Andrew und Wilhelm überprüften gerade das dichte Heu, um zu sehen, ob es geerntet und gebündelt werden konnte, als Wilhelm innehielt und über den Hügel blickte. »Sieht so aus, als hätten wir Besuch.« Zwei Männer, darunter ein Polizist, kamen die Steigung heraufgeschnauft.
»Officer«, begrüßte Wilhelm den Polizisten.
»Mr. Kiser? Ist dies Ihr Sohn?« Er zeigte auf Andrew.
»Mein Neffe.« Wilhelms Stimme war ungewöhnlich tief, und er verschränkte die Arme und baute sich breitbeinig auf, als wollte er fragen: Was zum Teufel machen Sie auf meinem Grundstück?
»Das ist Mr. Simpson von der Bank. Und er sagt, Ihr Junge hätte seinen Sohn verprügelt.«
Mr. Simpson schwieg, musterte Andrew und bemerkte offensichtlich erstaunt, dass er nur einen Arm hatte. Er wirkte plötzlich sehr zornig, vielleicht weil sein Sohn sich von einem Krüppel hatte verprügeln lassen.
»Hab ich schon gehört«, sagte Wilhelm und nickte. »Offenbar war Ihr Junge betrunken, Mr. Simpson, und hat einer jungen Dame ziemlich zugesetzt. So wie ich’s gehört hab, hatte er es also verdient.«
Der Officer und Mr. Simpson wechselten einen vielsagenden Blick. »Normalerweise würde ich Ihnen da zustimmen, aber deswegen bin ich nicht hier.«
Die Sonne brannte heiß auf ihren Rücken, um sie herum hörten sie das Geräusch von umherspringenden Heuschrecken. Der Polizist rollte einen Stein unter seinem Fuß. »Anscheinend gab es auch Wortgefechte bei dem Kampf.« Er sah Andrew durchdringend an. »Es fielen unpatriotische Äußerungen.«
»Was?« Andrew trat einen Schritt vor, aber sein Onkel hielt ihn zurück und sagte: »Nun reden Sie nicht um den heißen Brei herum, Mr. …?«
»Tippney. Sheriff Tippney.«
»Nun, Sheriff, ich erwarte, dass Sie sofort damit rausrücken, was Sie meinem Neffen vorwerfen, damit wir uns wieder an unsere Arbeit machen können.«
Mr. Simpson ergriff das Wort. »Ihr Sohn … Ihr Neffe … behauptete, es wäre nur eine Frage der Zeit, dass Deutschland den Krieg gewinnt. Er sagte, als Nächstes würde der Kaiser nach Amerika kommen, und er wäre der Erste, der ihm die Hand schütteln würde. Er meinte, es sei eine Ehre, einen deutschen Namen zu tragen. Dann schimpfte er meinen Sohn einen Feigling und schlug ihm mit einem Stein auf den Schädel.«
Mr. Simpson hatte sich in Rage geredet, und als er schnaufend Luft ausstieß, flatterten die Enden seines Schnurrbarts. Andrew straffte die Schultern und bedachte erst den Sheriff und dann Mr. Simpson mit einem wütenden Blick.
»So etwas habe ich nie gesagt!«, schäumte Andrew.
»Du musst ihnen nicht antworten, Andrew.« Wilhelm setzte sich wieder seinen Hut auf und schickte sich an, zurück aufs Feld zu gehen. »Sein Junge wurde verprügelt, und jetzt will er sich mit Lügen rächen. Das kann jeder sehen, der nur halbwegs bei Verstand ist. Einen schönen Tag noch, Gentlemen.«
Der Sheriff mahlte langsam mit seinem Kiefer. »Ich fürchte, so einfach ist das nicht. Solche Äußerungen sind eine Straftat. Der junge Mann muss mit mir zum Gericht kommen.« Er winkte Andrew zu sich. »Du stehst unter Arrest, mein Sohn.«
»Was? Moment mal!« Aufgebracht riss Wilhelm seinen Hut wieder vom Kopf. »Hier steht doch Aussage gegen Aussage.«
»Das stimmt, aber in Zeiten wie diesen kann man nicht vorsichtig genug sein. Wir nehmen ihn mit in den Ort, bis sich alles geklärt hat.« Der Sheriff schob seinen Hut auf den Hinterkopf und musterte Andrew. »Hör mal, du siehst eigentlich aus wie ein anständiger Junge, aber manchmal sagt man was im Eifer des Gefechts, und das dürfen wir in Zeiten wie diesen nicht dulden. Nicht, solange amerikanische Jungen da drüben kämpfen und nicht mehr zurückkommen.«
»Wieso suchen Sie eigentlich nicht nach den Jungs, die die Muellers terrorisiert haben? Die, die einen Halbwüchsigen zu Brei geschlagen und einem kleinen Mädchen die Perücke kaputt gemacht haben?«, fragte Andrew zornig.
Der Sheriff ignorierte die Frage und winkte ihn noch mal zu sich. »Genug geredet. Gehen wir.« Er kratzte sich am Ohr. »Wenn Sie ihn mit einer Kaution rausholen wollen, dann finden Sie uns im Gefängnis von Plum.« Die Männer drehten sich um und gingen durch das helle Heu zurück. Andrew folgte ihnen widerwillig.
Andrew stützte sich auf seiner Gefängnispritsche ab, erhob sich und nahm den dampfenden Becher zwischen den Gitterstäben entgegen. »Danke.« Von der Nacht auf dem harten, ungefederten Bett tat ihm alles weh. Er hatte nicht schlafen können und war erst eingedöst, kurz bevor der Sheriff erschien.
Der Polizeibeamte zog einen Holzstuhl zur Zelle, setzte sich darauf, stemmte die Füße gegen die Gitter und wippte auf dem Stuhl vor und zurück. »Hunger?«
Andrew schüttelte den Kopf.
»Hab ich mir schon gedacht. Hinter Gittern vergeht einem schnell der Appetit.« Der Sheriff schlürfte lässig an seinem Kaffee; er war nicht mehr so ernst und reserviert wie auf der Fahrt zur Wache am Vortag, sondern wirkte nun viel freundlicher.
»Hör mal, Junge«, setzte er jetzt an. »Ich kenne Danny gut. Er hat hier mehr Nächte in der Zelle verbracht als jeder andere junge Mann in der Gegend. Aber momentan ist er ziemlich sauer, weil du ihn niedergeschlagen hast. Der Bursche verliert nicht gern«, erklärte er glucksend. »Ist ein Hitzkopf. Jedenfalls glaube ich dir, wenn du sagst, dass du diese Äußerungen nicht von dir gegeben hast. Aber Mr. Simpson hat Einfluss hier, und er wollte keine Ruhe geben, bis irgendwas unternommen wurde. Dich einfach nur zu verhaften, war eigentlich das Menschlichste, das ich tun konnte.« Er lächelte. »Du kannst dich später bei mir bedanken.«
»Mich bedanken?« Unwillkürlich musste Andrew lachen. »Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen keine Blumen schicke.«
Da lachte auch der Sheriff und stellte seine Füße auf dem Boden ab. Er stützte sich mit den Ellbogen auf die Knie und umklammerte seinen Becher. »Hast du schon gehört, was in Illinois passiert ist?«, fragte er unvermittelt. »Mit einem gewissen Robert Prager?«
»Nein.«
»Er war Amerikaner mit deutschen Wurzeln und machte ein paar unvorsichtige Äußerungen gegenüber den falschen Leuten. Daraufhin gingen sie auf ihn los, zogen ihn nackt aus, wickelten ihn in eine amerikanische Flagge, führten ihn in der ganzen Stadt herum und prügelten ihm die Seele aus dem Leib. Schließlich riefen ein paar vernünftige Bürger die Polizei, und der Mann kam in Schutzhaft. Aber der Mob hatte immer noch nicht genug, stürmte das Gefängnis, holte Prager heraus und lynchte ihn.« Der Sheriff trank so beiläufig einen Schluck Kaffee, als hätte er gerade über das Wetter geredet.
Andrew drehte sich der Magen um, als er sich das Ganze vorstellte.
»Deshalb musste ich was tun«, erklärte der Sheriff. »Jetzt kann Danny wenigstens sein Gesicht wahren, und Mr. Simpson kann den Leuten erzählen, du hättest deine gerechte Strafe bekommen. In einer Woche muss Danny zur Grundausbildung, dann ist der Spaß ausgestanden. Du musst bis dahin nur hier einsitzen.«
»Und das wird denen reichen?«
»Du bist hier sicher, mein Junge. Ich bin zäher, als ich aussehe. Außerdem hat die Polizei in Illinois den Mob gar nicht aufgehalten. Nur unter uns: Meine Frau ist halb deutsch. Das ist ziemlich schwer geheim zu halten. Wenn man einen Namen wie Kiser hat, geht das natürlich nicht.«
»Aber ich bin kein Deutscher. Mein Nachname lautet Houghton.«
»Aber warum in aller Welt hast du das denn nicht früher gesagt?«
»Hätte das was geändert?«
Der Sheriff schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht, solange du bei den Kisers wohnst.«
»Das sind anständige Leute, die dieses Land genauso lieben wie die Simpsons. Nur dass sie nicht andere angreifen müssen, um das zu beweisen.«
Der Sheriff dachte kurz darüber nach und zuckte die Achseln. »Sind schon merkwürdige Zeiten«, sagte er langsam. »Wirklich merkwürdige Zeiten.«
Am Haupteingang ertönte eine Glocke. »Wenn man vom Teufel spricht. Nicht böse gemeint.« Der Sheriff stand auf und schob seinen Stuhl zurück. »Wahrscheinlich dein Onkel.«
Der Sheriff verschwand, doch als er ein paar Minuten später wieder auftauchte, hatte er nicht Andrews Onkel bei sich, sondern Lily. Sie hatte die Haare glatt gebürstet und mit einer Perlenspange zurückgesteckt. Ihr Kleid wirkte neu und war gebügelt. Sie trug Stiefel mit Absatz und umklammerte eine kleine Handtasche. »Hallo Andrew.«
Er erkannte sie kaum und war erstaunt, wie ernst sie wirkte. »Ich habe Sheriff Tippney gerade erklärt, dass ich die ganze Auseinandersetzung zwischen dir und Dan Simpson mit angesehen habe. Und dass ich Dan den Stein auf den Kopf geschlagen habe.«
Andrew erhob sich. »Du solltest nicht hier sein, Lily.«
»Natürlich sollte ich hier sein. Frank hat mich geschickt.«
Der Sheriff schloss die Zellentür auf und öffnete sie bedächtig. »Sieht so aus, als hättest du eine Zeugin.« Er wandte sich kurz zu Lily, dann zog er die Tür weiter auf. »Frank hat in die Wege geleitet, dass du freigelassen wirst. Dann hast du wohl einen Schutzengel, mein Junge.«
Andrew folgte Lily zum Wagen. Ihre Haltung war sehr steif, als sie zielstrebig und ohne ein Wort zum Einspänner schritt. Sie nahm die Zügel und schnalzte mit der Zunge, damit das Pferd sich in Bewegung setzte. Als sie den Stadtrand erreicht hatten, entspannte sie sich und fuhr mit dem Wagen rechts heran. »Wir werden uns eine Weile nicht sehen können«, sagte sie dann nur.
»Frank hat sich gar nicht für mich eingesetzt, oder?«
Einen Augenblick schwieg sie und blinzelte nervös. »Nein.«
Andrew wünschte, sie hätte ihn in der Zelle gelassen. »Das hättest du nicht tun sollen, Lily.«
Sie schluckte und bemühte sich um eine entschlossene Miene. »Ich bin eine erwachsene Frau, Andrew.«
»Was machst du, wenn er davon erfährt?«
Sie versuchte, zu lächeln. Es war ein schwacher Versuch. »Ich verstecke mich.«
»Du gehst nicht dahin zurück!«
»Natürlich gehe ich wieder zurück«, sagte sie entschieden. »Lass mich einfach.«
»Ich will nicht, dass du schon wieder aus meinem Leben verschwindest, Lily. Ich muss wissen, dass es dir gutgeht.«
»Ich hab doch gesagt, du sollst mich lassen. Hör zu«, bat sie mit angespannter Miene. »Gib mir nur ein bisschen Zeit, damit Gras darüber wachsen kann, ja?«
»Na gut«, antwortete er widerstrebend. »Aber tu mir einen Gefallen, ja?«
»Komm am Freitag zur Quelle im Wald. Dann muss Frank doch zu seinem Treffen nach Pittsburgh, nicht wahr?«
Sie wurde blass. »Ich weiß nicht.«
»Bitte, Lily. Wirst du kommen?«, drängte er.
Sie schwieg eine Weile, dann nickte sie kurz. »Ja.«
»Versprochen?«
»Ja.« Sie wirkte besorgt, aber schien es ernst zu meinen. »Versprochen.«
Andrew küsste sie auf die Wange und sprang vom Wagen. »Wohin willst du?«, fragte sie.
»Ich muss noch was im Ort erledigen. Wenn Frank auf dich losgeht, dann haust du ab, Lily. Hörst du?«
Sie lächelte matt. »Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten, Mr. Houghton.« Wieder schnalzte sie und trieb das Pferd zu einem gleichmäßigen raschen Trab an.
Der Schotter knirschte unter Andrews alten Stiefeln, als er zurück in den Ort ging. In der Nachmittagshitze ließen die Bäume ihre Äste hängen.
Die Nacht im Gefängnis hatte etwas in Andrew verändert. In seinem unruhigen Schlaf hatte er wirr geträumt, flüchtige Bilder, die ihm noch gegenwärtig waren, als er erwachte. Er hatte einen Entschluss gefasst, und seine Haut kribbelte. Veränderung lag in der Luft, er spürte es. Als Andrew an den letzten Brief seiner Mutter dachte, prickelte seine Kopfhaut. Dann dachte er an die Kisers, die ihn aufgenommen hatten, als kein anderer ihn wollte, die ihn als einen der ihren geschützt hatten.
Sorge für deine Familie. Immer. Andrew hatte sich in der schlaflosen Nacht diese Worte seines Vaters wieder in Erinnerung gerufen. Doch jetzt waren die Kisers seine Familie. Das alte Farmhaus war sein Zuhause, seine Cousins waren seine Brüder. Mit einem Mal stieg Stolz in ihm auf. Er dachte an Lily und an das, was hoffentlich noch vor ihnen lag.
Verstohlen bog Andrew auf die Hauptstraße ein und lief am Postamt vorbei zur dahinter gelegenen Schmiede. Die Werkstatt war von oben bis unten schwarz vom Ruß, und der Schmied stand über einer Stahltonne mit Wasser. Jedes Mal, wenn er etwas hineintauchte, zischte es, und Dampf stieg bis zur Decke. Der Mann drehte sich nicht um, sondern fragte nur knapp: »Wollen Sie was?«
Andrew holte die Erkennungsmarke seines Vaters aus dem Hemd hervor und hielt sie ihm hin. »Können Sie die schmelzen?«
Der Mann nahm die Marke und prüfte das Messing zwischen seinen geschwärzten Fingern. »In welche Form?«
»In einen Ring.« Andrew zog den grünen Stein aus seiner Tasche. »Mit diesem Stein.«