte Pennsylvania heim und scheuchte den milden Herbst wie einen ungebetenen Gast zur Tür hinaus. Die Kühe, Schafe und Schweine wurden in die Ställe gepfercht. Die Hühner wurden in den Stall gesperrt, dessen Fenster so dreckig waren, dass es auch bei hellem Sonnenschein immer dämmrig darin blieb, so dass die Hühner sich weigerten, anständig Eier zu legen. Und die Kisers zogen sich ins Farmhaus zurück, ohne dass ihnen genügend Zeit geblieben wäre, das Haus zu isolieren, ausreichend Holz zu hacken oder altes Laub und Vogelnester aus den Kaminen zu entfernen.

Alles musste gekauft werden, jedes einzelne Lebensmittel musste geholt oder geliefert werden, und Wilhelm blieb nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie ihm seine Ersparnisse durch die Finger rannen.

Als der erste Schnee fiel, hörte es gar nicht mehr auf. Nach einer kurzen Pause fiel er stärker und dichter als zuvor. Die Verwehungen türmten sich an den Hügeln zu weißen Pyramiden auf, und am Farmhaus reichte der Schnee bis zu den Fenstern.

Wilhelm hoffte, den nächsten Einkauf in der Stadt lange genug aufschieben zu können, doch als es immer weiter schneite und kein Ende in Sicht war, wurde ihm klar, wenn er noch weiter wartete, würden sie alle Kiefernzapfen essen müssen. Also packte er sich warm ein, zog Wollmantel und Hut an, lange Unterhosen unter seine Hose und dicke Socken darüber. Dann machte er sich auf den Weg zu dem einzigen Freund, den er hatte: Heinrich Mueller.

Keuchend und Atemwolken ausstoßend, stapfte er durch den kniehohen Schnee, hinunter ins Tal, über den zugefrorenen Bach, zur Hauptstraße hoch. Unter seinen dicken Wolllagen schwitzte er, während seine Nase, sein Kinn und seine Wangen vor Kälte taub waren. Als er hinauf in den stahlgrauen Himmel blickte, trudelten ihm die weißen Flocken entgegen und blieben in seinen Augenbrauen hängen. Wäre er noch ein Junge gewesen, hätte er die Zunge ausgestreckt, um den Schnee zu fangen.

Da noch mehrere Meilen zu gehen waren, schritt er forsch aus, setzte einen Fuß vor den anderen, immer schneller, bis er sich wie gejagt fühlte. Das alte Farmhaus verblasste hinter den großen weißen Flocken, und der wachsende Abstand brachte ihm eine größere Erleichterung, als er sich eingestehen wollte. Kurz dachte er: Ich gehe einfach immer weiter. Er würde bis zu den Gleisen laufen, auf einen Zug springen und so schnell wie möglich verschwinden. Zwar würde er kein Geld haben, konnte aber noch mal von vorn anfangen. Er konnte alles hinter sich lassen, das trostlose Farmhaus, das Schreien der toten Zwillinge, das immer noch manchmal in der Luft hing, Evelines ewige Meckerei und Andrews Unfall. Hoffnung stieg in ihm auf. Noch schneller schritt er aus. Je weiter er sich von der Farm entfernte, desto frischer wirkte die Luft, und er sog sie tief ein und ließ seine Lungen von der eisigen Kälte brennen. Oh, er wollte wegrennen! Jede Faser seines Körpers schrie nach Freiheit: Lauf weg, lauf weg, lauf weg!

Mit einem Mal blieb er stehen und sah sich um: eine einsame Gestalt mitten im Schneetreiben auf einer gottverlassenen Straße. Er betrachtete das weite Land um sich, das auch Möglichkeiten und eine Zukunft bereithielt. Er sah seine Fußspuren im Schnee. Erkannte, dass er wieder zurückgehen musste. Das Grau des Himmels drang in seinen Körper und sickerte in seine Adern wie Abwasser in ein verstopftes Rohr. Da wollte er nicht mehr wegrennen, wollte nicht mehr zusehen, wie die Schneeflocken von einem endlosen Himmel herabtrudelten. Das Grau hüllte ihn ein und trieb ihn weiter zum Haus der Muellers.

»Mr. Kiser, was machen Sie denn hier?« Mrs. Mueller zerrte ihn ins Haus. »Herein mit Ihnen, kommen Sie aus dem Schnee!« Sie nahm ihm den Hut ab und klopfte den Schnee von seinem Mantel. »Heinrich! Mr. Kiser ist hier und unterwegs fast erfroren. Anna, bring heiße Brühe für unseren Gast«, schrie sie durchs Haus.

Wilhelm war gerührt über diese Herzlichkeit, über die Wärme, die ihn einhüllte, und versuchte, nicht an sein eigenes Zuhause zu denken. »Danke, Mrs. Mueller. Ist schon gut. Bin beim Laufen ins Schwitzen geraten.«

»Nein, nein«, protestierte sie. »Ihr Gesicht sieht aus wie eine gefrorene Tomate.« Sie presste ihre heißen Hände an seine Wangen. »Ziehen Sie die Stiefel aus und setzen Sie sich ans Feuer, auf der Stelle. Los, los!« Sie zeigte zum Kamin, als wüsste er nicht, wo der war.

Heinrich kam herein und knöpfte sich eine Wolljacke über dem Flanellhemd zu. »Wilhelm!«

Anna brachte einen Becher dampfender Brühe, die Wilhelm am Kamin entgegennahm, aber er setzte sich nicht, weil er wusste, dass seine Hose noch nass vom Schnee war. Heinrich schlug ihm herzlich auf den Rücken. »Was bringt Sie her, mein Freund?«

Wilhelm erschlaffte. Von dem anstrengenden Marsch fühlte er sich ganz zittrig. Er genoss die Wärme und die Behaglichkeit dieses Hauses. Heinrichs Lächeln schwand, als könnte er in den Augen seines Nachbarn das lesen, was er einst selbst erlebt und längst hinter sich gelassen hatte. Ohne den Blick von Wilhelm zu lösen, rief er seiner Frau zu: »Gerda, bring mal was von dem neuen Bier. Ein Mann braucht was Feurigeres als nur Brühe.«

Gerda lachte. »Peter!«, brüllte sie. »Bring das Bier.«

Heinrich wies auf den Sessel und tat die nasse Hose mit einem Nicken ab, das besagte: Das trocknet schon wieder. Ein paar Minuten später brachte Peter das vertraute alte Fass und stellte es auf dem Tisch zwischen ihnen ab. »Hallo Mr. Kiser«, begrüßte er ihn fröhlich.

»Hallo, Peter«, erwiderte Wilhelm. »Schön, dich zu sehen.«

»Ist Andrew auch da?«

»Nein, die Strecke war schon anstrengend genug für einen.«

»Alles klar. Richten Sie ihm aus, wenn’s nicht mehr schneit, komm ich vorbei, dann gehen wir jagen, ja?«

Heinrich schenkte das Bier aus und wartete darauf, dass Wilhelm zu sprechen anfing.

»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell so kalt wird«, sagte der schließlich. »Ich komme weder mit dem Auto noch mit dem Pferdewagen zur Straße. Deshalb bin ich hier, um Sie um einen Gefallen zu bitten.« Seine Stimme erstarb. Er konnte sich nicht erinnern, je einen Menschen um einen Gefallen gebeten zu haben.

»Ich muss irgendwie in den Ort kommen, um Vorräte für den Winter zu kaufen.«

Lachend winkte Heinrich ab. »Das ist alles?«, sagte er, als wäre das gar nichts. »Morgen fahren wir mit dem Pferdewagen hin, damit kommt man gut durch den Schnee. Wir kaufen alles, was Sie brauchen, und die Jungs helfen beim Tragen. Fritz könnte wahrscheinlich alles allein schleppen.«

Heinrich nahm eine Zigarette aus einem Etui und bot sie Wilhelm an, der jedoch ablehnte. Als Heinrich sie sich ansteckte, wirkte sein altes, runzliges Gesicht jung, trotz der vielen Jahre harter Arbeit. Wilhelm betrachtete das Haus und die gemütliche Einrichtung. Heinrich folgte langsam seinem Blick. »Sie brauchen mehr als nur eine Fahrgelegenheit, oder?«, fragte er.

Wilhelm rieb sich über den Nacken. »Ich bin ein bisschen knapp bei Kasse für den Frühling. Der Winter wird das Letzte von uns fordern.« Seine Stimme war dumpf und leise, weil ihm die Worte fast im Hals steckenblieben. »Ich hab daran gedacht, Morton um ein Darlehen zu bitten. Nur, um das Saatgut und das neue Heu zu kaufen.«

Sein Nachbar nahm die Zigarette aus dem Mund und schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, Wilhelm, machen Sie keine Geschäfte mit diesem Mann. Niemals.«

»Ich weiß. Ich hab das Gerede schon gehört. Aber es wäre nur kurzfristig. Höchstens sechs Monate, bis die Schweine verkauft werden können und die Hühner genügend Eier legen.« Von der Bank würde er kein Geld kriegen, da der Leiter wusste, dass sein Konto leer war. Außerdem würde er einem Deutschen ohnehin nie was geben. Campbell hatte ihm den Kredit im Laden gekürzt. Die Bank und der Laden hatten ihn im Würgegriff und genossen es, wie er sich wand.

»Frank Morton«, sagte Mr. Mueller, neigte seine riesige Gestalt vor und sah ihn durchdringend an. »Kein guter Mann, er hat kein Herz.« Er schüttelte missbilligend den Kopf.

»Aber ich hab doch keine andere Wahl. Außerdem war er nett zu Eveline.« Kaum hatte er das gesagt, spürte er überrascht, wie seine Hände schwitzig wurden. »Seine Frau und seine Schwägerin waren nett zu uns«, berichtigte er sich.

Heinrich starrte auf den Teppich zwischen ihnen. »Ich hab ein bisschen Saatgut, Wilhelm. Nicht viel, aber für einen Hektar reicht es. Daraus können Sie genug Saatgut für das Jahr darauf gewinnen. Das nächste Jahr wird dann hart werden, aber ein Mann muss einige harte Jahre durchstehen. Nehmen Sie das, und nutzen Sie es gut. Wenn nötig, arbeiten Sie im Ort, aber gehen Sie nicht zu Frank.«

»Nein, ich kann Ihr Saatgut nicht annehmen, Heinrich.« Als er protestieren wollte, hob Wilhelm die Hand. »Nein, ich nehme es nicht.« Entschieden richtete er sich auf. »Aber ich denke über das nach, was Sie gesagt haben.«

Bekümmert stand Heinrich auf und klatschte dann abschließend in die Hände. »Aber jetzt essen Sie erst mal mit uns. Mit Bier und etwas Warmem im Bauch ist der Rückweg leichter.«

Wilhelm aß mit der Familie und trank so viel Bier, dass die Gesichter vor ihm verschwammen und die Stimmen zu einem undeutlichen Gewirr zusammenliefen. Er aß selbst gemachte Blutwurst, Spätzle und Brathuhn und hörte erst zu essen auf, als sich sein Hosenbund in den Bauch drückte. Und er lachte. Es fühlte sich an, als hätte er sehr lange nicht mehr gelacht. Er freute sich über die Geschichten und die deutschen Lieder, die Heinrich zum Besten gab.

Als Wilhelm aufbrach, tauchte der Vollmond den Schnee in glitzerndes Blau. Wilhelm war so betrunken, dass er die Kälte nicht spürte und so heftig hin und her schwankte, dass die Fußspuren aussahen, als kämen sie von mehreren Männern. Mit offenem Mantel stapfte er über die Straße, sang aus voller Kehle die Lieder, fühlte sich lebendig vom guten Essen und Trinken und kümmerte sich nicht darum, wie lange es bis nach Hause dauern würde – oder ob er dort überhaupt je ankommen würde.

Doch er erreichte schließlich die Farm, und Eveline wartete auf ihn, im Nachthemd, zitternd vor Kälte und Wut. Wilhelm taumelte in seliger Trunkenheit auf sie zu. Sie erschien ihm so schön, dass er die Lippen spitzte, um sie auf ihre süßen Lippen zu küssen.

Da schlug sie ihm hart ins Gesicht. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, rief sie. »Ich hatte Todesangst, du wärst da draußen erfroren, und jetzt kommst du betrunken nach Hause und stinkst nach Bier und Bratensoße?«

Schlagartig war er nüchtern. Die Lieder und die lockenden Lippen, die Wärme vom gemütlichen Feuer und heiteren Geschichten waren wie weggewischt. Die Kälte hüllte ihn plötzlich wieder ein, und das Kreischen der toten Zwillinge schrillte in seinen Ohren.

Am nächsten Morgen schaufelte Eveline Pancakes auf den Teller ihres Mannes. Sie waren blass und brüchig. In den letzten Wochen hatten sie kaum Eier einsammeln können, und den Teig hatte sie nur mit einem einzigen anrühren müssen. Wilhelms Augen waren blutunterlaufen, und sie wusste, dass ihm der Schädel dröhnte von den Nachwirkungen der Muellerschen Gastfreundlichkeit. Während sie ihm Kaffee einschenkte, überprüfte sie verstohlen, ob man auf seiner Wange noch Spuren ihrer Ohrfeige sehen konnte.

Sie bereute ihren Wutausbruch. Sie war noch nie gewalttätig geworden und wusste selbst nicht, wie sie ihren Mann hatte schlagen können. Ihre Schuldgefühle brannten heiß in ihr, so dass sie keine Entschuldigung herausbrachte. Sie wusste einfach nicht, warum sie so zornig gewesen war. Sie wusste nur, dass sie hier in diesem kalten Haus mit altbackenem Brot zurückgelassen worden war und sich Wills und Edgars Gejammer anhören musste, während Wilhelm es sich im warmen Haus der Muellers mit reichlich Essen gutgehen ließ.

Und dann begriff sie, warum sie ihn geschlagen hatte. Weil dies hier das Leben war, das sie, Eveline, sich für sie alle gewünscht hatte. Aber es war ein Leben, das ihnen manchmal alle Kraft auszusaugen schien. Und sie hatte Panik bekommen, ihr Mann würde nicht zurückkommen – durch einen Unfall oder aus freien Stücken –, und dass sie für immer ganz allein in diesem Haus bleiben müsste. Sie hatte ihn aus Angst geschlagen, er könnte sie verlassen, und die Reue lastete schwer auf ihr.

»Soll Andrew dich begleiten?«, fragte sie schüchtern. »In den Ort?«

Wilhelm schüttelte den Kopf, aß sein fades Frühstück auf und schob den Teller weg. Am liebsten hätte sie ihn umarmt und ihm gesagt, wie leid es ihr tat  – alles. Doch sie nahm nur wortlos seinen Teller und wandte sich ab, sagte ihm nicht mal Lebwohl, als er seinen Mantel anzog und hinausging, um an der Straße auf den Wagen der Muellers zu warten.

Lily schob sich noch tiefer in die Polster des alten Sofas, die von der Sonne ausgebleicht und an den gerundeten Lehnen abgescheuert und ausgefranst waren. In der Küche machte Claire Brot und walkte gleichmäßig den Teig. Frank blieb den ganzen Morgen im Arbeitszimmer.

Es war schon spät gewesen, als Wilhelm Kiser schwankend an die Tür geklopft hatte und laut nach Frank verlangte. Die Männer waren nur kurz verschwunden, gerade lang genug, um Dokumente zu unterzeichnen. Lily war das Herz gesunken vor lauter Mitleid für Will und Edgar und Mrs. Kiser – denn zu Frank kam man nur, wenn man schrecklich in Not war.

Andrew. Der Schmerz breitete sich in ihrer Magengrube aus, die Sehnsucht nach ihm wuchs von Tag zu Tag, und seine Abwesenheit ließ sie lustlos und verloren durch den Tag driften. Sie verdrängte jeden Gedanken an seine markanten Gesichtszüge und wühlte in dem unordentlichen Handarbeitskorb neben dem Sofa.

Sie holte ein Knäuel Wolle heraus, das vor langer Zeit mit Saft von Roter Bete rosa gefärbt worden war. Ihre Stricknadeln fand sie ganz unten auf dem Boden. Mit raschen, ruckartigen Bewegungen schlug sie Maschen auf und begann mit klickenden Nadeln, einen Schal zu stricken.

Oben polterten Franks Schritte über den Boden, hin und her, hin und her. Der Ofen in der Küche klapperte, als Claire Töpfe über den Flammen zurechtrückte. Sanft fiel der Schnee vor den Fenstern und hüllte die blattlosen Büsche in weiße Decken. Und inmitten all dieser Geräusche versank Lily in ihre Strickerei und ließ ihre Finger abwesend Form und Muster gestalten. Auf einmal hielt sie inne und starrte auf die Wolle und die winzige Babysocke, die zwischen ihren gekreuzten Nadeln Gestalt angenommen hatte.

Sie rieb die weichen Knubbel an der Ferse zwischen ihren Fingern. Einen Moment lang erwachte ihr alter Traum wieder zum Leben, sie sah Andrew und das Farmhaus, wo sie putzen und kochen konnte, den großen Apfelbaum, auf den sie früher geklettert war und wo sie zum ersten Mal dem Mann begegnet war, den sie liebte.

Als Frank die Treppe herunterkam, vergrub Lily die winzige Socke tief unter der selbst gesponnenen Wolle.

Der Winter ließ im Haus der Kisers die Zeit stillstehen, jede Minute schien sich zu einer Ewigkeit auszudehnen. Weihnachten verbrachten sie bei den Muellers, doch abgesehen von diesem Tag existierte die Welt nicht außerhalb ihres eisigen Hauses, in das sie sich zum Überwintern zurückzogen.

Abends las Wilhelm die Pittsburg Press, die die Neuigkeiten verkündete: Die Amerikaner waren gut und die Deutschen böse. Andrew und Eveline lasen keine Zeitung. Allein die Schlagzeilen, die Fotos von den Panzern und die Cartoons vom säbelrasselnden Kaiser und seinen Hunnen waren schon düster genug. Sie alle sahen die Listen der Gefallenen, der GIs, die sich einst so bereitwillig gemeldet hatten und die jetzt tot in ihre Heimat zurückkehrten. Doch von den Geschichten über das wilde Blutvergießen sprachen die Erwachsenen nicht, und wenn Will und Edgar da waren, wurde die Zeitung umgedreht oder so gefaltet, dass man nur harmlose Werbeanzeigen für Maytag-Waschmaschinen oder Hawthorne-Fahrräder sah. Die Jungen sollten nichts vom Krieg erfahren. Noch nicht.

Es belastete Andrew, ans Haus gefesselt zu sein, und die Muskeln in seinen Schultern und Schenkeln wurden immer schwächer. Er sehnte sich nach körperlicher Anstrengung und Bewegung. Während der Körper zur Untätigkeit gezwungen war, wurden seine Gedanken immer rastloser. Er verspürte eine quälende Sehnsucht nach so vielem.

Er vermisste seinen Arm und die Tatsache, nur noch die Hälfte dessen schaffen zu können, was er früher geschafft hatte. Er vermisste nun auch wieder stärker seine Eltern, ihr Lachen beim Frühstück und Abendessen an ihrem alten, zerkratzten Tisch, das winzige Holzhaus, dessen Wärme Sicherheit versprach und sie ihre Armut vergessen ließ. Er dachte auch an Lily, und diese Gedanken weckten eine Hitze in seinen Lenden, dass er am liebsten die Wände hochgegangen wäre und seinen Kopf in den Schnee getaucht hätte. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass sie die Männer verteidigt hatte, die ihn beschimpft hatten, dass sie für sie und nicht für ihn Partei ergriffen hatte. Daher schob er seine Sehnsucht beiseite und schaufelte Schnee, schleppte Feuerholz und schrubbte die eiskalten Kuhställe sauber, bis er zu erschöpft war, um noch irgendwas zu denken oder zu fühlen.

Jeden Abend widmete Andrew sich seiner alten Leidenschaft und las Bücher über Veterinärmedizin. Er plante eine bessere Zukunft und hatte immer die Worte seines Vaters im Kopf, als er ihn ermahnte, für die Familie zu sorgen. Aber jetzt hatte er zwei Familien, denn er fühlte sich immer mehr als Mitglied der Kisers. Deshalb lernte er, schrieb Briefe an seine Mutter, in der er ihr ein besseres Leben versprach. Er versuchte, jeden Zweifel daran auszulöschen, dass sein Lernen nutzlos sein könnte.

Während der langen Wintermonate ächzte das Haus von der Kälte und dem eisigen Wind, von der gedrückten Stimmung innerhalb der Wände. Draußen ließ der große Apfelbaum vom Druck des Windes und der Last des Schnees die Äste hängen. Die Spitzen der dürren Zweige reichten bis zum Haus und kratzten über die Fassade mit der abblätternden Farbe.

Und so begann das Jahr 1918, mit unerbittlicher Düsternis und beißender Kälte, die einem bis in die Knochen drang, die Glieder lähmte und alle Hoffnung auf die Rückkehr von Licht und Wärme unter sich begrub.