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56. Kapitel

Marilyn Claire Houghton wurde Anfang des Frühjahrs geboren. Gerda Mueller brachte das Baby zur Welt und half Lily durch die Wehen, genau wie sie es zuvor schon bei ihren Töchtern getan hatte. Auch Andrew war dabei, trotz der allgemeinen Proteste, weil sich das nicht gehöre. Aber er wich nicht von Lilys Seite und hielt während der endlosen Stunden der Geburt ihre Hand. Und als er seine Tochter im Arm hatte und sie ihn mit großen Augen anblickte, war er zutiefst gerührt.

Er betete dieses kleine Wesen an, den weichen Flaum auf ihrem Köpfchen, die großen Augen, in denen er die seiner Frau wiedererkannte. Andrews Blick wanderte durch den Raum. Er betrachtete Lily, die erschöpft, aber glücklich wirkte.

Seine Tochter zappelte. Sie öffnete und schloss ihren Mund und blinzelte. Als ihm eine Träne aus dem Auge quoll und auf ihrer Wange landete, zuckte sie zusammen. Die restlichen Tränen drängte er zwinkernd zurück.

Schau dir mein Kind an, sagte er im Stillen zu seinem Vater im Himmel. Schau dir deine Enkelin an. Seine Gedanken wanderten zu seiner Mutter auf der anderen Seite des Ozeans. Er musste lachen, als seine Tochter ihn neugierig anstarrte. Unter Tränen begann er vor Freude zu lachen.

Sie ist perfekt, dachte er. Perfekt.

Das Baby runzelte die Stirn und stieß einen winzigen, schrillen Schrei aus. Sanft nahm Eveline ihrem Neffen das Kind ab. »Sie will trinken.«

Eveline reichte Lily das Baby, und vor Rührung fing sie zu weinen an. Andrew wollte zu ihr gehen, aber Eveline hielt ihn zurück. »Lass sie.«

Lily sah wortlos und ehrfürchtig ihr Baby an. Gerda ging die Küche aufräumen, Eveline verließ das Zimmer und sah noch, wie Andrew den Arm um seine Frau legte und das Kind zwischen ihnen küsste.

Eveline Kiser schlang ihr Tuch um ihre Schultern und ging aus dem Haus. Die Luft war noch beißend kalt, doch genoss sie ihre Frische. Der Himmel war blau und weit, die Sonne strahlte hell herab. Eveline schloss die Augen und legte ihr Gesicht in den Nacken. Sie wollte wieder auf alles Helle blicken. Sie fühlte sich, als wäre sie für lange Zeit im Dunkeln eingesperrt gewesen, aber jetzt wollte sie die kalte Luft spüren.

Sie setzte sich auf den runden Baumstumpf des Apfelbaums. Leichter Wind fuhr ihr durchs Haar. Sie wusste, dass sie älter geworden war. Sie war in der Hölle gewesen und hatte sich mit Händen und Füßen wieder zurückgekämpft.

Sie blickte zu dem alten Farmhaus, zu ihrem leeren Garten und den brachliegenden Feldern, die sich bis in die Ferne erstreckten. Sie lächelte und genoss die tiefe Zufriedenheit, die sich in ihr ausbreitete.

Schon bald würde ihr Garten wieder blühen und gedeihen. Die Felder würden sprießen, und ihre Söhne würden zum Bach rennen, um dort zu angeln, würden die Pferde reiten und den Markt im Ort besuchen.

Da kam ein leichter Wind auf. Ihre Härchen stellten sich auf, und sie bekam eine Gänsehaut. Ihr schwoll das Herz, und ihre Lippen verzogen sich zu einem wehmütigen Lächeln. Eine Träne quoll ihr aus dem Auge und rann ihr die Wange hinunter. »Hallo Wilhelm«, flüsterte sie.

Seine Nähe, die sie plötzlich spürte, erfüllte jede Faser ihres Körpers. Er war da.

Auf der Veranda öffnete sich eine Tür und schloss sich wieder. Andrew führte Lily so vorsichtig über den Weg, als wäre sie krank.

»Kannst du deinem Neffen bitte sagen, dass ich nicht zerbrechlich bin?«, rief Lily glücklich zu Eveline. Sie hatte die Kleine im Arm, in eine dicke Decke gewickelt, und betrachtete sie lächelnd.

»Du hast gerade ein Kind zur Welt gebracht«, wandte Andrew, immer noch ehrfürchtig, ein. »Sei froh, dass ich dich nicht trage.«

Eveline stand auf und klopfte auf den alten Baumstamm. »Kommt, setzt euch. Die frische Luft wird euch guttun.« Damit ging sie zum Haus zurück, und als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie, wie Andrew Platz nahm, Lily sich auf seinen Schoß setzte, ihren Kopf an seine Halsbeuge schmiegte und beide das Kind umarmten.

Ein Luftzug wirbelte die welken Blätter auf und ließ sie um den Baumstamm tanzen. Als sie wieder zu Boden drifteten, sah man unten am Stumpf etwas leuchtend Grünes. Andrew beugte sich vor, fegte das abgestorbene Laub beiseite und sah, dass sich frische Schösslinge aus dem Stamm zum Himmel reckten: stark, entschlossen und pulsierend von neuem Leben.

Andrew und Lily lächelten voller Hoffnung. Denn neues Leben entstand und wuchs unter den Blättern des Apfelbaums.