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46. Kapitel

Peter und Fritz Mueller hoben das Grab neben dem riesigen Apfelbaum aus, in der Nähe von den Zwillingen. Der protestantische Friedhof war für die Kisers verschlossen gewesen: Selbstmörder wurden dort nicht geduldet.

Andrew erreichte den Gipfel des ansteigenden Feldes und stand verloren in einem Meer aus hüfthohen grünen Maispflanzen. Die Sonne brannte ihm auf den Kopf. Wie lange er dort stand, wusste er nicht. Wilhelm Kiser würde die Ernte der Maispflanzen, die er ausgesät hatte, nie sehen.

Von dort aus sah man kein Haus und keine Straße, nur die Sonne, die grünen Pflanzen und die geraden Furchen der Erde. Andrew stand mit reglosem Blick dort. Alles war Leere.

Und dann sah er sie. Lily. Durch das wogende Feld kam sie langsam auf ihn zu. Die Enttäuschung darüber, dass sie nicht an der Quelle auf ihn gewartet hatte, verschwand.

Ihre grünen Augen waren voller Trauer. Das Haar wehte ihr um die Schultern, und ihr blassgelbes Kleid leuchtete in der Sonne.

Sie kam zu ihm, kam immer dichter zu ihm, bis er ihre Nähe überall spürte. Ihre Blicke verschmolzen ineinander, und dann hielt sie ihn, schlang die Arme fest um ihn und schmiegte ihren Kopf an seine Brust, und er spürte ihre Tränen durch sein Hemd. Er senkte den Kopf und küsste ihr glattes Haar, das weich an seinen Lippen kitzelte. Es fühlte sich so gut an, etwas anderes als Schmerz zu empfinden. Sie hob den Kopf und drückte ihre Lippen auf seine.

»Du schaffst das«, flüsterte sie. Sie umklammerte ihn, küsste ihn dicht unter dem Ohr und sagte aus vollem Herzen: »Du kannst diese Familie retten.«

Die Worte lösten Angst in ihm aus. Jetzt hatte er die Verantwortung, und wenn die Farm weiterbestehen sollte, lag es an ihm. Er lehnte seine Stirn gegen ihre und biss die Zähne zusammen. Es war zu viel.

»Du hast der Familie von Anfang an Hoffnung gegeben. Das warst immer du. Du hast gewusst, wovon die Zwillinge krank waren, und hast den Rest der Familie gerettet. Du bringst Will und Edgar zum Lachen. Du bist es, an den Eveline sich lehnt, wenn sie fast zusammenbricht. Du sorgst für die Tiere und kümmerst dich um die Felder.« Sie drückte ihn fester an sich. »Siehst du das denn nicht?«

Er starrte sie an. Plötzlich überkam ihn eine verzweifelte Leidenschaft, und er küsste sie wild, glitt mit der Hand in ihre Haare, küsste ihren Hals, küsste ihr die Tränen von den Augen.

»Ich liebe dich«, hauchte sie zwischen ihren leidenschaftlichen Küssen. Er öffnete ihr Kleid. Sie tastete nach seinen Hemdknöpfen und riss sie fast aus den Knopflöchern.

Er trat näher zu ihr und hob sie hoch. Lily schlang ihre Beine um seine Hüften und drängte sich an ihn. Andrew ging auf die Knie und legte sich mit ihr auf das weiche Bett aus geknickten Pflanzen und Erde.

Lily gab sich dem Rhythmus seiner Hüften zwischen ihren Beinen hin, seinen sanften Küssen und seinen sicheren Berührungen. Sie zog an seinem Gürtel, öffnete die letzten zwei Knöpfe seines Hemds und spürte, wie Hitze in ihr aufstieg, als sein Hemd auseinanderfiel und die dunkle Haarlinie unter seinem Nabel und die Muskeln an seinem Bauch enthüllte. Sie schob sich ihm entgegen und umschlang seine Schenkel. Er legte seine Hand auf ihren unteren Rücken und küsste ihren Hals.

Vor ihrem inneren Auge blitzte das Gesicht eines Mannes auf, aber sie verdrängte es, presste ihre Lippen an Andrews und küsste ihn noch leidenschaftlicher, um das Gesicht loszuwerden. Sie wollte sich in seinem Körper verlieren, die anderen Erinnerungen verscheuchen. Sie schob das Hemd von seiner Schulter. Er spannte sich an, hielt in seinen Bewegungen inne und sah sie mit großen, verunsicherten Augen an. Langsam schob sie das Hemd auch von seiner linken Schulter und sah die gezackten Narben, die sich in die Haut gegraben hatten. Andrew schloss die Augen und wandte den Kopf ab.

Der Gedanke an die Schmerzen, die er erlitten haben musste, brachen ihr das Herz. Als sie ihm ins Gesicht blickte, schnürte es ihr die Kehle zu. Er war wundervoll.

Wieder schob sich eine düstere Erinnerung vor ihr inneres Auge, und alles in ihr zog sich zusammen. Die Demütigung und Übelkeit stiegen in ihr auf.

Eine Träne quoll ihr aus dem Augenwinkel und rann ungehindert über ihre Wange. Sie fühlte sich beschmutzt und erschauerte bei der Erinnerung, die sich immer stärker in ihr Bewusstsein, in diesen Augenblick drängte. Sie biss sich auf die Lippe und presste sich die Hand vor den Mund und wünschte nichts sehnlicher, als nicht mehr an das denken zu müssen, was sie getan hatte.

Andrew betrachtete sie und sah den Schmerz in ihrem tränenüberströmten Gesicht. Er blickte zu seiner Schulter und spürte, wie Scham in ihm aufschoss. Lily konnte seinen Anblick nicht ertragen.

Sie bemerkte, wie sein Blick härter wurde. Spürte er, was in ihr vorging? Konnte er sehen, was sie getan hatte, dass sie nicht gut genug war?

»Es tut mir leid«, schluchzte sie.

Er presste die Lippen zusammen. Alles, nur kein Mitleid! Er hatte gedacht, Lily hätte über seine Narben hinweggesehen. Aber sie würde nie in der Lage sein, ihn als vollwertigen Mann zu betrachten, nicht, nachdem sie seinen entstellten Körper gesehen hatte. Sie würde nie in der Lage sein, ihn ohne Mitleid, Abscheu und Entsetzen zu sehen.

Lily zog sich zurück und wandte sich von ihm ab. Er hatte genug gelitten. Sie würde ihm nur neue Schmerzen und Demütigungen bringen. Mit der Zeit würde er anfangen, Abneigung ihr gegenüber zu spüren: gegenüber dem, was sie war, und dem, was sie getan hatte. Sie musste ihn gehen lassen.

Andrew sah, wie sie sich von ihm abwandte. Er kam sich wie ein Narr vor, spürte Wut über ihre Ablehnung. Bitterkeit stieg in ihm auf. Er verdrängte jede Erinnerung an ihren Kuss und ihre Berührung. Grob streifte er sein Hemd wieder über, lief wortlos durch das wogende Maisfeld.