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54. Kapitel

Mach jetzt mal Pause«, empfahl Eveline.

Lily zerquetschte die grünen Tomaten und den Knoblauch zu einer breiigen Masse für Evelines Senfgemüse, wischte sich die Hände ab und folgte ihrem Rat. Im letzten Monat hatte sie sich ihre Aufgaben gesucht, und das Haus war sauber und die Jungen gut genährt wie noch nie.

Tagsüber blieben die beiden Frauen im Haus, um das Risiko zu mindern, von Frank gesehen zu werden. Aber in der Dämmerung tauchten sie aus der Küche auf und setzten sich in die Wärme der untergehenden Sonne. Lilys Bauch wurde immer größer, und sie selbst wirkte immer gesünder und glücklicher.

Lily brachte Edgar und Will bei, wie man Tiere zeichnete und einen perfekten Teigdeckel ausrollte. Abends, wenn das Baby in ihrem Bauch herumtollte, durften sie ihre Hände darauflegen. Im Gegenzug las Will Lily vor, brachte ihr die einfachen Wörter bei, die er in der Schule gelernt hatte, und führte ihren Finger, wenn sie die einzelnen Buchstaben nachzeichnete.

Peter Mueller war in den Krieg gezogen. Zwar sahen sich die Familien so oft wie möglich, doch da es Haupterntezeit war, hatten sie fast ununterbrochen auf den Feldern oder mit den Tieren zu tun. Allerdings kam Fritz häufig zu ihnen und brachte Anna mit. Dann half er Andrew auf den Feldern, als wäre ein Tagwerk auf seiner eigenen Farm für ihn nur ein Spaziergang.

In jenen Wochen beobachtete Eveline ihren Neffen mit wachsendem Stolz und sah zu, wie er und Lily einander mit Liebe und Respekt begegneten. Andrew arbeitete hart. Eveline trauerte um Wilhelm, aber es gab manchmal Tage, an denen sie glücklich war, wirklich glücklich. Der Schmerz und die Sehnsucht ließen allmählich nach und wurden erträglich.

Der Krieg gegen Deutschland dauerte an. Die Kisers beteten für Peter und schickten Lebensmittel und Wollsocken zum Roten Kreuz, wann immer sie dazu in der Lage waren.

Außerdem war da ja noch das Baby. Das neue Leben, das in Lilys Bauch heranwuchs. Alle im alten Farmhaus liebten dieses Kind, waren stolz auf das Ungeborene und fühlten sich dafür verantwortlich.

Eines Tages arbeitete Andrew auf dem hoch gelegenen Feld und erntete den Mais. Er hatte fast fünf Hektar vor sich. Damit würde das Silo gefüllt und der Rest auf dem Markt verkauft werden. Die Ernte war vielversprechend.

Lilys Gesicht glühte, da es in der Küche doppelt so heiß war wie draußen. Sie lehnte sich gegen den Tisch und trank mit großen Schlucken das Wasser, das Eveline ihr gereicht hatte.

Eveline strich ihr die feuchten Haarsträhnen aus der Stirn. »Alles in Ordnung, mein Kind?«

Lily nickte. »Mir ist bloß heiß.« Abwesend strich sie sich über den Bauch, wie es ihr zur Gewohnheit geworden war.

»Dann geh ein bisschen an die frische Luft«, forderte Eveline sie auf. »Es ist einfach zu heiß hier drinnen.«

»Lieber nicht«, erwiderte Lily kopfschüttelnd. »Es geht schon.«

»Nein, die frische Luft wird dir guttun«, beharrte Eveline. »Frank wird nicht in der Nähe sein, wir hätten seinen Wagen gesehen.«

Lily gab nach und ging mit dem Glas Wasser nach draußen. Sie hatte sich so lang im Haus versteckt, dass sie das Sonnenlicht richtiggehend aufsaugte. Sie spazierte in Evelines Garten und schnupperte an den Zinnien, die in allen Regenbogenfarben den Zaun säumten. Nachdem sie die Hände unter ihrem prallen Bauch verschränkt hatte, schlenderte sie zu dem Stumpf des alten Apfelbaums. Langsam ließ sie sich darauf nieder. Als sie den Stamm berührte, fühlte er sich klebrig an. Sie erinnerte sich daran, wie sie früher auf den Baum geklettert war. Es war noch gar nicht so lang her, da hatte sie davon geträumt, diese Farm gehöre ihr. Und jetzt war dies tatsächlich ihr Zuhause. Sie streichelte ihren Bauch. Es war für sie alle ein neues Leben.

Sie lehnte den Kopf zurück, spürte die Sonne warm auf ihrem Gesicht und schloss die Augen. Ein Lüftchen kam auf. Und dann wurde sie so ruckartig an ihrem Zopf zurückgezogen, dass ihre Kopfhaut brannte. Sie schrie auf und wurde hochgerissen.

Frank stand vor ihr und hielt ihre Haare wie ein Seil in der Hand und schlang sie um seine Faust.

»Hilfe!«, brüllte Lily. Als Frank noch einmal ruckartig zog, schrie sie vor Schmerz auf.

»Ich will dir nicht weh tun, Lily. Wirklich nicht«, keuchte er und atmete rasselnd. Seine Haut glühte fiebrig, und er wischte sich die Nase mit seinem Ärmel ab. Dann presste er ihren Kopf an seine Brust und zischte ihr ins Ohr: »Ich will nur meine Frau zurück. Hörst du?« Als sein Arm sich um ihren Hals legte, spürte Lily etwas Scharfes an ihrem Bauch. Sie riss die Augen auf, um es zu erkennen. Das Sonnenlicht wurde von einer Messerklinge reflektiert.

Lily schloss die Augen und fühlte sich völlig kraftlos. Nicht das Baby! Sie konnte nicht zulassen, dass er ihrem Baby weh tat.

»Bitte, Frank«, rief Eveline, die mit Will und Edgar aus dem Haus aufgetaucht war. Sie schob die Kinder hinter sich. »Bitte«, flehte sie. »Lass Lily los, dann können wir darüber reden. Wir finden eine Lösung.«

»Eine Lösung?«, brüllte er und bemühte sich taumelnd, sein Gleichgewicht zu halten. »Claire!«, schrie er. »Claire, komm sofort her!«

Er wich zurück und zerrte Lily mit sich. Sie begann zu weinen. »Bitte, tu mir nichts. Das Baby …«

Er riss ihr so heftig an den Haaren, dass sie aufschrie. Dann setzte er ihr die Messerklinge an den Hals. Sie spürte das kühle Metall an ihrer Kehle. Jetzt würde er sie umbringen. Sie dachte an Andrew. Trotz ihrer Panik war sie froh, dass er das nicht mit ansehen musste. Sie weinte um ihr Baby, mehr als um ihr eigenes Leben.

Frank knurrte ihr ins Ohr: »So lange wollte ich dir schon die Kehle durchschneiden …«

Da ertönte ein lautes Krachen und ließ den Boden vibrieren. Frank taumelte nach vorn, stürzte über Lilys gebückte Gestalt hinweg und brach zusammen.

Andrew ließ die Brechstange fallen, packte Lily und presste sie an seine Brust. Frank Morton wand sich mit gekrümmtem Rücken auf dem Boden.

Lily spürte, wie Andrew vor Zorn bebte, bevor er sich von ihr löste. Zum ersten Mal sah sie Hass in seinen Augen. »Nicht, Andrew!«, rief sie. Aber er hörte nicht auf sie, sondern stürmte vorwärts. Mit vor Wut verzerrtem Gesicht trat er Frank in die Rippen. »Steh auf!«, brüllte er, richtete sich auf und setzte zu einem weiteren Tritt an.

Will und Edgar vergruben ihre Gesichter in Evelines Rock.

Lily zuckte zusammen. »Bitte, nicht …«

»Ich sagte, steh auf!« Blind vor Zorn trat Andrew heftig gegen Franks Hand, die er sich gegen die schmerzenden Rippen presste.

Daraufhin hustete Frank würgend und spuckend, rollte sich auf den Rücken, lief dunkelrot an und schwitzte vor Schmerzen. Andrews Blick fiel auf das Messer im Gras. Die silbrige Klinge glänzte im Licht, und er machte einen Schritt, um es aufzuheben.

»Nicht, Andrew!«, schrie Eveline. Sie löste sich von ihren Söhnen und packte ihren Neffen am Ärmel. »Nicht anfassen. Sieh ihn doch an«, befahl Eveline mit Abscheu in der Stimme und wich vor der sich windenden Gestalt am Boden zurück. »Er ist krank.« Mehr musste sie nicht sagen.

Frank mühte sich auf die Knie und hustete keuchend und mit weit aufgerissenem Mund. Schwankend stand er auf und wich zurück. »Sagt Claire, sie soll sich fertig machen«, rief er drohend. Seine Lungen pfiffen, und an Stirn und Hals traten ihm blau die Adern hervor, als er über seine eigenen Füße stolperte. »Ich komm wieder. Wartet’s nur ab!« Als er erneut einen nicht enden wollenden Hustenanfall bekam, spuckte er Blut. Taumelnd entfernte er sich die Zufahrt hinunter. »Und dich hole ich auch, Lily. Wart’s nur ab!«

Mit einem Mal verließ Andrew aller Zorn. Er drückte Lily fest an sich. Claire kam aus dem Haus, weiß wie ein Gespenst. Will nahm sie an der Hand.

Jetzt war Frank außer Sichtweite. Er würde sie nie wieder belästigen, denn er würde den nächsten Morgen nicht mehr erleben.