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53. Kapitel

Andrew wartete bei den leeren Ställen in der Scheune der Mortons. Bevor Lily mit Claire geflohen war, hatte sie nach einer Lösung für die Tiere gesucht. Frank hätte sie einfach verhungern lassen. Es gab keinerlei Spur von den Tieren, die verschwunden waren, aber hätte man den alten Stevens und seine Frau Bernice besucht, in ihrer winzigen Hütte tief im Wald, dann hätte man bemerkt, dass das Pärchen frische Butter auf sein warmes Brot schmieren konnte und mehr Eier im Korb hatte, als es in einer Woche verdrücken konnte.

Andrew lehnte sich gegen das morsche Holz der heruntergekommenen Scheune. Schwärme von Fliegen wimmelten in den mit Stroh und Dung gefüllten Ecken. Der Hühnerstall hatte schon vor langer Zeit seinen Zaun eingebüßt, so dass man jetzt die Spuren von alten Körnern in der festgestampften Erde sah. Empörung stieg in ihm auf. Am liebsten hätte er mit der Faust gegen das Holz der alten Scheune geschlagen. Dies war Lilys Leben gewesen, und es drängte ihn, den Schmutz und Gestank ebenso gründlich zu entfernen wie den Apfelbaum – ihre Vergangenheit in Rauch und Asche aufgehen und vom Winde verwehen zu lassen.

Nachdem sie sich geliebt hatten, hatte Lily ihm alles erzählt. Von ihrem Leben mit ihrem Vater und von den Torturen, die Claire über sich hatte ergehen lassen müssen. Voller Scham, mit zittriger Stimme hatte sie ihm gestanden, dass Claire nicht nur ihre Schwester war. Er hatte sie schweigend im Arm gehalten, als sie sich zitternd an ihn drückte. Sie hatte ihm von Claires Fehlgeburten erzählt, von den Tees, die Frank ihr immer zu trinken gab, sobald sie schwanger wurde. Und sie erzählte ihm, wozu er sie gezwungen hatte. Das erste Mal mit vierzehn. Beim zweiten Mal war sie schwanger geworden. Ein drittes Mal würde es nicht geben.

Jetzt, in der feuchten Scheune, spürte Andrew nur Zorn. Allein von dem Gedanken daran, was Frank seiner eigenen Familie und insbesondere Eveline angetan hatte, drehte sich ihm der Magen um. Peter hatte ihn zwar gewarnt, aber nicht mal er hatte das Ausmaß von Frank Mortons Schandtaten erahnen können.

Der alte Ford kam herangekrochen, stieß dichte Rauchwolken aus und hüpfte mit den alten Rädern über den schmalen, steinigen Weg. Andrew wich in den Schatten zurück und sah ihm durch die offene Scheunentür entgegen. Der Wagen blieb stehen.

Einen Plan hatte Andrew nicht. Da er keine Waffe mitgebracht hatte, sah er sich in der Scheune nach etwas Geeignetem um. Dann blickte er auf seine Hand. Nein. Es würde Faust gegen Faust gelten.

Frank stolperte aus seinem Wagen. Sein Hemd hing ihm lose aus der Hose, und sein Gesicht war von einem ungepflegten Bart verdeckt. Aus dem Wagen fiel eine Ginflasche und rollte über den Schotter. Frank bückte sich, um sie aufzuheben, sah, dass sie leer war, und trat sie einfach beiseite. Er schwankte zur Ecke des Hauses, stützte sich mit der einen Hand auf das krumme Fallrohr, fummelte mit der anderen an seinem Hosenschlitz und erleichterte sich zwischen Schotter und Mörtel. Er schwankte, dann hielt er inne.

Er umklammerte mit der linken Hand das ächzende Fallrohr, und übergab sich. Vor Ekel und Hass wandte Andrew sich ab. Er konnte den Mann leicht überwältigen, ob er nun betrunken war oder nicht. Er konnte ihn zu Brei schlagen, windelweich prügeln. Aber dann dachte Andrew an Lily und das Kind, das sie unter dem Herzen trug. Er würde Vater werden. Er musste für eine Familie sorgen. Er dachte an den Krieg, an das viele vergossene Blut, das die ganze Welt zu tränken schien und die Gewalt nährte, die immer mehr eskalierte.

Er wandte sich wieder zu Frank. Der Mann spuckte aus und taumelte zur Veranda, ohne zu bemerken, dass seine Hose immer noch herunterhing. Dann fing er an zu husten, als hätte er sich verschluckt. Franks Gesicht lief blau an. In seinen Hustenkrämpfen taumelte er orientierungslos umher, als wüsste er nicht, wohin mit sich.

Andrew gefror das Blut in den Adern. Sie alle hatten von der Influenza gehört, die Europa heimgesucht hatte und ein paar Monate zuvor Kansas erreicht hatte. Vor Kurzem dann war sie in die engen Wohnstraßen von Pittsburgh eingedrungen. Langsam breitete sich der Virus über das ganze Land aus und leerte Schulen, öffentliche Plätze und sogar die Kirche.

Frank war nicht nur betrunken. Er war krank.

Andrew wich zurück und drückte sein Hemd gegen seine Nase, als würden die giftigen Keime schon nach ihm ausschwärmen. Er wartete, bis Frank ins Haus schlich.

Er zwang sich, sich zu entspannen. Zwar konnte er ins Haus gehen und Frank ganz einfach töten. Aber er würde keinen Tropfen Blut mehr vergießen. Frank würde büßen, auf die eine oder andere Weise, aber nicht durch Andrews Hand – nicht durch die Hand, die in naher Zukunft Lilys und sein Kind halten würde.