Lily beugte sich über die Gurken. Sie hätte sie schon früher ernten sollen. Die größten waren an der Spitze aufgeplatzt und hatten auf der Schale braunen Schorf. Abwesend legte sie sie in den Eimer und war mit den Gedanken ganz woanders.
Als sie einen Luftzug spürte, konzentrierte sie sich wieder auf ihre Aufgabe und spürte, wie ihr Herz schneller klopfte. Gerade griff sie nach der letzten Gurke, da sah sie aus dem Augenwinkel einen Männerstiefel und zog automatisch den Kopf ein. Laut klapperte der Metalleimer, den der Stiefel umgetreten hatte, und flog über Lilys gebeugte Schultern. Die Gurken fielen heraus und lagen im Garten verteilt. Lily hielt den Kopf weiter eingezogen.
»Steh auf, verdammt noch mal!«
Lily straffte sich, stand auf und blickte Frank ins Gesicht.
»Ich schwöre, ich könnte dich eigenhändig erwürgen!«, brüllte er.
Sie rührte sich nicht, sondern starrte ihn nur ausdruckslos an und machte sich auf das gefasst, was da kommen würde. Sie spürte schon fast, wie seine Hände an ihrem Hals zudrückten, wie sich die Panik in ihr ausbreitete.
Sein Schweigen machte sie nervös. Er trat noch näher zu ihr und hob die Hand zum Schlag. Sie rührte sich immer noch nicht.
Da ließ er die Hand sinken, drehte sich um und spuckte auf den Boden. »Gott verdammt noch mal!«
Er fing an zu fluchen und trat einige Male zornig gegen den Boden. »Wenn sie mich deswegen aus der APL schmeißen, dann helfe mir Gott …«
»Ich war dabei an dem Tag«, verteidigte sie sich. »Andrew wurde zu Unrecht festgenommen.«
Doch Frank wurde nur noch wütender. »Ist mir scheißegal, was er gesagt hat!«
»Er hat mir geholfen! Dan hat mich angegriffen, und Andrew hat ihn aufgehalten«, schrie sie und spürte plötzlich Zorn in ihrer Kehle. »Er wollte mich nur beschützen.«
Frank baute sich vor ihr auf und stieß ihr mit dem Finger immer wieder fest gegen die Brust. »Du wirst ihn nie mehr wiedersehen. Ist das klar? Solltest du noch einmal ein Wort mit ihm wechseln, ihm auf der Straße begegnen oder auch nur einen Blick in seine Richtung werfen, dann lasse ich ihn wieder ins Gefängnis schmeißen, bevor du bis drei zählen kannst!«
Lily biss die Zähne zusammen.
»Du glaubst vielleicht, ich bluffe, wie?« Frank schnaubte. »Lass es drauf ankommen, Lily. Lass es nur drauf ankommen«, drohte er. »Beim nächsten Mal sorge ich dafür, dass er nie wieder rauskommt.«
»Ich hasse dich!«
»Oh, Lily!«, höhnte er. »Nicht so sehr, wie ich dich hasse.«
Am Freitag wartete Lily wie versprochen an der Quelle im Wald. Frank würde hoffentlich nie davon erfahren, außerdem musste sie Andrew warnen, sich von ihr fernzuhalten.
Die Luft im Wald war kühl und schattig. Die Steine waren feucht, manche glitzerten im gedämpften Sonnenlicht. Lily drückte ihre Finger in das dunkelgrüne schwammige Moos.
Sie berührte mit der Handfläche das Wasser. Es war so kalt und klar, dass sie die Kiesel am Grund sehen konnte. Nach der leichten Kräuselung von ihrer Hand, war die Oberfläche wieder glatt wie ein Spiegel, in dem sie ihr Gesicht sehen konnte.
Sie betrachtete ihre Nase und ihre Augen, die Linie ihrer Augenbrauen, ihr Haar, das ihr über die Schultern fiel, und fragte sich, ob sie hübsch war. Sie neigte den Kopf zur Seite, dachte an Andrew und lächelte. Wenn sie in seine Augen blickte, wusste sie, dass sie hübsch war.
Dann erschien ein Schatten auf der Wasseroberfläche. Lily sprang voller Vorfreude auf und drehte sich um, aber dann verwandelte sich ihr Lächeln in blankes Entsetzen.
»Ich dachte, du wärst melken«, sagte Frank schneidend. »Stattdessen bist du hierhergekommen, um dich mit diesem Krüppel zu treffen, oder?«
Sie wich zurück, bis zu der Felswand, wo ihr Rücken von den Rinnsalen kalt und nass wurde. Lilys Finger ertasteten einen losen Stein, sie umfasste ihn und dachte, wie leicht es doch wäre, Frank damit niederzuschlagen. Wenn sie nur hart genug zuschlüge, würde er vielleicht sterben.
Mit einem Mal schien Franks Wut zu verpuffen, und er wirkte fast verloren. Er blickte ratlos hinauf zu den Bäumen. »Du weißt, dass mir das alles genauso wenig gefällt wie dir.«
Von seinem Ton brach ihr der kalte Schweiß aus. Ein reuiger Ausdruck erschien auf seinem aschgrauen Gesicht, den sie zuvor nur ein einziges Mal gesehen hatte. »Du musst zum Haus zurückkommen und dich umziehen«, befahl er sanft.
Panik wallte in ihr auf. Sie schüttelte den Kopf. Sie versuchte, zurückzuweichen, aber die Wand drückte sich in ihren Rücken. »Nein«, sagte sie heftig.
»Doch, Lily. Mir gefällt das genauso wenig wie dir, aber es geht nicht anders.«
»Nein.« Um sie herum schlossen sich die Bäume zusammen und verbogen sich, so dass ihr ganz schwindlig wurde und sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. »Das mache ich nicht. Ich mach das nicht noch mal.« Sie wimmerte auf, als sie an die grobe Hand zwischen ihren Beinen denken musste. Heftig schüttelte sie den Kopf, um die schrecklichen Bilder wieder loszuwerden.
Frank streckte sanft die Hand nach ihr aus. »Es ist das letzte Mal. Ich schwöre es.«
»Das hast du beim letzten Mal auch schon gesagt«, schrie sie, während ihr die Tränen übers Gesicht strömten. Die Erinnerung daran ließ alles in ihr taub werden.
»Ich weiß, was ich gesagt habe.« Er stemmte die Hände in die Hüften, weil er langsam die Geduld verlor. »Aber ich hatte wieder Probleme. Die müssen bereinigt werden.«
Bereinigt? Bereinigt! Es durfte sich nicht wiederholen, nicht noch einmal. Sie löste sich vom feuchten Stein und spürte, wie ihr das nasse Kleid am Rücken klebte. Langsam ging sie einen Schritt nach rechts. »Ich mache das nicht.« Sie wich weiter zurück, bereit zu fliehen. »Du kannst mich nicht dazu zwingen.«
Da packte er sie grob am Handgelenk und riss sie an sich. »Du wirst tun, was ich sage, verdammt noch mal!«
Sie wehrte sich gegen seinen Griff und schlug ihm mit der freien Hand fest ins Gesicht, doch er zuckte kaum zusammen. Nur sein Gesicht nahm diesen kalten und grausamen Ausdruck an, und sie bereute es sofort, ihn geschlagen zu haben. Panik ergriff sie. »Andrew!«, schrie sie.
Doch Frank zog ihren Arm hinter ihren Rücken und drückte ihr mit seiner rauen Hand den Mund zu. Sie konnte kaum atmen, weil sie so schluchzen musste.
»Du wirst es tun«, zischte er ihr ins Ohr. »Du tust es oder deine Schwester – deine Mutter – bekommt den Gürtel zu schmecken, und zwar so gründlich, dass sie sich bis Weihnachten nicht mehr bewegen kann.« Er presste die Finger in ihren Arm, und sie schrie auf, doch seine Hand dämpfte ihren Schrei. »Was? Willst du etwa zusehen, wie ich ihr die Seele aus dem Leib prügle? So wie früher? Wieder einmal soll sie sich für dich verprügeln lassen, nur weil du dich für was Besonderes hältst?« Er ließ sie los und stieß sie grob von sich. »Tja, aber du bist nichts Besonderes, Lily. An dir ist nichts besonders.« Er spuckte auf den Boden.
Da umschloss Lily plötzlich Schwärze, und sie spürte die schreckliche Gewissheit dessen, was sie erwartete. Etwas in ihr zerbrach.
Frank stieß einen langen Seufzer aus, nahm seinen Hut vom Kopf und wischte sich über die Stirn.
»Claire war dein ganzes Leben für dich da«, sagte er ruhig. »Und da willst du nicht mal diese eine Sache für sie machen?« Er trat zur Seite, als öffnete er eine Tür für sie, durch die sie hindurchtreten konnte. »Du musst es nur einmal machen, dann ist es erledigt. Ein letztes Mal. Versprochen ist versprochen.«
***
Andrew wartete stundenlang an der Quelle. Er rollte den Ring auf seiner Handfläche und spielte damit. Er berührte das Wasser und ging noch mal im Kopf durch, was er sagen wollte. Immer wieder probte er, wie er ihr zeigen würde, dass er sie liebte.
Andrew wartete. Er wartete darauf, dass Lily ihr Versprechen hielt. Sein Lilymädchen. Er wartete, bis die Dämmerung anbrach und er begriff, dass sie nicht kommen würde.
Niedergeschlagenheit breitete sich in ihm aus, je länger er auf die Wasseroberfläche starrte und realisierte, dass er sich getäuscht hatte. Sie würde nicht kommen. Hatte er sich auch in ihren Gefühlen getäuscht? War er ein Narr gewesen zu glauben, dass ihr Liebe groß genug war? Mit jeder verstreichenden Minute wuchs die Unsicherheit in ihm.
Vielleicht hatte Frank sie nicht aus dem Haus gelassen, überlegte er und ermahnte sich, sich nicht von seiner Enttäuschung lähmen zu lassen. Er schloss die Finger fest um den Ring und dachte nach, suchte nach einem Grund, warum sie nicht erschienen war.
Im dunkler werdenden Wald sah er an seiner linken Seite hinab, wo sein Arm hätte sein sollen. Er dachte erneut an den knappen Brief seiner Mutter. An all die Sticheleien, Beleidigungen und Blicke wegen seines fehlenden Arms. Er presste die Augen fest zusammen und kämpfte gegen die dunklen Erinnerungen an.