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49. Kapitel

Andrew brachte die Jungen ins Bett und kam herunter in die Küche. Eveline hatte bereits eine Tasse Tee für ihn auf den Tisch gestellt und wärmte sich an ihrem eigenen Becher die Hände. Ohne sich vorher dazu verabredet zu haben, wussten beide, dass sie reden mussten.

Andrew nahm einen Schluck. Eveline ließ ihren Blick auf ihrem gutaussehenden Neffen mit der markanten Nase ruhen.

»Du hast gar nicht gesagt, dass Lily und Claire weg sind«, setzte sie schließlich an. In Plum und der näheren Umgebung waren Gerüchte über die beiden verschwundenen Frauen aufgekommen.

Andrew betrachtete die glatte Oberfläche des Tisches. »Da gibt es auch nichts zu sagen.«

»Tja.« Eveline tippte auf den Rand des Bechers. »Ich dachte, du würdest dir vielleicht Sorgen machen. Mrs. Sullivan hat fast einen Anfall bekommen.«

Er lachte freudlos auf. Er wusste genau, wieso Lily verschwunden war. Sie konnte ihm nicht unter die Augen treten, konnte ihn nicht mehr ansehen. Er dachte an ihre letzte Begegnung. »Vielleicht wollte sie ein besseres Leben.« Er trank mit großen Schlucken seinen viel zu heißen Tee. »Vielleicht hat sie einen Mann gefunden, der sie glücklich macht.«

»Den hat sie hier gefunden.«

»Nein, hat sie nicht.« Er biss die Zähne zusammen. »Es ist besser so.«

Eveline starrte ihn an. »Das kann doch nicht dein Ernst sein, Andrew.«

Als er sie kommentarlos ansah, griff sie nach seiner Hand. »Ich weiß nicht, warum sie getan hat, was sie getan hat, aber ich habe mitbekommen, wie sie dich angesehen hat. So ein Blick hat etwas zu bedeuten.«

»Ach, hör doch auf«, entgegnete er scharf und entzog ihr seine Hand. »Es tut mir leid, Tante Eveline, aber ich will einfach nicht über sie reden und auch nie mehr ihren Namen hören.«

Eveline ging nicht darauf ein. »Bist du hungrig? Ich habe Maisbrot da.«

»Nein.« Jetzt wollte er über das reden, was ihm auf dem Herzen lag. Er verdrängte Lily aus seinem Kopf und schloss sie vollkommen aus seinen Gedanken aus. »Wir werden die Farm verlieren.«

»Ich weiß.« Eveline fiel Franks Kuss wieder ein, spürte noch seine salzigen Lippen. Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und spülte den Geschmack mit einem Schluck Tee herunter.

»Dank Mrs. Sullivans Beziehungen zum Westmoreland County können wir sie an jemanden von dort verkaufen. Vom Erlös könnten wir die Familie durchbringen und alles bezahlen, was notwendig ist. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.« Seine Stimme war stark und fest wie die eines viel älteren Mannes.

»Aber es würde nicht reichen, um Franks Darlehen abzuzahlen.«

»Nein.«

»Ich wünschte nur, die Jungen wären älter, um uns helfen zu können. Wenn sie schon groß wären, hätten wir genug Arbeitskräfte.« Ängstlich biss Eveline sich auf die Unterlippe.

»Wenn sie groß wären, würde man sie in den Krieg schicken.«

Daran hatte Eveline noch gar nicht gedacht. Sie sah ihre kleinen Söhne vor sich, wie sie oben in ihren Betten schliefen, ihre unschuldigen Gesichter, ihre weichen Küsse und Umarmungen. Zwar waren sie arm, aber wenigstens würde sie ihre Söhne nicht im Krieg verlieren.

Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Eveline hörte ihren eigenen Herzschlag, langsam und gleichmäßig.

Andrew räusperte sich. »Ich habe beschlossen, zurück ins Kohlerevier zu gehen.«

»Was?«

»Nach der Ernte gehe ich zurück ins Fayette County und schicke euch alles Geld, das ich dort verdiene. Jeden einzelnen Penny. Das sollte hoffentlich reichen, um jeden Monat das Darlehen abzubezahlen. Vielleicht auch noch für mehr.«

Er bemerkte, dass sie auf seinen fehlenden Arm starrte. »Ich weiß. Aber da Krieg ist, haben die Bergwerke nicht genügend Arbeiter. Also wird es ihnen egal sein, dass ich nur einen Arm habe. Die interessiert lediglich, ob ich Kohle abbauen kann.«

Ihr Schock schwand, und sie wurde wütend. »Das kommt nicht in Frage«, sagte sie scharf.

»Ich hab alles durchdacht, aber das ist die einzige Möglichkeit, Tante Eveline.«

Da sah sie ihn fest entschlossen an. »Die Antwort lautet Nein.«

Trotzig erwiderte er ihren Blick. »Das war gar keine Frage.«

»Ich sagte Nein!« Sie stand auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Mag sein, dass du nun das älteste männliche Mitglied der Familie bist, aber ich bin immer noch die Mutter! So lange du unter diesem Dach lebst, wirst du mir gehorchen, junger Mann!«

Es war, als würden die Wände um sie herum zusammenrücken und auf ihre Schultern drücken. Ihre Augen brannten, und am liebsten hätte sie vor Wut und Verzweiflung aufgeheult und geweint darüber, wozu sie ihn mit ihren Handlungen und ihrer Tatenlosigkeit gezwungen hatte: Er wollte sein Leben opfern, um ihre Familie zu retten. »So lange ich lebe, wirst du nie wieder einen Schritt in eine Kohlenmine setzen. Ist das klar?«

Als er den Mund öffnete, um zu widersprechen, unterbrach sie ihn. »Ich habe meine Babys verloren, Andrew, meinen Mann. Aber dich werde ich nicht auch noch verlieren.«

Andrew erhob sich und baute sich vor ihr auf. »Du wirst mich nicht verlieren.« Er straffte die Schultern. »Ich habe dich lieb, Tante Eveline, aber ich bin nicht dein Sohn, sondern ein erwachsener Mann. Mein Entschluss steht fest. Und du kannst mich nicht aufhalten.«

Sie schlug die Hand vor den Mund und fing an zu weinen. Andrew legte den Arm um sie. »Bitte, wein doch nicht. Es tut mir leid, dass ich dich so aufgeregt habe«, sagte er tröstend. »Aber es gibt keine andere Möglichkeit, siehst du das denn nicht? Nicht nur für dich, sondern auch für Will und Edgar ist das der einzige Weg.«

Sie blickte ihm in die Augen. »Gib mir eine Woche, Andrew.« Ihr wurde leichter ums Herz, nun, da sie eine Entscheidung getroffen hatte. »Ich bringe das in Ordnung.«

Er schüttelte den Kopf und wollte ihr widersprechen, aber sie kam ihm zuvor. »Ich bringe das in Ordnung, Andrew. Das schwöre ich.«