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55. Kapitel

Am 11.  November 1918 war der Erste Weltkrieg beendet. Weltweit kamen über 37 Millionen Soldaten auf den Schlachtfeldern um. Eine Grippe-Epidemie raffte auf der ganzen Welt über 50 Millionen Männer, Frauen und Kinder dahin. Allein in Pittsburgh starben sechstausend Menschen an der Spanischen Grippe.

Als der Krieg zu Ende war, versuchten die Bürger des Landes, sich von dem Gemetzel zu erholen. Sie schüttelten die Erstarrung ab, die ein ganzes Land lahmgelegt hatte. Allerorten wurden Plakate mit Propaganda und Hassparolen entfernt. Die American Protective League löste sich in Luft auf. Und die, die ihre deutsch-amerikanischen Nachbarn, Kollegen und Kunden geschmäht und misshandelt hatten, senkten beschämt den Kopf. Ihr Verhalten war ihnen jetzt unerklärlich und so fern wie ein fast vergessener Alptraum.

Peter Mueller kehrte nach Hause zurück  – mit einem Mädchen. Die Anwohner der schmalen Landstraße am Rand von Plum hießen ihn wie einen Helden willkommen. Die Witwe Sullivan schenkte ihm ihre Lieblingsstute und weigerte sich, sie zurückzunehmen. Bernice Stevens buk einen Kuchen, der so groß war wie ein Wagenrad. Sämtliche Muellers aus allen Teilen von Pennsylvania kamen in den Ort. Der alte Stevens tanzte mit der Witwe Sullivan einen Jig und wirbelte mit ihr herum wie ein junges Pärchen. Ein Feuerwerk erhellte die Nacht, unter dem Fritz, Anna, Edgar und Will jubelnd umherrannten, als es Funken in Pink, Grün und Gold regnete. Gerda klatschte in ihre starken Hände und tanzte ausgelassen.

Andrew saß auf dem Boden und lehnte sich gegen einen riesigen Ahorn im Garten der Muellers. Lily saß zwischen seinen Beinen und schmiegte ihren Hinterkopf an seine Brust. Irgendwo ertönte eine Glocke.

Peter hielt in der einen Hand ein volles Glas mit schaumigem Bier und hatte den anderen Arm um seine Freundin geschlungen. Als sie näherkamen, standen Andrew und Lily auf. Peter schloss Andrew in die Arme. Die beiden Männer schlugen sich grinsend auf den Rücken. »Wie fühlt man sich so als Held?«, fragte Andrew.

»Ich sag’s dir, wenn ich einen treffe.« Zwar grinste sein alter Freund, doch an den Falten in seinem Gesicht sah man noch die Nachwirkungen des Krieges. Peter wandte sich zu Lily, seufzte und bedachte sie mit einem freundlichen Lächeln. »Hi Lily.«

»Hi Peter«, erwiderte sie und strahlte erleichtert.

»Ich möchte dir meine Freundin Gwyneth vorstellen. Ohne sie würde ich heute nicht hier stehen.« Er gab der schüchternen Brünetten an seiner Seite einen Kuss. »Eine hübsche Krankenschwester, die einem die Schrapnellsplitter aus dem Schenkel entfernt, ist es fast wert, angeschossen zu werden.« Dann wurde er ernst. »Ich glaube, ihr zwei werdet euch gut verstehen.«

»Wann ist der Geburtstermin?«, fragte Gwyneth.

»Zu Beginn des Frühjahrs.« Lily strich sich über den Bauch. »Aber sie tritt schon ziemlich heftig. Ich glaube, sie ist bereit für die Welt.«

Dann gingen Gwyneth und Lily zusammen zu den Tischen, um sich etwas zu essen zu holen.

»Andrew, ich möchte dir noch jemanden vorstellen.« Zu Peter war ein Mann getreten, offenbar konnte er nichts sehen, und Peter legte ihm die Hand auf die Schulter. »Das ist Gwyneth’ Bruder Robert Weiner. Wir haben zusammen gedient.«

Der blinde Mann streckte die Hand aus, und Andrew ergriff sie. »Peter hat mir schon viel von dir erzählt«, sagte Robert. »Im Krankenhaus hat er von nichts anderem geredet. Fast hätte ich die Schwestern gebeten, mir mit den Augen auch die Ohren zu verbinden.«

Peter gluckste und wies dann vielsagend mit dem Kinn zu Andrew. »Robert war beim Veterinärkorps und hat sich um die Pferde unseres Bataillons gekümmert.«

Andrew spürte, wie die Sehnsucht nach seinem alten Traum unerwartet in ihm aufflammte.

»Vor dem Krieg hatte er eine Tierarztpraxis in Maryland«, fuhr Peter fort. »Und jetzt will er hier neu anfangen.«

Robert Weiner sagte: »Ich hatte gehofft, du könntest mir helfen.« Sein Ton klang bittend. »Ich brauche jemanden, der sehen kann und mir bei den Operationen hilft.«

»Das tut mir leid, Robert«, erwiderte Andrew mit brüchiger Stimme. »Aber ich hab’s nie aufs College geschafft.«

»Nun, ich glaube, ich hab genug für uns beide studiert. Ich könnte dich unterrichten. Und du hättest immer noch genug Zeit für die Farm. Wir würden ganz langsam anfangen. Ist besser für uns beide.«

»Also, Houghton, was meinst du?« Peter wippte grinsend auf den Zehenspitzen. »Bist du dabei?«

Aus dem Augenwinkel sah Andrew Lily, die mit Gwyneth lachte, eine Hand auf dem Bauch. Und in diesem Augenblick stand die Welt um ihn herum still. Da breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht. »Ich bin dabei.«