Lily breitete die Arme im warmen Wind aus. Freiheit. Eine Welt in voller Blüte ließ sie den grauen Winter vergessen. Sie trug ihre goldblonden lockigen Haare offen und ließ eine sanfte Brise hindurchstreichen. Sie trug keine Strickjacke, und ihre Haut zog die Wärme der Sonne regelrecht an. Bevor sie das Haus verließ, hatte sie sämtliche Fenster und Türen aufgerissen, um alle Geister zu vertreiben und den Frühling willkommen zu heißen. Und auch ihr Herz hatte sich geöffnet, für Andrew.
Jetzt ging sie vor der morastigen Einfahrt der Kisers auf und ab und überlegte, wie sie gefahrlos den schlammigen Hügel hinunterkam. Ein falscher Schritt, und sie würde stürzen, hinunter- und direkt ins Wasser rollen.
Andrew hielt sich die Hand wie einen Trichter an den Mund und brüllte über das Rauschen des Bachs hinweg: »Bleib da! Ich hole dich!«
Mit einem breiten Lächeln sah sie ihm entgegen.
Geschickt bahnte sich Andrew einen Weg über den Morast und nutzte dabei Steine und harte Erdhügel. Das war nicht einfach, und mehr als einmal sank er bis zu den Waden ein, bevor er sich wieder befreien konnte. Als er den wild sprudelnden Bach erreichte, suchte er sich die schmalste Stelle und sprang darüber. Auf der anderen Seite war der Morast weniger schlimm, da die Kiefernnadeln wie ein Vlies funktionierten. Schließlich kletterte er den Hang auf Lilys Seite hinauf, stemmte die Hand in die Seite und beugte sich vor, um wieder zu Atem zu kommen. Sein Lächeln war für Lily der schönste Anblick.
Als er wieder ruhig atmen konnte, richtete Andrew sich auf und starrte ihr unverhohlen, fast schamlos in die Augen. Unwillkürlich fuhr sie sich mit der Hand an die Kehle, so viel Leidenschaft lag in seinem Blick. Ihre Augen wanderten zu dem offenen Kragen seines Hemds, unter dem die Haut bereits leicht gebräunt war. Dann glitten sie zu seiner Brust und weiter hinunter zu seiner Taille – worauf sie lachen musste.
Andrew zog eine Augenbraue in die Höhe, als wäre sie verrückt geworden. Aber sie brachte vor lauter Lachen kein Wort heraus und wurde hochrot.
»Was ist?«, fragte er.
Immer noch konnte sie nicht sprechen und zeigte nur auf seine Kleider. Andrew war von der Brust abwärts mit Schlamm bedeckt.
»Das findest du wohl komisch?«, erkundigte er sich mit verschmitzt blitzenden Augen.
Sie nickte nur, musste aber immer noch lachen.
»Und ich bin nur durch den Schlamm gewatet, um dir zu helfen«, sagte er gespielt empört. »Du bist mir vielleicht eine Freundin!«
Jetzt lachte sie Tränen.
»Nun denn.« Er trat näher zu ihr. »Dann schuldest du mir zumindest eine Umarmung, weil du mich gekränkt hast.«
»Nein!«, kreischte Lily und wich zurück. »Halt deinen schlammigen Körper fern von mir!«
Doch Andrew packte sie und zog sie fest an seine schmutzigen Kleider.
»Aah, Andrew!« Sie stieß ihm gegen die Brust und wischte sich den Schlamm von ihrer Wange. »Jetzt sieh mich an!«
»Das wird Sie lehren, einen Gentleman auszulachen, junge Dame.«
»Ein schöner Gentleman bist du!«, sagte Lily vorwurfsvoll, aber ihre heitere Miene strafte den strengen Ton Lügen. »Ich wollte besonders hübsch für dich sein, und jetzt sehe ich aus, als wäre ich aus einem Schweinekoben geklettert.«
Andrew lächelte liebevoll. »Hier«, sagte er und zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche. Sanft wischte er ihr den Schlamm von den Wangen und versuchte, ernst zu bleiben.
»Was ist?«
»Ach, es schmiert nur ein bisschen.«
»Iih!« Sie schnappte sich das Taschentuch und wischte sich selbst übers Gesicht. »Besser?«
»Nein, eigentlich nicht«, scherzte er.
Sie warf ihm das Taschentuch gegen die Brust. »Na, dann bring mich wenigstens zum Haus.« Sie bot ihm ihren Ellbogen. »Dann können wir zusammen so aussehen, als kämen wir aus dem Schweinestall.«
Als sie untergehakt den Hügel hinunterkletterten, berührten sich immer wieder ihre Hüften und Schenkel. Andrews Blick flog zu ihrem Kleid mit den perlfarbenen Knöpfen. Immer wieder lächelten sie einander fast scheu unter gesenkten Augenlidern an, und der Frühling verlieh der Welt einen ganz besonderen Glanz.
Während sie Arm in Arm zum Haus gingen, trocknete die Sonne langsam die Schlammspritzer auf ihren Kleidern. Andrew führte sie zu der schmalen Stelle am Bach und ließ sie los. Er sprang hinüber und streckte die Hand aus, damit sie ihm folgen konnte.
Lilys Arm jedoch war nicht lang genug, daher berührten sich kaum ihre Fingerspitzen. »Lass mich nicht reinfallen, Andrew«, flehte sie.
»Ich lass dich nicht fallen, Lilymädchen.« Er umschloss ihre Finger.
Sie sprang hinüber und klammerte sich an seine Hand. Er strich ihr eine Haarsträhne von der Wange. »Ich würde dich nie fallen lassen. Niemals.«
Junge Triebe drangen zart durch den Boden. Die Tiere der Farm wurden wieder aktiver. Die Kümmerlinge hatten sich zu starken Ferkeln entwickelt, die sich im weichen Schlamm wälzten. Sie waren die Einzigen, die den Morast genossen, der die Kisers plagte. Und so suhlten sie sich grunzend, bohrten ihre feuchten Schnauzen hinein, badeten darin und erfüllten die Farm mit ihrem hinreißend komischen ekstatischen Quieken.
Das Fell der Kühe war glatt und sauber, noch mussten sie sich nicht zuckend gegen die Fliegen verteidigen, die sie in ein paar Monaten ständig belästigen würden. Die Hühner flatterten mit den Flügeln, pickten am Boden auf der Suche nach Körnern und Insekten.
Wilhelm und Eveline entschieden, dass der kleine Will im Frühjahr zur Schule gehen sollte, obwohl es mitten im Schuljahr war. Er hatte ein paar Probleme, sich richtig auszudrücken, und seine Leseübungen fielen immer häufiger aus, weil er Stöcke schnitzen und Eicheln mit Schleudern katapultieren musste. An seinem ersten Schultag versteckte sich der arme Will aus Trotz im Wald, bis er sicher war, dass Anna und Fritz Mueller ihn jeden Tag zur Schule begleiten würden. Fritz brachte seine kleine Schwester ohnehin stets dorthin und ließ sie nie aus den Augen.
In den letzten Wochen hatte Andrew seine Zeit auf der Farm oder im Haus von Mrs. Sullivan verbracht. Er half ihrer Lieblingsstute, ein gesundes Fohlen zur Welt zu bringen, das inzwischen auf wackligen Beinen stand. Zusammen mit Will säuberte und beschnitt er die Hufe der Pferde. Andrews Aufgaben brachten nur wenig ein, aber ihm bedeutete es viel, dass er mit Tieren arbeiten und langsam Geld ansparen konnte, um seine Mutter zu sich zu holen.
Auf der Farm half Andrew Eveline, den großen Garten wieder in Schuss zu bringen. Der Zaun und der Maschendraht lagen verdreht zwischen alten, umgekippten Pfählen, und der rechteckige Bereich war unter einer dicken Laubschicht bedeckt, so dass man erst mal trockene und dann halb kompostierte Blätter wegschaufeln musste, bis man auf fruchtbaren Boden stieß. Edgar harkte, mürrisch, weil er allein war, und schob schmollend die Unterlippe vor, während er das verrottete Laub zur Schubkarre trug. Langsam wurde auch die alte Holzumrandung der erhöhten Beete freigelegt, deren Latten zerbrochen waren und deren rostige Nägel krumm in alle möglichen Richtungen zeigten.
Evelines Kleid war bis zur Hüfte mit Schlamm bespritzt, und sie atmete tief den Geruch feuchter dunkler Erde ein. Sie trug keine Handschuhe und vergrub ihre Finger darin, als sie das welke Laub hochhob und auf den Haufen warf. Man sah, dass das Leben im Sommer reifen und sie durch den Winter bringen würde.
Sobald die Blätterschicht entfernt worden war, fing Andrew an, die Beete zu reparieren, riss die alten Holzumrandungen heraus, fügte sie wieder zusammen oder ersetzte die unbrauchbaren Latten durch neue, die sie noch von der Reparatur der Scheune übrighatten. Edgar hielt die Ecken aneinander, während Andrew die Nägel hineinhämmerte.
Am Abend waren der Garten aufgeräumt und die Beete gesäubert und bereit zum Säen und Pflanzen. In stiller Ehrfurcht standen Eveline und Andrew vor der großen Fläche. In der schwarzen Erde sahen sie Hoffnung, sie stellten sich vor, was hier wachsen würde, und wurden vor lauter Stolz ganz ruhig.
Eveline wandte sich zu ihrem Neffen. In seiner Miene las sie Respekt vor dem Land und eine Liebe zur Natur, worin sie sich wiedererkannte. Sie hoffte aus tiefster Seele, dass Andrew sie nie verlassen würde. Er drehte sich zu ihr und lächelte friedlich. Ihr stockte der Atem beim Anblick dieses jungen Mannes mit den indigoblauen Augen und den markanten Zügen, die keinerlei Unsicherheit mehr zeigten. Vielleicht war er endlich bereit, seine schmerzhafte Vergangenheit hinter sich zu lassen. Als sie dankbar den Kopf an seine Schulter lehnte, schlang er seinen rechten Arm um sie.
Der Brief kam am späten Nachmittag und steckte zwischen der Pittsburg Press und einem Exemplar des Volksblatt und Freiheits-Freunds, der einzig noch zugelassenen deutsch-amerikanischen Zeitung.
Eveline öffnete den dünnen, schmutzig gewordenen Brief, der bereits von der Zensur geprüft und wieder zugeklebt worden war. Er enthielt eine kurze Nachricht von ihrer Schwester, fünf knappe Zeilen.
Eveline las jedes Wort wieder und wieder. Vor dem Küchenfenster stritten zwei Vögel und stürzten sich laut zwitschernd und mit den Flügeln schlagend aufeinander. Vor dieser Geräuschkulisse las Eveline die Nachricht, und jeder knappe Satz war wie ein Tritt in den Magen. Nur zu gerne hätte sie den Brief zerknüllt, aber zuvor musste ihn noch jemand anderer lesen.
Vor dem Fenster, das zur Veranda hinausging, spielten Andrew und ihre Söhne mit ein paar von den Ferkeln. Die Jungen versteckten alte Kartoffeln auf der Rasenfläche und warteten ab, welches Schwein sie zuerst ausgraben konnte. Bei dem Spiel schnüffelten die Schweine unbekümmert um die Jungen herum. Während Will und Edgar lachten, grunzten die Schweine, und mitten im Getümmel stand Andrew und beobachtete die beiden mit einem liebevollen Lächeln.
Eveline ließ die Fliegentür hinter sich zufallen. »Will, Edgar«, rief sie, »es ist Zeit, die Schweine in den Stall zu bringen.«
»Aber Ma!« Will krauste entrüstet die Nase. »Wir haben doch gerade erst angefangen.«
»Ihr habt gehört, was ich gesagt habe. Treibt sie zusammen.«
»Aber …«
Doch Evelines Miene zeigte, dass jeder Widerspruch zwecklos war.
»Na gut«, gab Will mürrisch nach. »Komm, Edgar.«
Andrew beobachtete zurückhaltend den Wortwechsel und wartete, bis die Jungen außer Hörweite waren. Eveline reichte ihm den Umschlag mit dem gefalteten Brief. Er sah sie einen Augenblick lang an, bevor er sich den Worten auf dem Papier zuwandte. Schäfchenwolken zogen über den Himmel, und in der unbehaglichen Stille wippten sacht die Zweige des Apfelbaums.
»Sie hat wieder geheiratet.«
»Ja.«
»Sie sagt, ich solle nicht planen, nach Holland zu kommen.« Andrew biss sich auf die Lippen. »Und dass es besser wäre, wenn ich hierbliebe.« Er hatte seiner Mutter geschrieben, dass er Geld sparte, um sie zu besuchen und sie nach Hause zu bringen. Er hatte ihr auch von der besonderen Frau geschrieben, die er ihr vorstellen wollte.
»Wir haben keine Ahnung, was da drüben los ist«, erklärte Eveline. »Keine Ahnung, was sie jeden Tag zu sehen bekommt, womit sie leben muss.«
Er warf einen Blick auf den Umschlag. »Der Brief ist nicht mal an mich gerichtet«, sagte er verbittert. »Er ist an dich adressiert.«
Wieder stieg Wut über ihre Schwester in Eveline auf; es war unverzeihlich, wie sie ihren Sohn verletzte. »Sie gibt sich die Schuld für alles, was geschehen ist, Andrew«, verteidigte sie sie dennoch. »Weil sie dich zur Eisenbahn geschickt hat. Sie schämt sich und fühlt sich schuldig.«
Er hörte ihr gar nicht zu. »Sie hat wieder geheiratet«, wiederholte er.
»Für Frauen ist es schwer, allein zurechtzukommen.« Sie biss die Zähne zusammen und suchte nach tröstlichen Worten. »Wo doch Krieg ist …«
»Nimm sie nicht in Schutz.« Er gab ihr den Brief zurück. »Lass es einfach.«