Andrew kletterte die schmale Leiter hinauf, bis er die unteren Äste des Apfelbaums erreicht hatte. Der Pilz, der im Frühjahr aufgetaucht war, hatte sich auf mehrere Äste ausgebreitet und brach mit seinen harten, schwarzen Knoten die Baumrinde auf. Andrew lehnte sich an den Baum und entfernte mit der Handsäge die betroffenen Äste.
Da hörte er von unten ein Rascheln. Lily nahm die abgeschnittenen Äste und zerrte sie zu einer Ecke des Zauns, um sie dort auf den Gehölzhaufen zu werfen. Andrew stieg die Leiter herunter, legte die Säge weg und wischte sich mit dem Handrücken das Sägemehl von der Stirn.
Lily warf die letzten Äste auf den Haufen und wartete, bis Andrew zu ihr kam. Als er nahe bei ihr war, spürte er die aufgeladene Luft zwischen ihnen.
»Ich muss dir was geben.« Sie reichte ihm eine weiße Schachtel mit einem goldenen Stempel auf dem Deckel. »Für Peter. Oder besser gesagt, für Anna.«
»Wieso gibst du ihr das nicht selbst?«
»Mir wäre lieber, sie wüssten nicht, dass es von mir kommt. Ich weiß, was sie von Frank und mir halten.« Sie schluckte. »Ich glaube, dann würden sie es nicht annehmen.«
Lily antwortete nicht, sondern wartete nur ab. Als er den Deckel anhob, dachte er zuerst, er sähe den Kopf einer großen Puppe, doch als er es herausnahm, erkannte er eine braune Perücke, gerade groß genug für ein Kind.
»Ich weiß, dass die Muellers kein Geld für eine neue haben. Jedenfalls nicht jetzt, wo ihnen die Konten gesperrt werden. Perücken sind sehr teuer, die guten jedenfalls.«
»Und wie konntest du dir diese hier leisten?«
»Ich hatte ein bisschen Geld beiseitegelegt für eine Reise. Die mir jetzt ziemlich abwegig vorkommt.« Sie strich sich eine Strähne aus den gesenkten Augen. »Würdest du sie ihr geben?«
Er betrachtete Lilys Profil, die helle Haut, die geschwungene Wölbung der Stirn, die gerade Linie ihrer Nase bis zu den geschwungenen Lippen. Er verlor sich in diesem Anblick und konnte seine Augen nicht von ihr lösen. Schließlich brachte er nur drei Worte hervor.
»Das werde ich.« Lily lächelte traurig und winkte kurz zum Dank, bevor sie wieder ging.
Gerda Mueller beugte sich über ein Spinatbeet und riss so heftig am Unkraut, dass ihr riesiges Hinterteil hin und her wackelte. Andrew räusperte sich laut. Gerda wirbelte herum, die Hände immer noch halb im Beet vergraben, und lachte: »Oh, Andrew! Na, das ist eine Begrüßung, wie? Mein Po, der dir zuwinkt?« Sie schmiss die Pflanzen auf den Boden und wischte sich die Hände an ihrem Rock ab. »Willst du Peter besuchen?«
»Ja, Ma’am.« Er trat zu ihr zwischen die Gemüsepflanzen und betrachtete die gleichmäßigen, langen Reihen. »Sie haben den großartigsten Garten, den ich je gesehen habe, Mrs. Mueller.«
Daraufhin schlang sich ein massiger Arm um seine Schultern, und ein nasser Schmatzer landete auf seiner Wange. »Andrew Houghton! Du bist ein alter Charmeur.« Sie kniff ihn genau dort in die Wange, wo sie ihn geküsst hatte. »Guter Mann!«
»Ah, Ma!« Peter trug ein Pferdegeschirr über der Schulter, und an seinem Unterarm hingen mehrere Hufeisen wie ein Armband. »Hör auf, unsere Nachbarn zu verletzen!«
Sie lachte, drückte Andrew herzlich an sich und versetzte ihm einen Stoß gegen die Brust, dass ihm die Luft wegblieb. »Ach was! Du bist doch stark, oder nicht?«
»Ja, Ma’am«, antwortete er hastig und machte sich darauf gefasst, dass sie ihn noch mal küssen oder schlagen wollte.
Peter legte Geschirr und Hufeisen ab. »Ma, lass Fritz nicht mehr die Pferde beschlagen. Der Idiot hat die Hufeisen falsch herum angebracht.«
»Du sollst ihn nicht so nennen, Peter!«, schalt sie. »Fritz ist ein guter Junge.«
»Mag ja sein, trotzdem hat er die Hufeisen falsch herum angebracht.«
»Na gut.« Sie verscheuchte ihn mit einer Handbewegung, als wäre er eine Pferdebremse. »Jetzt ab mit euch. Muss mich wieder an die Arbeit machen. Da wächst Gras zwischen meinen Wassermelonen.«
Andrew und Peter gingen zur Straße, hinter der man auf den weiter entfernten Weiden einen offenen Schweinepferch nach dem anderen sah. Andrew griff hinter ein Whiskyfass, das zu einem Blumenkübel umfunktioniert worden war und wo er die Schachtel versteckt hatte, und reichte sie Peter.
»Was ist das?«, fragte der und hob den Deckel an.
»Für Anna.« Andrew blieb stehen und blickte zurück zu Mrs. Muellers gebückter Gestalt. »Von Lily.«
Sofort streckte ihm Peter den Karton entgegen. »Dann will ich das nicht.«
Andrew schob es zurück. »Es ist für Anna. Nicht für dich.«
»Wir brauchen nichts von den Mortons«, stieß Peter hervor. »Nimm es zurück, oder ich gebe es den Schweinen.«
»Hör mal«, setzte Andrew zu Lilys Verteidigung an, »ich weiß nicht, was du gegen die Mortons hast, aber Lily hat niemandem etwas getan. Das hier hat sie von ihrem eigenen Geld für Anna gekauft. Und erinnerst du dich noch an die Sache mit Mary Paulson? Du hast gesagt, Lily hätte all ihre Sachen bei der Auktion gekauft. Das stimmt zwar, aber sie hat sie alle zu Mary geschickt.«
»Behauptet sie«, entgegnete Peter sarkastisch.
Andrew trat einen Schritt auf seinen Freund zu und sagte warnend: »Das reicht.«
Daraufhin schloss Peter seufzend die Augen, ließ den Kopf sinken und setzte sich ins Gras. »Ich weiß, es ist nicht ihre Schuld«, räumte er ein. »Ich bin nur so verdammt wütend, dass ich nicht mehr weiß, an wem ich das auslassen kann.«
Er biss die Zähne zusammen und starrte auf das makellose Farmhaus inmitten der grünen Weiden, an dessen Steinfundament rosa und rote Rosen wuchsen. »Ich habe es so satt, der böse Deutsche zu sein und immer mehr zur Zielscheibe zu werden.«
Er nahm einen Stein und bohrte ihn in die weiche Erde. »Im Ort haben wir keinen Kredit mehr. Wir dürfen uns nicht mal auf dem Markt blicken lassen, jedenfalls nicht mit unserem Namen auf dem Wagen. Und dann …« Ihm brach die Stimme, und er schüttelte heftig den Kopf. »Dann verprügeln sie meinen Bruder und quälen Anna.« Er umklammerte den Stein so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Andrew lehnte sich an den Zaun, weil ihm allein von der Erinnerung schon wieder flau im Magen wurde.
»Dieser Krieg macht die Leute so reizbar«, sagte Peter. »Und sie suchen nach einem Sündenbock.« Er senkte vertraulich die Stimme. »Pa hat Geld nach Nürnberg geschickt. Wir haben Verwandte da, die jetzt an vorderster Front für den Kaiser kämpfen. Es bricht Pa das Herz, dass seine Geschwister ihre Kinder in den Krieg schicken müssen und kaum was zu essen haben. Aber ob es nun da drüben eine Hungersnot gibt oder nicht, ich finde, er sollte ihnen kein Geld schicken, und das habe ich ihm auch gesagt.« Jetzt wirkte er viel älter, als er eigentlich war. »Wenn das jemand rauskriegt, müssen wir dafür büßen, darauf kannst du wetten. Sie werden sagen, dass das Verrat ist. Aber Pa will ja nichts davon hören.« Peter legte den Kopf schräg. »Weißt du eigentlich, dass meine ältere Schwester mit einem Mennoniten verheiratet ist?«
Andrew schüttelte den Kopf.
»Er sagt, wenn er einberufen wird, weigert er sich, weil Gottes Gebot lautet: Du sollst nicht töten. Weißt du, was man Mennoniten antut, die sich verweigern?« Er schwieg kurz. »Man prügelt ihnen die Eingeweide aus dem Leib, foltert sie und wirft sie ins Gefängnis.« Peter stieß den Stein in die Erde. »Das wird meine Schwester nicht überleben, wenn ihm jemand so was antut.« Er warf einen Blick auf Lilys Geschenk. »Ich weiß, dass Lily nichts damit zu tun hat, aber Frank Morton schürt das Feuer. Er veranstaltet ständig Treffen der American Protective League im Ort, die nur ein Haufen Hitzköpfe mit billigen Blechmarken sind und behaupten, sie müssten ein Auge auf die Deutschen haben und sie im Zaum halten.« Jetzt schlich sich Angst in Peters Blick. »Wenn die herauskriegen, dass Pa Geld nach Deutschland geschickt hat, werden sie ihn fertigmachen. Und deinen Onkel vielleicht auch.«
Andrew hockte sich auf seine Fersen. »Das werden wir nicht zulassen, Peter.« Seine Stimme war ruhig und entschlossen. »Das weißt du.«
»Ja, allerdings.« Peter sah ihn nun direkt an. »Weil ich mich verpflichten werde.« Er stand auf und schleuderte den Stein zwischen die Bäume. »Ich kann meine Familie nur beschützen, indem ich Soldat werde.«