Andrew und die Jungen zogen Karotten aus dem sandigen Boden. Die orangefarbenen Wurzeln hingen schlaff in der Luft, bevor sie in die Schubkarre geworfen wurden. Immer wieder schauten er und die Jungs auf die vielen der noch vor ihnen liegenden Reihen, und ihr Rücken schmerzte in der Aussicht auf einen ganzen Tag voller schwerer Arbeit nur noch mehr.
In den kindlichen Gesichtern von Will und Edgar zeigten sich immer noch der Schock und die Verzweiflung über den Verlust ihres Vaters. Sie sprachen kaum und aßen noch weniger, und alle Verspieltheit war von ihnen gewichen. Stattdessen arbeiteten sie hart und beschäftigten unentwegt ihre kleinen Hände. In Andrew sahen sie die einzige Hoffnung, die ihnen verblieben war.
Andrew wusste das, und es schmerzte ihn, denn er würde schon bald gehen, um im Bergwerk zu arbeiten. Es gab keinen anderen Ausweg. Zwar hatte er Eveline versprochen, ihr Zeit zu lassen, alles in Ordnung zu bringen, aber das war unmöglich. Trotzdem wartete er. Eine Woche oder vielleicht auch zwei, bevor er die nötigen Maßnahmen ergriff.
Bis dahin versuchte Andrew, möglichst viel Licht in das Leben der Jungen zu bringen. Er erzählte den Jungen, während sie arbeiteten, alte Volkssagen, die auch sein Vater ihm weitergegeben hatte.
»Braucht ihr ein Paar zusätzlicher Hände?«, rief Peter. Er tauchte vom Hügel auf, und die Sonne schien direkt auf seinen Hinterkopf, so dass sein Gesicht nicht zu erkennen war.
»Ein zusätzlicher Rücken wäre nützlicher.« Andrew streckte sich und hörte, wie seine Wirbel knackten.
Peter ging in der Reihe voran, riss zwei Handvoll Karotten heraus und warf sie auf die Schubkarre. »Kommen raus wie aus Butter«, spöttelte er. »Ihr Holländer seid viel zu weich. Wir Deutschen sind aus härterem Holz.«
Will und Edgar mussten lachten, nur kurz, aber der Anflug von Leichtigkeit schien ihnen neue Kraft zu verleihen. Als die Jungen abgelenkt waren, wandte sich Peter zu Andrew. Seine Miene war ernst. »Ich muss mit dir reden.«
Nach einem Blick ins Gesicht seines Freundes verschlimmerten sich Andrews Befürchtungen.
»Peter und ich arbeiten uns vom Ende der Reihe heran. Wir treffen uns in der Mitte«, erklärte er Will und Edgar. »Wer zuerst da ist, hat gewonnen.«
Sie gingen an den grünen, fedrigen Büscheln vorbei, bis sie außer Hörweite waren. Dann blieb Peter stehen. »Ich habe Lily gesehen.«
Nie hätte Andrew damit gerechnet, dass Peter auf Lily zu sprechen kam. Es traf ihn unerwartet. Lily. Ihr Name löste Herzklopfen in ihm aus. Er biss die Zähne zusammen und verdrängte das Gefühl, das ihn überrollen wollte. »Geht mich nichts an.«
»Sie ist schwanger.«
Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Sein ganzer Körper fühlte sich taub an. Peter kickte ein Steinchen weg und blickte an Andrew vorbei zu dem Wäldchen jenseits des Felds. »Ich dachte, das solltest du wissen. Schließlich könnte es ja deins sein.«
»Nein, ist es nicht«, sagte er mit harter Stimme. Seine Lily erwartete das Kind eines anderen Mannes. Er dachte an Dan Simpson, den Mann mit den brutalen Zügen – und an die beiden zusammen. Noch nie hatte Andrew sich so furchtbar gefühlt. »Ich dachte …« Peter blinzelte nervös. »Ich dachte, ihr beiden hättet …«
»Wir waren nie zusammen«, unterbrach er ihn. »Jedenfalls nicht so.«
Er dachte an jenen Tag im Maisfeld zurück, an ihre letzte Begegnung, bei der sie sich von ihm abgewandt hatte. Die Neuigkeit, die er gerade erfahren hatte, warf ihren Schatten über alle Erinnerungen. Und Lilys Unehrlichkeit verletzte ihn zutiefst.
»Tut mir leid«, sagte Peter, atmete geräuschvoll aus und senkte den Kopf. »Tja, jedenfalls weißt du es jetzt. Ich hab dir ja gesagt, dass denen nicht zu trauen ist.«
Andrew hob den Fuß und zerquetschte mit dem Stiefel ein paar Möhrenbüschel. Sein Magen verkrampfte sich. »Wo hast du sie gesehen?«
»In Pittsburgh.« Mit einem Mal änderte sich die Miene seines Freundes, und er wirkte fast, als hätte er Angst. »In Polish Hill. Sie arbeitet in einem Restaurant.«
»War Claire bei ihr?«
Peter schüttelte den Kopf und wandte das Gesicht ab. Offenbar dachte er an etwas ganz anderes. Andrew beschlichen düstere Vorahnungen.
»Wieso warst du in Pittsburgh?«, hakte er nach – dabei wusste er es längst. »Du hast dich verpflichtet.«
Peter nickte. »Nächste Woche fängt die Grundausbildung an.« Ein Luftzug fuhr durch seine blonden, struppigen Haare. »Pa redet nicht mehr mit mir.«
»Ich werde deiner Familie helfen, Peter.« Andrew dachte an die Kohleminen und die Last, für zwei Familien zu sorgen. Es schien, als hätte sich ein Fluch auf ihre Familien gelegt und alle in einen Abgrund katapultiert. Er würde Peter erst sagen, dass er gehen wollte, wenn es unbedingt nötig war. »Ich arbeite mit Fritz und besorge, wenn nötig, Zusatzkräfte.«
In einem Anfall von Wut und Verzweiflung warf Peter die Arme in die Luft. »Ach, komm schon, Andrew! Du kommst ja schon mit deiner eigenen Farm nicht zurecht. Wie willst du dich auch noch um unsere kümmern? Es ist einfach zu viel für uns alle. Wir gehen unter. Die ganze Welt geht unter!«, schrie er.
Andrew unterbrach ihn. »Der Krieg kann nicht ewig dauern.«
»Doch, kann er.« Peter sah ihm geradewegs in die Augen. »Er kann ewig dauern. So lange, bis wir einer nach dem anderen gefallen sind.« Seine Verbitterung war schwer auszuhalten. Nichts zeugte mehr von seinem einstigen Optimismus, es war, als hätte es ihn nie gegeben.
Als Eveline von der Hauptstraße in den Weg zu den Mortons einbog, klopfte ihr Herz so heftig, dass es schmerzte. Aber als sie schon kehrtmachen wollte, dachte sie an Will und Edgar und daran, was sie erwartete, wenn sie die Farm verlören. Dann bestand keinerlei Hoffnung mehr. Sie wären obdachlos. Also hatte sie keine Wahl. Ich schaffe das. Sie drückte die Hand gegen den Brustkorb, um ihr Herzklopfen zu beruhigen. Sie lehnte sich mit dem Kopf gegen den morschen Türrahmen am Eingang der Mortons und biss die Zähne zusammen. Sie musste an Wilhelm denken. Er fehlte ihr so, dass ihr immer wieder die Luft wegblieb, und doch war sie wütend, dass er sie verlassen hatte. So wütend, dass sie am liebsten um sich geschlagen hätte. Sie verdrängte ihre Sehnsucht nach Wilhelm und drückte ihre Hand gegen den Holzrahmen, bis sich Holzsplitter schmerzhaft in ihre Haut bohrten.
Dann betrat sie ohne anzuklopfen das Haus. Sie schlich über die breiten Bodendielen, hielt kurz inne, und als sie im oberen Stockwerk Schritte hörte, ging sie die Treppe mit dem fadenscheinigen Teppich hinauf. Am Ende des Flurs sah sie Licht. Im Türrahmen des kleinen Zimmers blieb sie stehen. Es wurde von einem großen Schreibtisch dominiert, auf dem eine grüne Bankerleuchte stand. Frank saß vor einem Geschäftsbuch und rieb sich abwesend die Stirn, auf der noch deutlich der Abdruck seines Stetsons zu sehen war, der jetzt am Stuhl hing.
Eveline wartete, bis er sie bemerkte. Frank blickte erschrocken auf, fing dann aber an zu grinsen. »Na, das ist ja mal eine Überraschung«, sagte er gedehnt.
Sie betrat das Zimmer. Jetzt fühlte sich alles in Eveline taub an, ihren Herzschlag nahm sie gar nicht mehr wahr. Sie schloss die Tür und legte den Darlehensvertrag auf den Tisch. »Ich bin bereit, es vollständig abzubezahlen.«
Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Ach, wirklich?« Langsam wanderte sein Blick über ihren Körper. Sie konnte ihn geradezu auf ihrer Haut spüren. Aber sie ließ es zu, stand in Habachtstellung wie ein Soldat, der gemustert wurde. »Woher weißt du denn, dass mein Angebot noch gilt?«, fragte er und sah sie kalt an. »Vielleicht bin ich nicht mehr interessiert.«
»Dann gehe ich wieder.«
Er nickte. Neigte den Kopf zur Seite, um sie aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Dann stand er auf, kam um den Schreibtisch herum und setzte sich auf die Kante. Sie waren nur noch Zentimeter voneinander entfernt und befanden sich auf gleicher Augenhöhe. »Meine Bedingungen haben sich geändert.«
»Inwiefern?«
»Ich kriege alles von dir, was ich will.«
Sie dachte an Andrew und die Kohleminen, schluckte und hielt den Kopf starr erhoben. »Ist gut.«
Er lehnte sich noch schwerer gegen den Schreibtisch und spreizte leicht die Beine. »Und du tust, was immer ich dir befehle.«
In seiner Hand blitzte der Brieföffner. Am liebsten hätte sie ihn Frank mitten ins Herz gestoßen. »Ist gut.«
»Und …«, er hob die Hand und umfasste grob ihre Hüfte, »es muss dir gefallen. Du musst mir zeigen, wie sehr es dir gefällt.«
Sie spürte einen bitteren Geschmack im Mund und zwang sich zu einem knappen Nicken.
Da packte er sie an der Taille, presste seinen Mund hart auf ihren und schob ihr seine Zunge tief in den Mund. Eveline entzog sich. »Nicht, bis du mich aus dem Darlehensvertrag entlassen hast.«
Er lachte und atmete schwer. An seiner Hose sah sie, dass er erregt war. Schnell drehte er sich um, schnappte sich einen Stift und kritzelte etwas unter das Dokument. Sie wischte sich den Mund ab und wollte ihm am liebsten vor die Füße spucken.
Mit einem letzten ungeduldigen Schnörkel setzte er seine Unterschrift unter das Schriftstück, drehte sich um und sagte, bevor er sie wieder küsste: »Nicht vergessen, du musst mir zeigen, wie sehr es dir gefällt.«
Eveline ließ ihn ihre starren Lippen küssen. Sie kniff die Augen zu, gab sich seinen keuchenden Küssen hin, achtete auf seinen Rhythmus und konzentrierte sich so darauf, sich ihm anzupassen, dass das Ganze kein Kuss mehr war, sondern nur noch ein mechanischer Akt, zu dem keinerlei Gefühl nötig war.
Sie hasste ihn, und doch schenkte sie ihm ihren Körper. Sie nutzte ihren Hass, um ihm Leidenschaft vorzuspielen und das Hemd so heftig aufzureißen, dass die Knöpfe aus ihren Löchern sprangen. Sie erwiderte seinen Kuss und biss ihm hart auf die Lippe. Ganz kurz entzog er sich ihr, dann machte er sich ungeduldig an ihrer Knopfleiste zu schaffen, die ihr vom Schlüsselbein bis unter die Taille reichte. Sie zerrte ihm das Unterhemd über den Kopf, warf es zu Boden, küsste seinen Brustkorb und biss ihm grob in die Haut. Sie krallte sich an seinen Rücken, wusste, dass er blutige Striemen bekam, und biss ihn noch fester in die Brust.
Er wand sich, hin und her gerissen zwischen Schmerz und Lust, und knurrte, an ihren Hals geschmiegt: »Ich wusste doch, dass du eine Wildkatze bist.«
Dann richtete er sich auf, hob sie hoch und setzte sie auf den Schreibtisch. Er schob ihr Kleid und das Hemdchen beiseite, bis ihre Brüste unter dem Stoff hervorquollen, riss das Kleid an ihren Schultern auseinander und entblößte sie.
An seiner Ungeduld merkte sie, dass es schnell gehen würde, daher beeilte sie sich. Sie packte seine perlenbesetzte Gürtelschnalle, die sie in einem anderen Leben so fasziniert hatte, und zerrte daran, bis der Gürtel sich löste und schlaff an seiner Taille herunterbaumelte. Sie knöpfte den Hosenschlitz auf, schob ihre Hand hinein und griff hart zu.
Er stöhnte ihr laut ins Ohr und streifte ihre Kleider ab, so dass sie zu Boden glitten. Mit den Knien zwängte er ihre Beine auseinander. Sie streichelte ihn, strich mit den Nägeln über seine empfindsame Spitze und sah, wie sich sein Gesicht vor Druck und lustvollem Schmerz verzerrte. Sie schob ihm die Hose von den Hüften, lehnte sich auf dem Schreibtisch zurück, spreizte die Beine und zog ihn zu sich. Sofort drang er in sie ein und stieß heftig gegen ihre Leisten. In nicht mal einer Minute war er fertig, stieß tief in sie hinein und knurrte an ihrem Hals, als er sich in ihr ergoss. Nein, mahnte sich Eveline, ich bin kein Opfer. Das Opfer war er. Sie nahm ihn in sich auf und sah mit kalten Augen zu, wie dieser schwache Mann seinen dürftigen Spaß hatte.
Sie lag auf dem Schreibtisch, während Frank, immer noch zwischen ihren Schenkeln, sich langsam beruhigte. Der Brieföffner lag dicht bei ihrer Hand, sie sah ihn aus dem Augenwinkel und dachte, wie leicht es doch wäre, ihn zu ergreifen und Frank tief in den Hals zu stoßen.
Sie wandte den Kopf von dem keuchenden Mann ab. »Ich ziehe mich wieder an«, sagte sie, aber er schüttelte den Kopf und hielt sie auf.
»Wir sind noch nicht fertig.«
Sie sah ihn hasserfüllt an, doch als Reaktion darauf lachte er nur genüsslich. Ihr sank das Herz. Sie schloss die Augen, weil sie begriff, dass es dumm gewesen war zu glauben, er würde sie so leicht vom Haken lassen.
»Bist du religiös, Eveline?«
Sie antwortete nicht. Er bedachte sie mit einem eindringlichen Blick. »Es gibt eine Geschichte über Adam und Eva, die du nicht in der Bibel findest. Eine ganz alte Geschichte.« Er streckte die Hand aus und strich ihr über die Brust, kniff in ihre Spitze. »In der Geschichte heißt es, dass Adam erst eine andere Frau hatte, Lilith. Aber Lilith war böse, verstehst du? Unrein. Sie war Adam keine gute Ehefrau und wollte ihm nicht gehorchen. Sie verließ ihn und den Garten Eden und versteckte sich in einer Höhle, um von da aus Böses zu wirken.«
Frank fuhr mit dem Finger zwischen Evelines Brüsten hinab und fuhr fort: »Wie du dir denken kannst, war Adam sehr wütend und verzweifelt über seine erste Frau. Aber Gott hatte Mitleid mit ihm und erschuf Eva.«
»Ich brauche keine Lektion, Mr. Morton«, zischte Eveline.
Darauf lachte er nur. »Findest du das nicht wenigstens interessant? Schließlich haben wir hier meine Schwägerin namens Lilith, Lily, die sich weigert, mir zu gehorchen, und mit meiner Frau wegrennt. Und dann kommst du, liebe Eva, zu mir und bietest mir deinen Körper an. Kommt dir das nicht vor wie Schicksal?«
»Mein Name ist nicht Eva, sondern Eveline Kiser.«
Das überging er. »Und du bist von Anfang an meinem Charme erlegen«, fuhr er fort. »Eva konnte es einfach nicht abwarten, vom Apfel zu kosten.« Er berührte die roten Bissspuren an seiner Brust. »Eva wollte unbedingt vom Apfel abbeißen, oder?«
»Die Geschichte habe ich sowieso nie geglaubt«, antwortete sie tonlos. Sie wollte nach dem Darlehensvertrag greifen, aber Frank war schneller und schob ihn aus ihrer Reichweite. »Ich hab doch gesagt, dass wir noch nicht fertig sind.«
Fast liebevoll berührte er ihr Gesicht, strich ihr über Kinn und Wangen und fuhr ihr durch das Haar. Dann drückte er seine Hand auf ihren Kopf und schob sie nach unten, immer tiefer. Sie wusste, was er wollte, und ihr drehte sich der Magen um.
»Auf die Knie, Eva.«
Als Eveline Kiser das winzige Arbeitszimmer verließ, war es draußen schon finster. Sie fühlte sich betäubt. Wärme oder Kälte spürte sie nicht mehr. Nie hätte sie sich vorstellen können, dass Menschen solche Dinge miteinander tun konnten wie sie in diesem Zimmer. Jetzt war sie körperlich und seelisch wund, aller menschlichen Würde beraubt und fühlte sich kaum noch wie eine Frau, sondern eher wie Nutzvieh.
Durch die Küche der Mortons taumelte sie hinaus ins Freie, den Weg zur Straße hinauf. Die Luft brannte in ihren Lungen, als sie losrannte, sie merkte jedoch erst, dass sie rannte, als die Sterne und der Mond vor ihren Augen verschwammen, als sie den Blick hob. Sie blieb stehen und schrie, heulte den Mond an wie ein verwundeter Wolf, bis sie mitten auf der Straße auf die Knie sank und die winzigen Schottersteinchen sich in ihre Haut bohrten. Aber auch das fühlte sie nicht. Dann mühte sie sich hoch. Ihre Schenkel zitterten und fühlten sich wund an. Aber sie war kein Opfer, im tiefsten Innern wusste sie das. Was sie getan hatte, war kein Geschlechtsakt gewesen, sondern ein Kampf gegen den Mann, der versucht hatte, ihre Familie zu zerstören. Und sie hatte gewonnen. Sie hatte ihn mit ihrem Körper manipuliert, hatte seine Schwäche ausgenutzt.
Doch sie fühlte sich, als wäre dabei nichts von ihr übrig geblieben. Sie hatte alles eingesetzt, und jetzt lag sie verwundet und halb tot am Boden.
Ihr Körper fühlte sich an wie eine einzige Wunde, als sie aufstand und langsam, Schritt für Schritt, über die Straße taumelte. Vorwärts. Als sie ihre Farm vor sich sah, rannte sie wieder los, stürzte auf die Lichter zu, auf ihre Sicherheit und Wärme. Dort, in ihrem Haus, würde sie sich kochend heiß waschen und damit die letzten Spuren dieses Mannes, die Erinnerungen in ihrem Kopf zerstören. Sie würde ihre Kinder in den Arm nehmen und ihnen sagen, dass alles wieder gut würde. Sie würde ihrem Neffen mitteilen, dass er nicht mehr zu einem Leben unter der Erde verurteilt war. Aber ein Teil in ihr befürchtete, sie wäre nicht in der Lage, auch nur ein Wort herauszubringen, weil sie unter der Last ihrer Tat zusammenbrechen würde.
Eveline bog in die Zufahrt ein und betrat ihr Zuhause. Andrew und die Jungen waren mit einer Laterne im Garten, um zu sehen, ob sie es war, die auf sie zukam. Sie versuchte, ihre Haare zu richten und zu verbergen, was sie gerade gemacht hatte.
Ihr kleiner Edgar rannte ihr entgegen. Mit Tränen in den Augen lächelte sie ihrem unschuldigen Kind zu. Sie breitete die Arme aus, um ihn aufzufangen.
Doch er hämmerte stattdessen mit Fäusten auf sie ein. »Wo warst du?«, brüllte er. Tränen strömten ihm übers Gesicht. »Wir hatten kein Abendessen. Du hast nicht gesagt, wo du bist!«
Sie erstarrte, sosehr überraschte sie die Wut des Jungen. Er schrie: »Du denkst nur an dich! Seit Papa tot ist, siehst du uns gar nicht mehr!« Er zitterte vor Zorn. »Wir sind dir egal!«
Sie blinzelte gegen ihre eigenen Tränen an, und ohne nachzudenken, schlug sie ihrem Sohn hart ins Gesicht.
»Wie kannst du es wagen?«, schrie sie ihn an.
»Das reicht!« Andrew packte sie am Arm und starrte ihr so fest in die Augen, dass sie allmählich wieder klar denken konnte.
Sie entzog ihm ihren Arm, und als sie ihr Kind weinend vor sich stehen sah, verschwamm alles vor ihren Augen. Sie stürzte, über Steine und Wurzeln stolpernd, zum Haus. Sie griff nach der Axt hinter dem Holzstapel, lief damit zum Apfelbaum, holte weit aus und schlug wie eine Wahnsinnige auf den Stamm ein.
»Wie konntest du!«, heulte sie und schwang die Axt immer wieder gegen den Stamm, von dem nur ein winziges Stück Rinde abplatzte. »Wie konntest du mich im Stich lassen!«
Weinend schlug sie auf den Baum ein, bis ihr Körper zu erschöpft war und sie nicht mehr die Arme heben konnte. Sie ließ kraftlos die Arme sinken und stand einfach nur weinend neben dem Baum, bis Andrew leise zu ihr trat und sie fest in den Arm nahm. Er hielt sie wortlos fest, und sie schluchzte verzweifelt an seiner Schulter.
Andrew brachte sie ins Bett und bemerkte die Risse und Flecken auf ihrem Kleid. Plötzlich roch er Franks Duftwasser auf ihrer Haut. Da fiel der zerknüllte, annullierte Darlehensvertrag aus ihrer Tasche. Und während sie heftig schluchzte, dämmerte ihm, was sie getan hatte. Ich bringe das in Ordnung, hatte sie gesagt. Er breitete eine Decke über sie und verließ das Zimmer.
Andrew brachte die Jungen zu Bett und umarmte sie, ließ sie in Ruhe um ihren Vater und ihre abwesende Mutter weinen. Er hielt sie fest, bis sie sich in den Schlaf geweint hatten.
Endlich war es still im alten Farmhaus. Andrew setzte sich auf die Kante von Wilhelms Bettseite und starrte auf seine Hand, die auf seinem Knie lag. Er beugte die Finger und streckte sie wieder. Dann stand er auf, ging zielstrebig die Treppe hinunter und verließ das Haus.
Er holte die Axt, die noch dort lag, wo seine Tante sie fallen gelassen hatte, und starrte auf den riesigen alten Apfelbaum. Andrew berührte die Stelle an der Rinde, in die Lily ihren Namen geritzt hatte. Der junge Mann strich über die dicke, raue Rinde und lehnte einen Augenblick lang die Stirn dagegen. Dann holte er aus und schwang die Axt heftig gegen den Baum, so gut es mit nur einem Arm ging. Er zerrte die Axt aus der Kerbe und schlug erneut so heftig zu, dass ihm ein scharfer Schmerz durch die Schulter fuhr. Er hieb die Axt wieder auf die Kerbe, immer wieder und wieder. Sein Arm schmerzte, und seine Finger bekamen nach einer Weile Blasen, aber er hörte nicht auf. Wieder und wieder und wieder schlug er zu.
Irgendwann fing seine Hand zu bluten an, aber er hielt nur kurz inne, um sie an der Hose abzuwischen. Die Kraft ging ihm aus, doch dann dachte er an alles, was seiner Familie in den letzten Jahren widerfahren war, und Zorn strömte heiß durch ihn. Er nahm die Axt und schlug zu, immer wieder.
Lily. Andrew dachte an die Frau, die er geliebt hatte. Doch sie hatte ihn verlassen, ihn offenbar nie richtig geliebt. Er hatte sich gedemütigt gefühlt, wertlos. Aber damit war jetzt Schluss.
Immer tiefer wurde die Kerbe im Baumstamm. Ein Riss tat sich auf, und aus dem Stamm drang ein Ächzen, und Andrew schlug weiter. Er würde sich nie mehr verstecken, sich nie mehr minderwertig fühlen. Er konnte einen ganzen Baum mit einer Hand fällen. Er würde es schaffen. Schließlich neigte sich der Baum kurz vor Morgengrauen langsam zur Seite, knackte tief in seinem Innern und ging krachend zu Boden.
Als die Jungen vom Rauchgeruch aufwachten und aus dem Haus liefen, sahen sie, dass der Baum brannte. Andrew lief um die Krone herum und schob immer wieder brennende Äste ins Feuer, um es zu begrenzen. Die Jungen brachen Zweige ab und warfen sie in die Flammen. Eveline trat zu ihnen in den Rauch und schlang eine graue Wolljacke eng um ihre Schultern. Sie beobachtete, wie die alten Äste sich krümmten und verbrannten, und schien daraus Kraft zu ziehen. Als nur noch das kohlschwarze Gerippe vor sich hin rauchte, ging Andrew zu Eveline. »Ich muss nach Pittsburgh.«
Sie nickte. Ihre Augen wirkten ruhig, fast zufrieden. Andrew ignorierte seine blutende Hand, seinen schmerzenden Arm, seinen Hunger und seine Erschöpfung von der schlaflosen Nacht und ging zu den Muellers, um sich ihren Wagen zu leihen. Er musste es sofort tun, solange er noch die Kraft hatte.