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39. Kapitel

Eine Woche später waren die Schreie des kleinen Will bis auf die Hauptstraße zu hören. Lily befand sich gerade auf dem Weg zur Witwe Sullivan und hörte ihn als Erste. Sie stellte ihren Eierkorb ab, raffte ihr Kleid und rannte los.

Nach ein paar Hundert Metern kam ihr der Junge entgegen und drückte sein Gesicht in ihren Rock. Sie löste seine Hände daraus, kniete sich hin und blickte in sein von Panik erfülltes Gesicht. »Was ist los, Will?«

»Ich muss Andrew holen«, schnaufte er außer Atem. »Meine Beine können nicht mehr laufen«, sagte er weinend und knickte ein. »Andrew muss kommen!«

Will musste etwas Schreckliches mit angesehen haben, sein entsetzter Blick weckte Kindheitserinnerungen in Lily. Der Gürtel, ihre Schwester, Claires flehender Blick, ihre stumme Aufforderung, wegzurennen und sich zu verstecken. Und doch war sie wie angewurzelt stehen geblieben und hatte zugesehen. Erst als es vorbei war, brach der Bann, und sie fand die Kraft zu fliehen, in den Wald zu rennen und sich auf die verwelkten Blätter zu übergeben, die den Boden bedeckten.

Hitze stieg in ihr empor und staute sich in ihrem Kopf. Sie schmeckte Galle in ihrem Mund. Sie hätte ihren Vater aufhalten müssen, doch hatte sie nicht gewusst, wie. Als sie daran dachte, zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen.

Will drückte sich zitternd in ihre Arme. Nein. Diesmal nicht. Sie würde sich nicht mehr verstecken.

Lily richtete sich auf. »Du gehst zu Mrs. Sullivan und bleibst dort, bis ich dich holen komme«, befahl sie energisch. »Ich suche Andrew. Verstanden?« Will nickte.

Lily rannte so schnell los, dass der Schotter unter ihren Stiefeln aufspritzte. Aber diesmal floh sie nicht vor dem Grauen, sondern rannte direkt darauf zu. Was hatte Will so verstört? Als sie die Kühe an der Grundstücksgrenze der Kisers bemerkte, wusste sie, dass Andrew nicht weit sein konnte. »Andrew!«, schrie sie. Sie holte tief Luft und rief noch einmal nach ihm.

Die Sonne brachte sein weißes Hemd zum Leuchten, als er, mit dem Hut in der Hand, von der unteren Weide zu ihr lief. Sie bückte sich und schob sich mit vor Anstrengung zitternden Knien unter dem Zaun hindurch. »Irgendwas stimmt nicht, Andrew. Wir müssen zu Will.«

Gemeinsam rannten sie die steile Straße hinauf und weiter zum Haus der Witwe Sullivan. Will saß auf den Stufen der Frontveranda, und Mrs. Sullivan drückte ihn fest an sich. Als Will sie kommen sah, wischte er sich die Tränen weg. »Andrew!« Er löste sich von der alten Frau, rannte zu ihm und umklammerte sein Bein.

»Was ist denn, Will? Was ist passiert?«

»Wir waren auf dem Rückweg von der Schule, und da sind diese Jungs gekommen, aber schon viel älter als ich«, stöhnte er. »Sie fingen an, uns zu beschimpfen und Fritz zu schubsen.« Er rang keuchend nach Luft und zog schniefend seine laufende Nase hoch. »Sie haben Anna die Haare vom Kopf gerissen«, schluchzte er und verzog gequält das Gesicht. »Überall waren Haare, flogen in der Luft herum. Sie haben sie vollkommen zerfetzt.«

»Ist sie verletzt?«

Will schüttelte den Kopf. »Nein. Aber sie lag auf dem Boden und hat geweint. Ihr Kopf war ganz weiß und nackt.« Er heulte wieder auf und klammerte sich an Andrews Hand. »Fritz hat versucht, sie aufzuhalten. Er hat es versucht, aber sie haben ihm ganz schrecklich weh getan.«

Andrew fuhr das Grauen in die Glieder. Um ihn herum drehte sich alles. »Wo sind sie jetzt?«

»Unten am Bach an der Schule. Anna versteckt sich. Sie weint ganz schrecklich. Ich hab noch nie jemanden so heftig weinen sehen. Ohne Haare will sie nicht rauskommen. Sie versteckt sich, damit niemand sie sehen kann. Die Jungen haben Fritz in den Wald gejagt und ihm ganz schlimm weh getan. Ich konnte ihn schreien hören.« Mit weit aufgerissenen Augen blickte er schuldbewusst zu Andrew hinauf. »Ich wollte sie nicht alleinlassen, das schwöre ich, aber ich wusste nicht, was ich machen sollte.«

Andrew umarmte ihn. »Du hast das Richtige getan, Will.«

Da trat die Witwe Sullivan zu ihnen. »Nimm meinen Einspänner«, sagte sie entschieden. »Ich sorge dafür, dass der Junge sicher nach Hause kommt.«

Lily eilte zum Stall, schirrte das Pferd vor den kleinen Wagen, brachte ihn zum Tor und kletterte auf den Sitz. Schweigend fuhren sie los, jeder versunken in seine eigenen Gedanken über eine Welt, die außer Kontrolle zu geraten schien.

Als das Schulhaus auf der anderen Seite des Hügels in Sicht kam, legte Lily Andrew die Hand auf den Arm. »Stell ihn da ab«, sagte sie und zeigte auf die entsprechende Stelle. »Ich weiß, wie man von hier aus zum Bach kommt.«

Andrew und Lily gingen geduckt unter tief hängenden Ästen hindurch und wichen dabei Spinnweben und knorrigen Wurzeln aus. »Anna?«, rief Andrew. »Anna, bist du hier?«

Hinter einer alten Eiche hörten sie jemanden schniefen. Andrew lief zu der Stelle, schlang den Arm um das kleine Mädchen und hob es auf seine Hüfte. Anna versteckte ihr Gesicht an seinem Hals. Überreste ihrer Perücke lagen wild auf dem Boden verstreut. Das kleine Mädchen weinte sich an seiner Schulter aus. »Du bist jetzt in Sicherheit, Anna«, flüsterte er ihr ins Ohr und wiegte sie sanft.

Lily senkte ihr Gesicht, Wut und Mitgefühl machten sich in ihr breit. Sie lehnte sich zitternd gegen einen dicken Baumstamm. »Lily«, sagte Andrew fast unhörbar, so als wollte er das Kind in seinem Arm nicht erschrecken. Als sie aufblickte, bedeutete er ihr mit dem Kopf, dass sie näher kommen sollte.

Anna schluchzte. »Sie haben Fritz weh getan.«

»Wo ist er denn?«

Sie zeigte zum Wald, und da konnte Andrew schemenhaft seine breiten Schultern und seinen gekrümmten Rücken sehen. Fritz saß, leicht vor und zurück schaukelnd, im dornigen Unterholz. Andrew reichte Lily die Kleine, die sofort ihre Beine um Lilys Taille schlang.

Andrew drang tiefer ins Unterholz vor und achtete nicht auf die Dornen, die an seinem Hemd rissen. Mit Mühe erreichte er den riesigen Jungen, der sich ins Gebüsch zurückgezogen hatte. Auf dem Rücken war Fritz’ Hemd in lang gezogene Fetzen gerissen, und darunter sah man blutige Striemen. Auf seinem Schoß lagen lange, blutige Weidenruten. Andrew berührte Fritz an der Schulter und schlich, als keine Reaktion kam, vorsichtig um ihn herum. Aber beim Anblick des vielen Bluts hielt er abrupt inne.

Er schluckte und fragte bemüht ruhig: »Wie schlimm bist du verletzt, Fritz?« Wie aus einem Traum erwacht, hob Fritz den Kopf und blickte ihn an, als könnte er Stimme und Bild nicht zusammenbringen.

»Gar nicht verletzt.« Heftig schüttelte er den Kopf, hin und her, schaukelte dabei aber weiter vor und zurück. »Fritz ist nicht verletzt. Anna ist verletzt.«

Andrew sah sich sein blutüberströmtes Gesicht an und seufzte erleichtert auf. Das Blut stammte von einer Wunde an der Stirn, und Fritz hatte es ungehindert über die Augen und die Wangen rinnen lassen. Davon abgesehen war seine Lippe angeschwollen und einer seiner Zähne ausgeschlagen. Andrew wusste, dass es viel schlimmer hätte kommen können.

»Du musst mir jetzt zuhören«, sagte Andrew ernst, aber mitfühlend.

Der Junge schüttelte den Kopf und schaukelte, wie gefangen in seinem Traum, weiterhin vor und zurück.

»Anna geht es gut«, versicherte Andrew ihm. »Aber sie hat Angst um dich.«

Er hob den Kopf. »Fritz ist nicht verletzt.«

»Ich weiß.« Er blickte Fritz direkt in die Augen, damit er begriff. »Ich weiß. Aber du hast eine Menge Blut an dir, und das wird deine Schwester erschrecken. Wir gehen jetzt zum Bach und waschen das ab. Und dann gehen wir zu Anna, und es wird ihr gleich besser gehen.«

Wie ein schlafender Riese erhob sich Fritz und folgte Andrew durch das dornige Gebüsch hinunter zum Bach. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht und schaute Andrew an. »Besser?«

Er nickte. Fritz war nicht mal anzumerken, dass er Schmerzen von den Striemen auf seinem Rücken haben musste. Sie gingen zu der Stelle, wo Lily und Anna saßen.

»Fritz!« Anna stürzte zu ihrem Bruder und schlang ihm die Arme um den mächtigen Leib.

»Fritz ist nicht verletzt.«

Sie lächelte zu ihm hinauf und versuchte, sein Gesicht zu berühren, aber er war zu groß. Als er sich zu ihr bückte, sah sie sich genau die Wunde und seine geschwollene Lippe an. Ihr Kinn zitterte. »Du hast ja einen Zahn verloren!«

Fritz grinste breit. »Sieht verwegen aus, oder?« Das kleine Mädchen umarmte ihn noch fester.

»Wir sollten nach Hause fahren«, riet Andrew. Es beunruhigte ihn, dass die Angreifer noch irgendwo in der Nähe sein könnten. Er warf einen Blick zu Lily und fragte sich, wozu die jungen Männer noch in der Lage wären, wenn sie schon so grausam gewesen waren, einem Kind die Perücke wegzunehmen. Allein die Vorstellung ließ heiße Wut in ihm aufsteigen. Eines war gewiss: Er würde nicht zulassen, dass man Lily weh tat. Niemals.

Lily fasste Anna an den Schultern, aber die Kleine wich zurück. »Ich kann nicht hier weg«, weinte sie. »Meine Haare.«

Da holte Lily ihr blaues Taschentuch hervor, breitete es über Annas Kopf und band es hinter ihren Ohren zusammen. Sie umfasste ihre nassen Wangen und fragte: »Besser?«

Vorsichtig berührte Anna den Stoff und nickte. Lily streckte die Hand aus, zog Andrews Taschentuch aus seiner hinteren Hosentasche und schlang es sich selbst um den Kopf. »Meins ist zwar nicht so hübsch wie deins, aber ich würde sagen, wir sehen ziemlich gut aus.« Sie warf Andrew ein Lächeln zu. »Was meinst du?«

Er musste unwillkürlich lächeln. »Ich finde, ihr seid die hübschesten Mädchen, die ich je in meinem Leben gesehen habe.«

Im Einspänner nahmen Andrew und Lily Anna in ihre Mitte, damit sie sich sicher und beschützt fühlte. Fritz saß schweigend auf der Rückbank.

»Da ist Peter!«, rief Anna und streckte den Arm aus. Sie sahen, dass Peter ihnen mit großen Schritten entgegenlief.

»Lasst mich zuerst mit ihm reden.« Andrew hielt den Wagen an, übergab Lily die Zügel und sprang vom Kutschbock.

Peter stürmte auf sie zu. Andrew stellte sich ihm in den Weg und legte ihm entschieden die Hand auf die Brust, doch Peter schlug sie weg. »Was haben die Bastarde mit meiner Schwester gemacht?«, schrie er und versuchte, sich an Andrew vorbeizuschieben.

»Warte!« Andrew packte ihn grob am Arm. »Sie haben sowieso schon genug Angst, da musst du jetzt nicht auf sie losgehen. Beruhige dich erst mal. Okay?«

Peters Gesicht war knallrot, aber er gab nach und biss sich auf die Unterlippe.

»Sie erholen sich schon wieder.« Andrew ließ den Arm seines Freundes los und fügte leise hinzu: »Fritz hat eine Wunde an der Stirn, aber die ist nicht so schlimm.«

»Und Anna?«, fragte Peter noch einmal. »Gott steh mir bei, wenn sie ihr weh getan haben!«

»Sie haben ihr die Perücke weggenommen, aber sie sonst nicht angerührt. Sie wollte nur nicht, dass man sie ohne Haare sieht. Deshalb hat sie sich versteckt.«

Peter verzog das Gesicht, um seine aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. Wutentbrannt raufte er sich die Haare und wandte sich halb ab. Schließlich ließ er die Hände sinken und packte Andrew am Kragen. »Wer zum Teufel war das? Wer zum Teufel tut das einem kleinen Mädchen an?«, zischte er.

Andrew löste Peters Finger von seinem Hemd. »Die Leute können im Moment nicht klar denken, und das weißt du auch.« Er senkte die Stimme und sagte schroff: »Aber du musst jetzt einen klaren Kopf behalten, hörst du? Ich weiß, du bist aufgebracht, das bin ich auch.«

»Aufgebracht?« Peter wollte losbrüllen, knurrte dann aber nur: »Wenn du glaubst, ich würde nur danebenstehen und zulassen, dass man meiner Familie so etwas antut, dann kennst du mich schlecht.«

Andrew straffte die Schultern und blickte ihm direkt in die Augen. »Ich sage ja nicht, dass du gar nichts unternehmen sollst. Ich sage nur, wir müssen uns das alles gut überlegen.«

»Wir?« Unsicherheit schlich sich in Peters eben noch so scharfe Stimme. »Aber dich geht das doch gar nichts an.«

»Doch, das tut es. Und das weißt du auch.«

Andrew setzte alle am Haus der Muellers ab und sah zu, wie Peter Anna hineintrug, während Fritz’ riesige Gestalt einen Schatten auf den schmalen Weg warf. Dann wendete er den Einspänner auf der Straße und brachte Lily nach Hause. Das Zirpen der Grillen drang aus den Goldrauten, die an der Böschung neben der Straße wuchsen.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte Lily schließlich.

»Das weiß ich nicht.« Als er ihren Blick spürte, drehte er sich kurz zu ihr und sah sie an. »Peter will sich rächen, glaube ich.«

»Bitte lass dich da nicht mit reinziehen.« Vor lauter Angst wurde ihr ganz flau. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir was zustoßen würde.«