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43. Kapitel

Der klapprige Brotwagen kam an der Zufahrt der Kisers zum Stehen. »Guten Morgen«, rief Eveline.

Bob nickte nur, und Bernice hielt den Kopf gesenkt. Evelines Lächeln schwand. Die ungewöhnliche Reserviertheit des Pärchens überraschte sie.

Bob lehnte sich nach hinten, zog die Tüte mit dem Brot hervor und gab sie ihr wortlos. Eveline wog sie in ihren Händen und spürte, dass sie viel zu schwer war. »Das ist ja doppelt so viel wie sonst, Mr. Stevens.« Sie wollte ihm die Tüte zurückgeben.

Er schüttelte den Kopf. »Behalten Sie’s.«

»Das würde ich gern, aber wir können uns das nicht leisten. Momentan müssen wir sparen. Nehmen Sie am besten einfach heraus, was zu viel ist.«

Jetzt sah Bernice sie eindringlich an. »Sie werden das Brot behalten, Mrs. Kiser. Sie müssen es nicht bezahlen.«

Eveline klappte der Mund auf. Sie blickte von Bob zu Bernice und wieder zurück. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber das kann ich nicht …«

Bob stieß einen lauten, lang gezogenen Seufzer aus und rieb sich über das zerschlissene Hosenbein. »Wir kommen gerade aus dem Ort, wo wir einiges gehört haben. Dieser Krieg bringt alle gegeneinander auf.« Er sah ihr direkt in die Augen. »Wir wissen, dass Campbell Ihren Kredit gekürzt hat. Und dass der Metzger Ihnen nur noch das Fleisch gibt, das nicht mehr ganz frisch ist. Wir wissen auch, dass Ihre Post geöffnet und gelesen wird, bevor Sie sie bekommen. Das betrifft nicht nur Sie.« Seine Stimme klang tröstlich. »Sondern auch die Muellers. Alle Deutschen, und das ist nicht richtig.«

Eveline drückte das Brot an ihre Brust. Sie sog den warmen Duft nach Hefe ein und war gerührt.

»Bernice und ich kennen solchen Hass nur zu gut, oder?«

Seine Frau nickte und lächelte traurig.

»Man kann sich ganz leicht einreden, dass die anderen immer die Bösen sind, um nachts ruhig zu schlagen. Aber eigentlich weiß man tief im Innern, dass der andere sich gar nicht so sehr von einem selbst unterscheidet, dass er nur eine andere Uniform trägt. Mit den Deutschen ist das jetzt auch so«, fuhr er fort. »Man bringt die Leute dazu, sie zu hassen. Sonst würde keiner rübergehen, um gegen sie zu kämpfen.«

Bernice tätschelte ihm das Knie. »Das reicht, Bob. Sonst regst du dich nur auf.«

Aber es war schon zu spät. Er zitterte am ganzen Körper, und sein Blick huschte unruhig hin und her. »Aber es liegt nicht nur am Krieg. Der Hass ist auch so da. Immer noch gibt es Leute, die Bernice und mich voller Hass anstarren, obwohl der Krieg längst vorbei ist. Es gibt immer noch Leute, die unser Brot an die Krähen verfüttern, weil eine Schwarze den Teig geknetet hat.«

»Bob …«

Der alte Stevens richtete sich auf. »Also kennen wir den Hass, der um sich greift, und das ist einfach nicht richtig. Nehmen Sie das Brot, Mrs. Kiser. Wir fühlen uns mächtig gut, weil Sie Brot von uns annehmen. Bernice und ich haben nicht viel, nur einen kleinen Schuppen mit einem Dach voller Löcher und diesen alten Klepper, aber wir haben Brot, und wenn wir Ihnen davon was abgeben können, dann können wir ruhiger schlafen. Ist kein Almosen, Mrs. Kiser. Nur ein kleiner Ausgleich für das, was Ihnen weggenommen wird.« Er blickte zur Straße. »Viele Menschen waren grausam zu meiner Bernice. Aber die Anwohner dieser Straße waren immer gut zu ihr. Die Witwe Sullivan, die Muellers.« Er schwieg kurz. »Selbst die Morton-Mädchen waren immer freundlich. Solche Leute müssen zusammenhalten. Ist der einzige Schutz gegen den Hass.« Evelines Lippen zuckten. Sie nickte und wollte sich bedanken, aber sie war zu gerührt von Bobs Worten. Sie drückte das Brot fest an sich.

Als Bob ihren Blick erwiderte, traten ihm Tränen in die Augen. Er holte tief Luft und kehrte zu seinem gewohnten flapsigen Ton zurück. »Außerdem wissen Sie ja, dass Bernice eine Schwäche für Ihren Neffen hat. Sie würde Ihnen fünfmal am Tag Brot bringen, nur um einen Blick auf ihn werfen zu können!« Bernice versetzte ihm einen Schlag auf den Arm. »Passen Sie auf sich auf, Mrs. Kiser.«

Eveline sah zu, wie der alte Wagen wieder zur Hauptstraße ruckelte. Sie bemerkte dabei, dass sich vom Hügel aus Frank näherte, der die Stevens aber keines Blickes würdigte.

Als er bei ihr ankam, war Eveline noch immer bewegt von der Geste des alten Paares. Franks Gegenwart machte sie ausnahmsweise nicht nervös.

Er neigte den Kopf zur Seite und sah sie sanft an. »Alles in Ordnung, Eveline?«

Sie nickte. »Ja. Ich finde nur, dass das alte Pärchen so nett ist.«

»Ich weiß nicht.« Er verzog das Gesicht. »Wenn ich an die beiden denke, geht mir irgendwas gegen den Strich. Da können sie so nett sein, wie sie wollen. Etwas bei denen ist einfach nicht in Ordnung.«

Sie hob die Augenbrauen. »Und was soll das sein, Mr. Morton?«

Als er ihren Blick sah, ruderte er zurück. »Ach nichts. Achten Sie heute Morgen gar nicht auf das, was ich sage. Ich bin nur müde. War die letzten Tage in der Stadt.«

»Oh.« Er sah wirklich erschöpft aus. »Möchten Sie auf einen Kaffee ins Haus kommen?«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte er, beantwortete aber nicht ihre Frage. Er sah sie mit leerem Blick an. Sie wusste, ihr Mann wollte ihn nicht sehen, aber sie hatte seine Gesellschaft immer als angenehm empfunden.

»Ich habe heute Morgen Kuchen gebacken«, lockte sie, »und würde Ihnen gern welchen für Lily und Claire mitgeben.«

»Das wäre nett. Danke.«

Gemeinsam gingen sie die Auffahrt hinunter. Wie er so neben ihr ging, viel größer und breiter als sie selbst, schenkte er ihr ein Gefühl von Sicherheit. »Ist das da Andrew an der Scheune?«, fragte er und zeigte in die Richtung.

»Ja, wahrscheinlich ist er schon vom Feld zurück.« Sie hoffte nur, dass Wilhelm nicht bei ihm war.

»Stört es Sie, wenn ich Sie kurz allein lasse? Ich möchte nur mal mit dem jungen Mann reden.«

Eveline wunderte sich, nickte aber nur. »Ich gebe Ihnen den Kuchen, wenn Sie gehen.«

»Wie es aussieht, war die Ernte gar nicht so schlecht.« Frank Morton lehnte sich mit seiner kräftigen Gestalt gegen das Scheunentor. Als Andrew ihn bemerkte, war er sofort auf der Hut. »Die Kühe sehen auch gut aus.«

Es gefiel Andrew gar nicht, dass der Mann so tat, als dürfte er sich über ihre Felder und Tiere ein Urteil erlauben. »Sie klingen überrascht, Mr. Morton.«

Der Mann zuckte die Achseln und folgte Andrew in den dämmrigen Stall. Dann blickte er beeindruckt hinauf zum Heuboden. »Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.«

Andrew grinste nur über die Beleidigung. »Haben Sie nicht ein paar deutsche Kinder zu drangsalieren?«, konterte er.

Frank lachte, träge und genüsslich. »Ist schon komisch. Eigentlich müssten Sie mir doch danken, weil ich Sie aus dem Kittchen geholt habe.«

Jetzt lachte auch Andrew. »Damit hatten Sie gar nichts zu tun, und das wissen Sie auch. Wenn es nach Ihnen und Ihrer Truppe ginge, säße ich immer noch hinter Gittern.«

»Da haben Sie wohl recht.« Er zuckte die Achseln. »Unsere Lily hat eine Schwäche für Krüppel. Schon als sie klein war, versuchte sie ständig, Viecher zu retten, mit denen was nicht stimmte.«

Andrew nahm die Heugabel und rammte sie in einen Strohballen. Er schloss seine Hand fest um den Griff, um sich zurückzuhalten und seinen Zorn zu verbergen.

»Ich hab gehört, Sie sind vorbeigekommen, um sie zu besuchen«, bemerkte Frank. »Ich hab Lily gesagt, sie soll es Ihnen direkt sagen, anstatt Ihnen auszuweichen.«

Andrew verdrehte die Augen. »Was denn sagen?«, gab er zurück.

»Dass sie nicht interessiert ist. Sie ist ein Flittchen, mein Junge, war sie schon immer.« Frank trat näher zu ihm und trat mit seinem glänzenden Stiefel gegen das Stroh. »Allerdings hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie Sie an der Quelle versetzt hat.«

Andrew hielt inne und umklammerte den Griff so fest, dass seine Knöchel weiß wurden.

Frank fuhr fort: »Aber sie und Dan hatten eine Verabredung. Er ist mit ihr zum Jahrmarkt gegangen. Ich hab sie nicht mal nach Hause kommen hören.«

Da wandte sich Andrew Frank zu und ließ die Heugabel los. »Eine gute Geschichte, aber bevor Lily mit Dan Simpson ausgehen würde, hätte ich eher eine Verabredung mit einem Huhn.«

»Ich hatte schon das Gefühl, Sie riechen nach Hühnermist.«

Andrew lachte leise, dann richtete er sich auf. »Ich habe zu tun.«

»Dass Dan Lilys Liebhaber ist, habe ich nicht erfunden«, erklärte Frank laut. »Genau in diesem Augenblick ist sie mit ihm zusammen. Er hat sie heute Morgen abgeholt und ist mit ihr in die Stadt gefahren.« Er lächelte grausam. »Sie hätten sehen sollen, wie hübsch sie mit ihrem Kleid und den hohen Schuhen aussah. Allerdings haben zwischen ihr und Dan schon immer die Funken gesprüht. Mal zieht sie ihm eins über den Schädel, aber schon kurz darauf küsst sie ihn und macht es wieder gut. Die beiden sind wie Feuer und Wasser.« Er streckte sich. »Sie hat Sie nur aus dem Gefängnis geholt, um Dan eifersüchtig zu machen. Wie Feuer und Wasser, die beiden.«

Obwohl Andrew kein Wort davon glaubte, merkte er, wie sich sein ganzer Körper anspannte. »Was Lily macht und mit wem, geht mich nichts an.«

Frank lachte gehässig und klopfte auf die Motorhaube des neben der Scheune parkenden Fords. »Sie kapieren es einfach nicht, was, Junge? Sie und Dan treiben es schon, seit er vor Jahren bei mir angefangen hat.« Er verschränkte die Hände vor der Brust. »Und er würde doch auch gut zu Lily passen, finden Sie nicht? Er arbeitet jetzt so lange für mich, dass er ein guter Geschäftspartner wäre.« Frank musterte ihn. »Dazu kommt noch, dass der Junge starke Hände hat, wissen Sie? Starke Hände, starke Arme … zwei davon.«

Andrew trat einen Schritt zurück und starrte angestrengt auf seine Beine, um nicht die Beherrschung zu verlieren. »Nur schade, dass er jetzt in den Krieg zieht«, sagte er langsam.

»Ach, haben Sie’s noch nicht gehört?« Überrascht riss Frank die Augen auf. »Er hat die Musterung nicht bestanden wegen seiner Kopfverletzung. Die Wunde hatte sich entzündet. Wie finden Sie das? Ironie des Schicksals, oder? Weil Lily ihm eins übergezogen hat, kann er bei ihr bleiben und sie für immer von dem deutschen Krüppel loseisen.«

Andrews Blick huschte zum Scheunentor, wo er eine Bewegung wahrgenommen hatte. Auch Frank drehte sich um. »Eveline, ich hab Sie gar nicht gehört.« Er zog seinen Hut ab und zerdrückte ihn in der Hand. »Ich hab nur ein paar Scherze …«

Eveline stand mit einem Teller, auf den sie ein paar Kuchenstücke gelegt hatte, in der Hand da, und ihre Augen blitzten vor Zorn. »Verschwinden Sie von meinem Grund und Boden, Mr. Morton.«