KAPITEL
1
EPHYRA
In einem mondbeschienenen Raum über den Dächern von Pallas Athos, der Stadt des Glaubens, kniete ein Priester vor Ephyra und flehte um sein Leben.
»Bitte. Ich verdiene es nicht, zu sterben. Ich schwöre, sie nie wieder anzurühren. Bitte hab Erbarmen.«
In dem prächtigen Privatgemach des Priesters in der Herberge Gärten von Thalassa
herrschte ein wüstes Durcheinander. Zu Boden gefallene Servierplatten und umgekippte Trinkbecher aus feinstem Silber zeugten von den Resten eines üppigen Festmahls, der weiße Marmorboden war mit reifen Beeren und den wie Juwelen glitzernden Scherben etlicher kleiner Fläschchen übersät. Eine Lache vergossenen Weins, rot wie Blut, bahnte sich langsam ihren Weg auf den knienden Priester zu.
Ephyra ging in die Hocke und legte ihm eine Hand an die Wange. Seine Haut fühlte sich trocken wie Pergament an.
»Oh, ich danke dir!« Dem Priester traten Tränen in die Augen. »Danke, gesegnet sei …«
»Ich frage mich«, unterbrach sie ihn, »ob deine Opfer dich je um Gnade angefleht haben? Ob sie je Behesda angerufen haben, wenn du deine Male auf ihren Körpern hinterlassen hast?«
Er hielt entsetzt die Luft an.
»Nein, ich glaube nicht, dass sie das getan haben. Du hast sie dir mit deinem abscheulichen Trank gefügig gemacht, damit du ihnen wehtun konntest, ohne jemals ihren Schmerz mit ansehen zu müssen«, sagte sie. »Aber du sollst wissen, dass jede Narbe, die du ihnen zugefügt hast, auch bei dir ein Zeichen hinterlassen hat.«
»Bitte …«
Durch die offen stehenden Balkontüren hinter ihr wehte eine Brise, als sie sein Kinn anhob. »Du trägst das Zeichen des Todes auf dir. Und der Tod ist gekommen, um einzufordern, was ihm gehört.«
Er starrte sie mit nacktem Grauen an, als sie ihre Hand zu seiner Kehle gleiten ließ. Sie spürte seinen rasenden Puls unter ihren Fingerspitzen, richtete ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, lauschte, wie das Blut durch seine Adern rauschte. Dann entzog sie seinem Körper das Esha
.
Das Licht in den Augen des Priesters erlosch, während seine Lungen ihren letzten Atemzug ausstießen. Er sackte zu Boden. Auf der bleichen Haut seiner Kehle leuchtete ein Handabdruck, blass wie der Mond. Das einzig sichtbare Zeichen dafür, dass er umgebracht worden war.
Sie zog einen Dolch aus ihrem Gürtel und beugte sich über ihn. Er war nicht allein gewesen, als sie ihn fand. Die beiden Mädchen, die er bei sich gehabt hatte – Mädchen mit tief in den Höhlen liegenden Augen und blauen Blutergüssen an den Handgelenken –, waren sofort davongelaufen, als sie es ihnen befohlen hatte. Sie hatten gehorcht, als hätten sie ihr ganzes junges Leben lang nichts anderes getan.
Mit ruhigen, routinierten Bewegungen stieß Ephyra ihm die Spitze des Dolchs durch den blassen Handabdruck tief in die Kehle. Sobald das dunkle Blut zu fließen begann, zog sie ihn wieder heraus, öffnete ein kleines Geheimfach im Griff und entnahm ihm eine Ampulle, mit der sie etwas von dem Blut auffing. Die letzten Worte des Priesters waren eine Lüge gewesen – er hatte
den Tod verdient. Aber das war nicht der Grund, warum sie ihm das Leben genommen hatte.
Sie hatte ihm das Leben genommen, weil sie es brauchte.
Plötzlich flogen die Türen zu dem Gemach so unvermittelt auf, dass ihr vor Schreck die Ampulle aus der Hand glitt. Sie konnte sie gerade noch rechtzeitig auffangen, bevor ihr Inhalt verschüttet wurde.
»Keine Bewegung!«
Drei Männer stürzten herein, einer mit erhobener Armbrust, die beiden anderen mit Säbeln. Stadtwächter. Ephyra war nicht überrascht. Die Herberge Gärten von Thalassa
lag am Rand des Elea-Platzes, gerade noch innerhalb der Tore der Oberstadt. Sie hatte sich kundig gemacht und wusste, dass die Wächter jeden Abend zu Fuß über den Platz patrouillierten. Aber sie hatten sie schneller aufgespürt, als sie gedacht hatte.
Der Anführer hielt jäh inne und starrte auf den am Boden liegenden Priester. »Er ist tot!«
Sie verschloss die Blutampulle und versteckte sie wieder im Griff des Dolchs. Während sie sich aufrichtete, vergewisserte sie sich, dass das schwarze Seidentuch noch an seinem Platz saß und die untere Hälfte ihres Gesichts verbarg.
»Ergib dich oder wir müssen dich mit Gewalt in Gewahrsam nehmen«, sagte der Wächter langsam.
Ihr schlug das Herz bis zum Hals, aber sie zwang ihre Stimme, ruhig zu klingen. Furchtlos. »Wenn ihr auch nur einen Schritt näher kommt, wird es in diesem Gemach mehr als nur einen Toten geben.«
Der Wächter zögerte. »Sie versucht, uns zu täuschen.«
»Nein«, sagte der Armbrustträger mit einem nervösen Blick auf den Priester. »Schaut euch den Handabdruck an. Genau wie bei den Toten, die in Tarsepolis gefunden wurden.«
»Die Blasse Hand«, wisperte der dritte Wächter und starrte Ephyra an.
»Das sind doch bloß Märchen«, sagte der erste Wächter, aber seine Stimme zitterte leicht. »Niemand ist so mächtig, dass er allein durch die Gabe des Blutes töten kann.«
»Was hast du in Pallas Athos zu suchen?«, fragte der dritte Wächter. Er stand breitbeinig und mit vorgeschobener Brust vor ihr, als versuchte er, eine Bestie niederzustarren. »Warum bist du hier?«
»Ihr nennt diesen Ort Stadt des Glaubens«, sagte Ephyra. »Aber hinter ihren weißen Mauern herrschen Verderbtheit und Ruchlosigkeit. Ich werde sie zeichnen, so wie ich alle meine Opfer zeichne, damit der Rest der Welt sieht, dass die Stadt des Glaubens die Stadt der vom Glauben Abgekommenen ist.«
Das war eine Lüge. Sie war nicht in die Stadt des Glaubens gekommen, um sie mit Blut zu beflecken. Doch es gab nur zwei andere Menschen auf der Welt, die den wahren Grund kannten. Und einer von ihnen wartete auf sie.
Sie bewegte sich rückwärts auf den Balkon zu. Die Stadtwächter spannten die Muskeln an, versuchten aber nicht, ihr zu folgen.
»Du hast einen Priester getötet, damit wirst du nicht so einfach davonkommen«, sagte einer von ihnen. »Wenn wir dem Konklave berichten, was du getan hast …«
»Nur zu.« Sie zog sich ihre schwarze Kapuze über den Kopf. »Sagt seinen Mitgliedern, die Blasse Hand sei gekommen, um den Priester von Pallas zu holen. Und sie sollen beten, dass sie nicht die Nächsten sind, die ich holen komme.«
Sie drehte sich um und riss die Seidenvorhänge zur Seite. Der Mond hing wie das Blatt einer Sense am Nachthimmel.
Die sich überschlagenden Stimmen der Wächter hinter sich lassend, lief sie auf den Balkon und schwang sich über die Marmorbalustrade. Die Welt neigte sich – vier Stockwerke tiefer schimmerten die Eingangsstufen der Herberge wie Elfenbeinzähne im Mondlicht. Ihre Finger bekamen den unteren Rand der Balustrade zu fassen, und ein Blick nach links sagte ihr, dass sich das Dach des Badehauses gerade noch in erreichbarer Nähe befand.
Sie nahm Schwung und sprang. Die Augen zusammengekniffen, die Arme um die Knie geschlungen, wappnete sie sich für den Aufprall, landete hart und rollte sich ab. Sobald sie wieder festen Halt hatte, rappelte sie sich auf und lief los, und die Stimmen der Wächter und die Lichter der Herberge verloren sich in der Nacht.
Ephyra bewegte sich wie ein Schatten durch das Mausoleum. Stille und Dunkelheit herrschten an dem heiligen Ort, die Morgendämmerung war nur zu erahnen. Sie bahnte sich einen Weg zwischen den Trümmern hindurch, vorbei am gefliesten Orakelbecken in der Mitte, das Einzige in dieser heiligen Stätte, dem das Feuer nichts hatte anhaben können. Über ihr gab die eingestürzte Decke den Blick auf den Nachthimmel frei.
Die Ruine des Mausoleums lag direkt vor den Mauern der Stadt und war wie dafür geschaffen, sich unbemerkt in die Unterstadt zu stehlen. Sie wusste nicht, wann das Mausoleum niedergebrannt worden war, aber nun war es verlassen und bot ein perfektes Versteck. Die Stufen in die Krypta hinunter knarzten und ächzten unter ihren Schritten, und es brauchte wie stets einen kräftigen Stoß, um die vermoderte Holztür zu der winzigen Kammer zu öffnen, die seit zwei Wochen ihr Zuhause war. Sie zog das schwarze Tuch vom Gesicht und warf ihren Umhang ab, bevor sie eintrat.
Die Kammer hatte den Akolythen, die sich früher um das Heiligtum kümmerten, als Vorratskeller gedient. Nun war sie den Ratten, der Verrottung und Menschen wie Ephyra überlassen, die sich nicht an den beiden anderen Dingen störte.
»Du kommst spät.«
Ephyra spähte durch den dämmrigen Raum zu der Schlafstatt in der Ecke, über der behelfsmäßig zwei zerschlissene Laken angebracht waren, um einen Hauch Privatsphäre zu schaffen. Die dunklen Augen ihrer Schwester spähten zu ihr zurück.
»Ich weiß.« Ephyra legte das schwarze Tuch und den Umhang über die Lehne eines Stuhls am Ende der Schlafstatt.
Beru setzte sich auf und streckte sich wie eine zu groß gewachsene Katze. Ein Buch glitt von ihrer Brust und landete mit flatternden Seiten auf dem Laken. Ihre kurzen, lockigen Haare waren auf der einen Seite ihres Kopfs vom Liegen platt gedrückt. »Ist alles gut gegangen?«
»Ja.« Es gab keinen Grund, ihr zu erzählen, wie knapp sie entkommen war. Ihre Mission war erfüllt. Sie zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. »Du weißt doch, die Zeiten, in denen ich von den Dächern von Spelunken heruntergefallen bin, sind längst vorbei. Ich habe mittlerweile einiges dazugelernt.«
Als Ephyra die Identität der Blassen Hand angenommen hatte, waren ihre Kletterkünste noch recht bescheiden gewesen. Die Tatsache, dass sie die Gabe des Blutes besaß, bedeutete nicht, dass sie sich unbemerkt in Lasterhöhlen schleichen oder die Balkone reicher Kaufleute erklimmen konnte. Diese Fertigkeiten hatte sie sich auf herkömmliche Art aneignen müssen und unzählige Nächte damit verbracht, sowohl ihren Gleichgewichtssinn, ihre Reaktionsschnelligkeit und ihre Muskelkraft zu verbessern, als auch ihre Opfer auszukundschaften. Beru hatte sie begleitet, als es ihr noch besser ging, und mit ihr darum gewetteifert, wer schneller über einen Zaun klettern oder geräuschloser von einem Dach zum nächsten springen konnte. Sie hatten sich viele Nächte lang durch die Schatten gestohlen und an die Fersen möglicher Opfer gehängt, um ihre Laster und Gewohnheiten zu studieren. Nachdem Ephyra jahrelang trainiert hatte und einige Male nur knapp einer Ergreifung entgangen war, wusste sie, wie sie sich aus gefährlichen Situationen, in die sie als die Blasse Hand geriet, herausmanövrieren konnte.
Beru erwiderte ihr Lächeln, aber es fehlte ihm an Kraft.
Ephyra spürte, wie ihr eigenes Lächeln verblasste, als sie den Schmerz in den Augen ihrer Schwester sah. »Steh auf«, sagte sie sanft.
Beru schlug die raue Decke zurück. Sie zitterte und ihre dunkle Haut wirkte in dem dämmrigen Licht fahl. In ihren blutunterlaufenen Augen lag ein erschöpfter Ausdruck.
Stirnrunzelnd beugte Ephyra sich über die flache Schale, die auf der Kiste neben der Schlafstatt stand, nahm die Ampulle aus dem Geheimfach im Griff ihres Dolchs und gab den Inhalt hinein. »Wir haben viel zu lange gewartet.«
»Mir geht es gut«, sagte Beru mit zusammengebissenen Zähnen und wickelte einen Stoffstreifen von ihrem linken Handgelenk. Darunter kam ein schwarzer Handabdruck zum Vorschein.
Ephyra benetzte ihre Hand mit dem Blut in der Schale und legte sie anschließend auf das dunkle Mal, das Berus Haut entstellte. Dann schloss sie die Augen und richtete all ihre Sinne darauf, das Esha
, das sie dem Priester entzogen hatte, durch sein Blut in den Körper ihrer Schwester zu lenken.
Das Blut diente als Medium. Wäre sie eine ordentlich ausgebildete Heilerin gewesen, hätte sie Wege gekannt, das Esha
ihrer Opfer direkt auf Beru zu übertragen. Sie hätte kein Blut dafür nutzen müssen.
Andererseits wäre sie erst gar nicht dazu gezwungen gewesen, zu töten, wenn sie eine ordentliche Ausbildung genossen hätte. Heiler mit der Gabe des Blutes legten einen Eid ab, der es ihnen verbot, jemals das Esha
anderer anzurühren.
Aber es war die einzige Möglichkeit, ihre Schwester am Leben zu erhalten.
»Siehst du.« Ephyra legte Beru eine Hand an die Wange, wo die Haut bereits anfing, ihre besorgniserregende gräuliche Färbung zu verlieren. »Schon viel besser.«
Für den Moment zumindest.
Beru sprach es nicht aus, aber Ephyra konnte die Worte in ihren Augen lesen. Beru griff an ihr vorbei nach einem dünnen schwarzen Griffel, der auf der Kiste neben der Schlafstatt lag. Mit anmutigen, geübten Bewegungen malte sie eine kurze, gerade Linie auf ihr Handgelenk, in das bereits dreizehn andere Linien für alle Ewigkeit mit alchemistischer Tinte hineingeätzt worden waren.
Vierzehn getötete Menschen. Vierzehn Leben – ausgelöscht, damit Beru leben konnte.
Es entging Ephyra nicht, wie ihre Schwester jedes Mal, wenn sie ein Opfer gezeichnet hatte, ihre eigene Haut zeichnete. Wie nach jedem Tod Schuldgefühle an ihrer Schwester nagten. Dass die Menschen, die sie tötete, weit davon entfernt gewesen waren, unschuldig zu sein, schien für Beru keine Rolle zu spielen.
»Vielleicht war es das letzte Mal«, sagte Ephyra leise. »Das letzte Mal, dass wir das tun mussten.«
Deswegen waren sie nach Pallas Athos gekommen. Irgendwo in dieser Stadt des verloren gegangenen Glaubens und der zerfallenen Tempel gab es jemanden, der wusste, wie Beru für immer geheilt werden konnte. In den letzten fünf Jahren hatte sie sich an diese Hoffnung geklammert.
Beru wandte den Blick ab.
»Ich habe dir noch etwas anderes mitgebracht.« Ephyra zwang sich, unbekümmert zu klingen. Sie griff in den kleinen Beutel an ihrem Gürtel und zog den gläsernen Verschluss einer Flasche heraus, den sie im Gemach des Priesters vom Boden aufgelesen hatte. »Ich dachte, du könntest ihn vielleicht für das Armband verwenden, an dem du gerade arbeitest.«
Beru nahm den Glaspfropfen und drehte ihn in ihrer Hand. Er sah aus wie ein kleines Juwel.
Ephyra legte ihre Hand auf die ihrer Schwester. »Ich lasse nicht zu, dass dir irgendetwas geschieht.«
»Ich weiß.« Beru schluckte. »Immer machst du dir Sorgen um mich. Manchmal kommt es mir vor, als würdest du nichts anderes tun. Aber du bist nicht die Einzige, die sich Sorgen macht. Jedes Mal, wenn du dort draußen bist, habe ich Angst um dich.«
Sie tippte vorwurfsvoll mit dem Finger gegen Berus Wange. »Mir wird nichts passieren.«
Beru strich mit dem Daumen über die vierzehn Linien an ihrem Handgelenk. »Das meine ich nicht.«
Ephyra zog ihre Hand wieder weg. »Du solltest jetzt schlafen.«
Beru ließ sich auf ihr Lager zurücksinken und Ephyra legte sich neben sie. Während sie dem gleichmäßigen Atem ihrer Schwester lauschte, dachte sie an die Angst, die Beru zwar aussprach, aber nicht benannte. In Nächten wie dieser, wenn sie spürte, wie der Puls ihrer Opfer langsamer schlug und schließlich verstummte, wenn sie ihnen das letzte bisschen Leben entzog, fühlte sie diese Angst ebenfalls. Sobald deren Blick erlosch, empfand sie eine süße, satte Erleichterung – und gleichzeitig eine tiefe, unentrinnbare Furcht davor, dass das Töten von Monstern sie selbst zu einem machte.