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38. Kapitel

Auf den hintersten Feldern wucherte das Fingergras mit seinen breiten Halmen und den braunen, verdorrten Spitzen. Nun, da die Kisers pflügen mussten und die Sommerluft immer heißer wurde, gab es so viel Gras, dass sie den Eindruck hatten, das Land verspotte sie. Zuerst der schlammige Morast, dann wucherndes Unkraut, und nun Gras im Überfluss.

Andrews Stiefel knickten die Halme in alle Richtungen. Die Klänge von Zikaden erfüllten die Luft. Hoch am Himmel stand die Sonne, blendend und heiß, und drückte auf alles unter ihr. Andrew holte seine Kappe aus der Hosentasche und setzte sie sich widerwillig auf, da die Sonne auf seiner Kopfhaut brannte. Als er seinen Daumen unter einen der Hosenträger schob, spürte er, wie Schweiß sein weißes Hemd durchtränkte.

Der Acker vor ihnen war flach bis auf einen kleinen Hügel. Andrew bohrte den Absatz seines Stiefels in den Boden und kickte die kastanienbraune Tonerde hoch. Er kniete sich hin und presste seine Finger hinein. Sie war so weich, dass man daraus etwas hätte formen können. Kein Humus, nicht mal eine dünne Schicht.

Weder Wilhelm noch Andrew hätten vorhersehen können, dass das Pflügen der brachliegenden Felder so mühsam sein würde. Aus der Ferne wirkten sie wie weite, vielversprechende Flächen. Doch wenn man näher hinschaute, sah man die vielen Feldsteine zwischen den tiefen Wurzeln von Baumwürgern, Giftsumach und jungen, spindeligen Eichen.

Der Traktor kam gut voran und stieß immer wieder schwarzen Rauch aus seinem Rohr. Das Motorengeräusch übertönte alles andere und ließ die Krähen und Raufußhühner in Panik aufflattern. Wilhelm und Andrew mussten sich über den Lärm hinweg anschreien, um sich zu verständigen.

Wilhelm fuhr den Traktor mit dem Pflug, dessen Hartmetall knirschend gegen die Steine stieß. Andrew folgte ihm mit der Hacke und kappte die breiten Wurzeln, die noch nicht abgeschnitten worden waren. Innerhalb einer Stunde hatten sich Andrews Ohren an das Dröhnen des Motors gewöhnt. Doch seine Nackenmuskulatur war verhärtet und seine Hand wund und voller Blasen. Dennoch arbeitete er sich durch den Schmerz und den Lärm hindurch, ließ die Sonne auf seinen Rücken brennen und den Schweiß über seine Wangen rinnen. Er ignorierte seine blutende Hand, und die Schmerzen in den Muskeln, Knochen und Gelenken waren unwichtig. Er würde schweigend und klaglos mit Wilhelm zusammenarbeiten, bis sein Onkel entschied, dass die Arbeit für den Tag erledigt war. Denn Andrew hatte gesehen, wie Wilhelm auf dem Markt innerlich zusammengebrochen war. Er hatte mit angesehen, wie sein starker, stolzer Onkel in eine Art Schockstarre versunken war. Also war es ganz egal, dass Andrews Hand blutete, dass er sich fast die Schulter ausrenkte oder ihm vor Durst schwindelig wurde. Andrew würde an der Seite seines Onkels arbeiten, so lange es ging.

Die Maissamen waren bereits vor ein paar Tagen geliefert worden und hätten schon längst ausgesät werden müssen. Andrew fragte nicht, woher der Mais kam oder wie er bezahlt wurde, denn er hatte mit angesehen, wie sein Onkel Frank Morton fast verprügelt hätte.

Auf der Kuppe des Hügels, nachdem sie endlose Reihen von Erde aufgewühlt hatten, schaltete Wilhelm den Motor des Traktors aus, so dass die plötzliche Stille fast drückend war und das Klingeln in Andrews Ohren noch verstärkte.

»Geht ganz schön langsam voran!«, brüllte Wilhelm, weil seine Ohren immer noch taub waren. »Aber Ende der Woche sollte der Mais ausgesät sein. Glaubst du nicht auch?«

Andrew nickte und blickte über die hart erarbeitete freie Fläche.

»Gehen wir erst mal zum Abendessen und machen später weiter. Wir haben Vollmond, also können wir bis spät nachts arbeiten.«

Im Haus stand Lily am Herd, und Andrew freute sich auf eine leckere Mahlzeit. Es gab Brathühnchen und Salzkartoffeln. Aber als Andrew nach dem Servierlöffel griff, glitt er ihm aus den Fingern und fiel klirrend auf den Tisch. Eveline bemerkte seine geschwollenen Finger. »Ach, du liebe Güte. Sieh mal deine Hand an!« Sie wandte sich zu Wilhelm. »Die Schnitte gehen tief ins Fleisch.«

Andrew versteckte die Hand unter dem Tisch. »Nein, ist nicht so schlimm.«

»Nicht so schlimm? Dann zeig mal, wie du eine Gabel halten kannst.«

»Lass ihn, Eve«, befahl Wilhelm. »Das kommt von der Arbeit. Wird schon wieder heilen.«

»Aber bis dahin fährt er den Traktor«, gab sie zurück.

Wilhelm ignorierte sie und spießte seine Kartoffel auf.

»Mir ist es hier drinnen zu heiß. Ich esse draußen.« Andrew wollte weder angestarrt noch bemitleidet werden, also trug er seinen Teller hinaus. Mit seinen wunden Fingern warf er sich die kleinen Kartoffeln in den Mund, obwohl ihm der Appetit eigentlich vergangen war.

Die Fliegentür öffnete sich. Lily setzte sich zu ihm und schlang ihr Kleid um die Beine. Die Glückskatze kam unter einem Azaleenbusch hervorgekrochen und rieb sich an ihren Waden. Lily kraulte sie ausgiebig hinter den Ohren.

»Es wäre besser, du würdest mir nicht beim Essen zusehen«, sagte Andrew. Er starrte auf seinen Teller und lächelte matt. »Ist schon peinlich genug, dass ich meine Gabel nicht halten kann.«

Lily lächelte, nahm ihm den Teller vom Schoß und zog sanft an seinem Handgelenk. Sie griff nach einem runden Döschen in ihrer Rocktasche und drehte den Deckel ab. Vorsichtig nahm sie seine Hand und bog die gekrümmten Finger leicht zurück. Andrew zuckte zusammen, als Lily ihm eine dicke gelbliche Paste auf die rote, rissige Haut auftrug. Zuerst biss er vor Schmerz die Zähne zusammen, aber schon bald linderte das Fett das Brennen seiner Haut, und er entspannte sich. »Was ist das?«, fragte er.

»Hammeltalg.« Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. »Den hab ich im Kartoffelkeller gefunden. Riecht nicht besonders, aber damit spannt deine Haut nicht mehr so.«

Er spürte ihre Finger gleichmäßige Kreise auf seiner Haut ziehen, und er wurde etwas schläfrig davon.

»Ich habe gehört, was passiert ist«, sagte sie leise. »Auf dem Markt.«

Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn Scham überkommen würde, aber so war es, und sie traf ihn hart und plötzlich. Er wollte einerseits nicht, dass sie es wusste, und doch sollte sie ihm versichern, dass alles gut werden würde – und wenn nicht, dass sie dann immer noch da wäre.

»Von wem hast du es gehört?«

»Vom alten Stevens.«

Andrew starrte auf seinen Teller und musste wieder an Wills und Edgars Mienen denken. Er erinnerte sich, wie Eveline geweint hatte, als sie davon hörte. Und an Wilhelms bleiches, erstarrtes Gesicht.

Lily zog die Augenbrauen zusammen und runzelte die Stirn. »Es ist einfach nicht richtig, was die Leute da machen.«

Andrew nahm sich eine längst abgekühlte Kartoffel und kaute sie langsam.

»Hattest du Angst?«, erkundigte sie sich.

»Nein.«

»Hätte ich auch nicht gedacht. Aber du warst wütend. Warst du doch, oder?« Sie grinste. »Ich wette, dir hat das Blut gekocht.«

»Ja, schon.« Aber er grinste nicht, sondern kaute langsam weiter. »Ich bin immer noch wütend.«

»Ich weiß.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn.

Andrew betrachtete sie. Er verdrängte alle düsteren Gedanken, neigte sich zu ihr und küsste sie auf die Wange.

Sie riss die Augen auf, wurde rot und berührte ihre Wange. »Wofür war das denn?«

Jetzt war er nicht mehr müde. Er wollte sie am liebsten hier und jetzt auf den Boden legen und ihren Hals küssen, bis sie sich kichernd unter ihm wand.

Sie starrte ihn an. »Ich möchte dir etwas zeigen.«

Allein ihr Tonfall löste ein Kribbeln in seiner Magengegend aus. »Und was?«

»Iss auf, dann treffen wir uns im Wald.« Sie zeigte auf die Reihe Kiefern, die zwischen den Laubbäumen stand. »Ich warte dort.«

»Ich kann nicht.« Er schüttelte den Kopf, weil er sich jäh in der Wirklichkeit wiederfand. »Ich muss wieder aufs Feld.«

Sie lachte. »Mr. Kiser macht ein Nickerchen auf der Couch. Er ist gleich nach dem Essen eingeschlafen. Ich glaube, du hast ein bisschen Zeit. Außerdem wird es nicht lange dauern.«

Sie strahlte, pflückte eine Pusteblume und steckte sie sich hinters Ohr.

»Nein.« Andrew wedelte missbilligend mit dem Zeigefinger und nahm ihr die Blume ab. »Du bist viel zu hübsch, um Unkraut zu tragen.« Er lehnte sich zurück, pflückte eine gelbe Taglilie und steckte ihr diese hinters Ohr. »So ist es besser.«

Sie berührte die Blüte, stand auf und machte sich auf den Weg in den Wald. Er sah ihr nach, wie ihr leichtes gelbes  Kleid in der Brise flatterte, und wenn er nicht urplötzlich Bärenhunger gehabt hätte, wäre er ihr nachgelaufen.

»Also, wohin gehen wir?«, fragte er, als sie sich einen Weg unter den schattigen Kiefern bahnten.

»Zu einer magischen Quelle.«

»Ich glaube, du hast du viele Märchen gelesen, Lilymädchen.«

»Du wirst schon sehen.« Sie rannte los, und ihre langen Haare wehten im Wind. Sie erinnerte ihn manchmal an ein Geschöpf der Natur. Er gab sein Bestes, mit ihr Schritt zu halten, während sie über den weichen, braunen Nadelboden sauste. Als sie einen Hang hinunterliefen, wurde die Luft so kühl, als befänden sie sich in einer Wolke.

Lily wurde langsamer und blieb schließlich stehen. »Hör mal«, sagte sie leise.

Andrew spitzte die Ohren. Von Ferne hörte er leise ein Rinnsal plätschern. Als sie bemerkte, dass er es hörte, winkte sie ihn weiter. Hinter einer Biegung glitzerte am Fuß eines Hügels ein tiefer Tümpel. Die Felswand war mit nassem Moos bedeckt und glänzte schwarz vom Wasser, das von den Bergen hinunter in die Quelle rann.

Lily spähte in das dunkle Wasser. »Ich weiß nicht, wie tief es ist, aber es ist so klar, dass man ewig hineinstarren könnte.« Sie tauchte ihre Hände ins Wasser, trank einen großen Schluck und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab.

Dort, zwischen Moos, Schatten und zwitschernden Vögeln, schien sie mit dem Wald zu verschmelzen. Für Andrew ließ sie die Welt erscheinen wie ein Stück vom Paradies.

»Gib mir deine Hand.« Sie nahm seine wunden Finger und legte sie langsam auf die Wasseroberfläche, so dass die Kälte sofort in seinen ganzen Körper drang. Sanft drückte sie die ganze Hand unter das eisige Wasser. »Ist das gut?«, fragte sie.

Er nickte. Der Schmerz wurde von der Kälte betäubt und verschwand, während ihre Augen auf ihn gerichtet waren. Sie verschränkten ihre Finger, drückten die Handflächen aneinander, Haut an Haut, warm und kalt zugleich, so dass seine Sinne in Verwirrung gerieten.

Als er ihre Hand näher zu sich zog, kräuselten kleine Wellen die glatte Oberfläche, und dann presste sich ihr Körper gegen seine Brust. Sie hatte überrascht die Augen aufgerissen, aber ihre Lippen teilten sich, und er neigte den Kopf, um sie zu küssen, bevor sie etwas sagte, und spürte ihre Zungenspitze an seiner. Er zog ihre verschlungenen Hände aus dem Wasser, legte seine nassen Finger auf ihren Rücken und fuhr die Wirbel ihres Rückgrats nach. Sie umklammerte mit beiden Händen seine Hüften. Andrew strich mit dem Mund über ihre Lippen, umfasste ihren Nacken, küsste sie inniger und spürte, wie ihr Körper sich an ihn drängte und in seinem Arm ganz weich wurde.

Er wollte sie ergründen und sie berühren. Diese Frau in seinen Armen, an seiner Brust, an seinem Mund hatte etwas Ungebändigtes an sich, und er konnte nicht genug von ihr bekommen. Er wollte sie beim Schlafen beobachten, ihrem Herzschlag lauschen und jedes Wort aufnehmen.

Andrew zog sich zurück, so gebannt war er von ihrer Schönheit. Ihre langen Haare umspielten ihr Gesicht, und die Sonnenstrahlen fielen auf sie, als würden sie magisch von ihr angezogen. Wieder verschränkten sich ihre Hände, Haut an Haut.

Er sah auf einmal, wie sich seine Zukunft vor ihm ausbreitete, wie er älter wurde und gemeinsam mit dieser Frau immer weiter ging. Er wollte nie mehr von Lily getrennt sein. Plötzlich erinnerte er sich wieder an den kleinen grünen Stein in seiner Hosentasche. Er gewann eine ganz neue Bedeutung.

Andrew drängte sich enger an Lily, und auch ihr Körper suchte seine Nähe. Seine Schenkel pressten sich an den dünnen Stoff ihres Kleids. Ihr Haar wehte leicht im Wind und kitzelte seine Wange. Als seine Hand von ihrer Hüfte zu ihrem unteren Rücken fuhr, öffnete sie den Mund. Er neigte den Kopf, drückte seine Lippen auf ihre und schmolz in ihrer Berührung dahin. Ihre Hände strichen seinen Rücken entlang und krallten sich in den Stoff seines Hemds. Er drängte gegen sie, und Lily lehnte sich zurück, immer weiter, und schob ihm ihr Becken entgegen. Er wanderte mit seinem Mund zu ihrem Hals, schmiegte sein Gesicht in die Kuhle, atmete den Duft ihrer Haut ein und wanderte weiter hinunter. Ihre Nägel gruben sich in seine Schulterblätter. Er hörte, wie ihr Atem schneller ging.

Er bewegte sein Becken zwischen ihren Schenkeln. Mit kleinen, flüchtigen Stößen drängte er sich gegen ihre stoffbedeckten Leisten, und mit klopfenden Herzen drückten sie sich immer enger aneinander.

Beim Klang einer fernen Glocke verstummten die Vögel. Lily schloss die Augen und senkte den Kopf, so dass ihre Stirn sich an Andrews Mund schmiegte. Seufzend versuchte sie, das erneute Läuten der Glocke zu ignorieren.

Andrew ließ stöhnend seine Stirn an ihren Hals sinken, als hätte er Schmerzen. Lilys Brustkorb hob und senkte sich. Sie hatte die Augen geschlossen und schluckte hart. Er lächelte und strich ihr mit seinen kühlen Fingern über die Wange. »Ich schätze, da ruft dich jemand nach Hause.«

»Ich hasse diese Glocke«, sagte sie gequält. »Wenn ich sie höre, komme ich mir vor wie eine Fünfjährige.«

»Oder wie eine Kuh, die sich verlaufen hat.«

Kichernd ließ sie den Kopf an seine Brust sinken. Dann hob sie das Gesicht und küsste ihn. Er schlang ihr den Arm um die Schulter und sagte scherzend: »Komm schon, Bessie. Ich führe dich nach Hause.«