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51. Kapitel

Polish Hill lag auf einem Hügel über der Stadt, mit Blick auf die rauchenden Hüttenwerke. Die Häuser und Hütten aus Stein und Holz befanden sich in verschiedenen Stadien des Verfalls und unterschieden sich darin in nichts von den Behausungen der Immigranten im ganzen Land, die in Raffinerien und Fabriken arbeiteten. Die rußgeschwärzten Bauten hatten eingesunkene Dächer und gesprungene Fenster, die nur notdürftig mit vergilbten Zeitungen geflickt waren.

Das Speiselokal befand sich an einer Straßenecke. Das Gebäude selbst war ein quadratischer Kasten mit einem Flachdach und einer vollkommen schwarzen Brandwand mit Schornstein. Der Geruch nach Zwiebeln, Kartoffeln und Fett drang aus allen Häusern und am stärksten aus dem kleinen Lokal.

Nun, da Andrew hier war, wollte er nicht hineingehen und wusste nicht mehr, was er hatte sagen wollen. Durchs Fenster konnte er Lily zwischen den Gästen nicht entdecken. Er schob seine notdürftig verbundene Hand in die Hosentasche, ging um das Gebäude herum und lehnte sich gegen die rückwärtige Wand. Als seine Finger den Ring in der Tasche ertasteten, freute er sich schon darauf, ihn in den Fluss zu schmeißen, wenn das alles vorbei war, zu all dem anderen nutzlosen Abfall, der Pittsburghs Gewässer verstopfte.

Ganz kurz überlegte er, ob er wieder nach Hause fahren sollte, entschied sich aber dagegen. Ohne eine Erklärung würde er nicht gehen. Er würde erst verschwinden, wenn er Lily ein für alle Male hinter sich gelassen hatte.

Unter der stählernen Hintertür drangen Essensgerüche hervor. Küchengeräusche hallten zwischen den Mauern wider: das Klappern großer Töpfe, undeutlich polnisch und englisch sprechende Stimmen, laute Befehle.

Die Stahltür ging auf, und heraus drang ein Schwall warmer Luft, bevor die Tür sich wieder schloss. Lily zog mit beiden Händen einen Müllsack hinter sich her. Andrew stieß sich von der Wand ab und spürte, wie sich Unruhe in ihm ausbreitete.

Sie hatte die Haare zu einem Zopf geflochten, aber wirre Strähnen umgaben ihr Gesicht. Ihr Kleid war fleckig und fettbespritzt. Sie trug eine blaue Jacke, die ihr bis über die Hüften ging und viel zu lange Ärmel hatte, so als gehörte sie eigentlich einer viel größeren Frau. Lily sah darin winzig und zerbrechlich aus.

Als sie den Metalldeckel des großen Müllbehälters anhob, stieg eine Wolke aus Fliegen auf, aber das schien sie gar nicht zu bemerken. Sie hob nur den Abfallsack und ließ ihn mit einem dumpfen Schlag hineinfallen. Dann wischte sie sich mit dem Ärmel über die Stirn und schloss die Augen.

Sie wirkte so müde. Ein Teil von ihm wäre am liebsten zu ihr gestürzt, hätte sie in den Arm genommen und ihren Kopf an seine Schulter gedrückt. Er wollte ihr durchs Haar streichen, sie sanft küssen und ihr befehlen, sich auszuruhen, sich an ihn zu lehnen und von ihm stützen zu lassen. Doch als Lily ihre Hände gegen den Rücken drückte und sich streckte, wurde die leichte Wölbung ihres Bauchs unter der Jacke sichtbar.

Dieser Anblick schmerzte ihn mehr, als er angenommen hatte. Peter hatte recht gehabt. Ihm wurde flau im Magen. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er in der Hoffnung hergekommen war, sein Freund hätte sich geirrt, dass es sich um ein schreckliches Missverständnis handelte, und Lily immer noch die seine wäre. Doch diese Hoffnung war zerstört. Jetzt blieb ihm nichts mehr, als sie endgültig gehen zu lassen.

»Lily.«

Die junge Frau schrak zusammen und wirbelte herum. Andrew löste sich aus dem Schatten. Ihre Miene wurde ausdruckslos, und unwillkürlich zog sie die Jacke um ihre Mitte zusammen, umklammerte sie fest und starrte ihn unsicher an.

»Was machst du hier?«, fragte sie kaum hörbar.

»Ich musste es mit eigenen Augen sehen. Um ganz sicher zu sein.«

Heftig schüttelte sie den Kopf. »Aber wie? Woher wusstest du …?«

»Von Peter.« Reglos stand er vor ihr. »Er hat dich hier arbeiten sehen.«

Lily umklammerte noch fester ihre Jacke und senkte den Blick zu Boden. »Tut mir leid.« Eine Träne quoll ihr aus dem Augenwinkel und rann über ihre Wange.

Andrew nickte. Sein Magen hatte sich zu einem Knoten verkrampft. »Du hättest es mir sagen können, Lily.«

Sie drückte den überlangen Ärmel an ihren Mund, krümmte sich zusammen und erstickte ihr Schluchzen. Er sah, wie ihre Schultern bebten, betrachtete die Frau, die er liebte, und prägte sich ihren Anblick ein, bevor er sich für immer von ihr verabschieden würde. Es gab nichts mehr zu sagen. Er spürte weder Wut noch Bedauern, sondern nur noch die Betäubung und die Bereitschaft, zu gehen und alles hinter sich zu lassen.

Er wandte sich ab. »Ich hätte alles für dich getan, Lily. Es tut mir leid, dass du dachtest, ich wäre nicht gut genug für dich.«

»Gut genug?«, stieß sie hervor.

Er blickte ihr kurz in die verweinten Augen. »Ich hoffe, der andere, wer auch immer er sein mag, behandelt dich gut. Ich hoffe, er liebt dich nur halb so sehr, wie ich dich geliebt habe.«

Sie riss den Mund auf und verzerrte angewidert das Gesicht. »Du glaubst, der Mann, der hierfür verantwortlich ist, liebt mich?«

Doch Andrew hörte ihr gar nicht mehr zu, so sehr schmerzte ihn die Enttäuschung. »Leb wohl, Lily.«

Da lief sie ihm nach, packte ihn am Arm und riss an seinem Ärmel. »Glaubst du etwa, das hätte ich gewollt? Glaubst du, ich habe dich verlassen, weil du nicht gut genug für mich bist?« Ihr Schluchzen wurde zu einem Schrei. Sie hatte die Augen aufgerissen und starrte ihn mit wildem Blick an.

Er war müde. »Ach, lass doch«, sagte er matt.

»Wie kannst du das nur glauben?« Sie schlug ihm schwach gegen den Arm. »Wie kannst du nur glauben, ich würde dich nicht lieben? Ich bin diejenige, die nicht gut genug ist. Verstehst du das denn nicht?«

Er kniff die Augen zusammen und wollte nur noch gehen. Lilys ganzer Körper zitterte. »Weißt du nicht, was ich bin?« Sie schlug sich gegen die Brust. »Siehst du das nicht? Sieh mich doch an!«

Als er sah, wie sie vor Zorn und Schmerz am ganzen Körper zitterte, spürte er die alten Gefühle wieder in sich aufkeimen. Mit einem Mal verpuffte ihre Wut und ihre Kraft, und sie sank zu Boden. Sie barg das Gesicht in ihren Händen und schluchzte so heftig, dass ihr schmaler Körper durchgerüttelt wurde. Dann hob sie das Gesicht und schaute ihn offen an. »Siehst du das denn nicht? Ich bin diejenige, die nicht gut genug für dich ist. Das war ich nie.«

Andrew kniete sich vor sie. »Warum sagst du das?«

Ihr Kinn zitterte, und er sah ihr an, dass sie zutiefst erschöpft war. »Glaub mir, du willst nichts mit mir zu tun haben, Andrew.« Sie hob die Hand und berührte seine Wange. »Aber jetzt weißt du, was ich bin.«

Er nahm ihre kalte Hand in seine, und sie lag schlaff in seiner warmen Handfläche. »Du redest wirres Zeug.«

Ihre Tränen waren versiegt, und ihre Augen starrten ihn trüb und schläfrig an, als nähme sie ihn gar nicht mehr richtig wahr. »Ich wollte nicht mit diesem Mann zusammen sein. Das schwöre ich bei Gott. Ich wollte das nicht.«

Andrew dachte an Dan Simpsons selbstgefälliges Gesicht. »Hat Dan dich dazu gezwungen?«

»Dan?« Lily wirkte verwirrt. »Den hab ich nicht mehr gesehen, seit ich ihm eins mit dem Stein übergezogen habe.«

Eine ganze Weile starrten sie sich nur wortlos an, bis Lily resigniert den Kopf schüttelte. »Verstehst du denn nicht?«

»Nein.«

Da fing sie an zu weinen, als würden seine Worte ihr weh tun. »Ich habe meinem Körper einem Mann überlassen, Andrew.« Sie verzog gequält den Mund. »Wie eine Hure. Es ist ganz gleich, dass ich es nicht wollte, dass ich geweint und mich gewehrt habe.« Ihre Stimme klang dumpf und leblos. »Frank hat mich gezwungen. Er befand sich in einer schlimmen Lage, hatte einen Haufen Spielschulden. Sonst würde er Claire dazu zwingen, wenn ich mich weigerte. Er drohte, er würde ihr die Seele aus dem Leib prügeln.«

Ihre Stimme wurde immer leiser. »Ich konnte nicht zulassen, dass Claire weh getan wird. Das konnte ich einfach nicht. Sie hat mich ihr ganzes Leben lang beschützt.«

Sie wandte ihm ihre Augen zu. Sanft legte sie ihre Hand auf ihren Bauch. »Und jetzt bekomme ich ein Kind.« Sie verzog das Gesicht. »Um das ich mich kümmern muss. Es ist schließlich nicht ihre Schuld, wie sie entstanden ist.«

Jetzt lächelte sie. »Ich bin kein guter Mensch, Andrew. Das war ich nie. Es tut mir leid, dass ich dir weh getan habe. Du bist ein Engel, und ich hatte kein Recht, dich und deine Familie zu beschmutzen.«

Als sie ihn ansah, war ihr Gesichtsausdruck trotz ihrer Verzweiflung zärtlich. »Jetzt weißt du es. An jenem Tag, an dem wir zusammenkamen, wollte ich nichts mehr in der Welt, aber ich hatte ständig vor Augen, was ich getan hatte. Ich hatte kein Recht, mit dir zusammen zu sein, nachdem ich doch schon mit diesem anderen Mann zusammen war. Du verdienst ein besseres Mädchen. Aber jetzt kannst du dein Leben leben und unsere Geschichte hinter dir lassen. Ich hoffe, dass du glücklich wirst«, fügte sie mit leiser Stimme hinzu. Sie richtete sich auf, legte die Hände auf ihren Bauch und blickte zur Stahltür des Lokals. »Ich muss wieder an die Arbeit.«

Sie wandte sich um und ging niedergeschlagen auf das lärmende, schmutzige Gebäude zu. Sie streckte den Arm aus, um die Hintertür zu öffnen.

»Lily.«

Sie kniff die Augen zu und drückte den Griff herunter.

Mit einem Mal stand Andrew dicht neben ihr. Sein Entschluss stand fest. Er fasste Lily am Arm und umschloss mit der Hand ihre kalten Finger. »Heirate mich.«

Sie senkte den Kopf. »Bitte lass das«, flehte sie ihn an.

»Heirate mich, Lily.« Er zog sie an seine Brust, lächelte in ihre Haare und drückte ihre schmalen Schultern fest an sich. »Mein Gott, Lily, siehst du nicht, dass ich dich liebe? Nichts von all dem war dein Fehler. Du trägst keinerlei Schuld. Du hattest genauso wenig eine Wahl wie dein Baby.«

»Nein.« Lily wollte ihn wegschieben. »Du irrst dich …« Aber er unterbrach sie mit einem Kuss. Er küsste sie mit lächelnden Lippen, und dann küsste er sanft ihre Nase und ihre Stirn, um ihr allen Kummer zu nehmen, den sie hatte erleiden müssen. Er umfasste ihre Wange und legte seine Stirn an ihre. Dann zog er den Ring aus seiner Tasche und steckte ihn ihr an den Finger. »Heirate mich, Lily. Komm mit mir zur Farm zurück, wir ziehen das Baby gemeinsam auf. Claire kann auch mitkommen. Dort werdet ihr in Sicherheit sein. Ich schwöre, ich lasse nicht zu, dass euch noch mal etwas passiert; ich werde euch alle beschützen. Das schwöre ich.«

»Wir können nicht zurück. Wenn Frank das rausfindet, weiß ich nicht, was er tut. Er lässt dich ins Gefängnis werfen oder noch Schlimmeres.«

»Wir überlegen uns was. Ihr werdet in Sicherheit sein. Darauf hast du mein Wort.« Wieder küsste er sie. »Ich liebe dich, Lily. Sag, dass du mich heiratest.«

Sie drückte die Hand auf ihren Mund, weinte und lachte zugleich und rang um Worte. »Ich – ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Sag Ja.«

Sie schloss die Augen und klammerte sich an ihn, als würde sie ertrinken. »Ja.«