KAPITEL
14
HASSAN
Im Tempel herrschte vollkommene Stille. In Hassans Kopf hallten noch immer die Worte des Oberhaupts der Paladine wider, die allmählich zu einem unverständlichen Echo verklangen.
Es war
unverständlich. Regelrecht absurd. Hassan hätte am liebsten laut gelacht.
»Das muss ein Irrtum sein«, begann er schließlich zu sprechen und ließ den Blick zwischen Marschall Weatherbourne und dem Akolythen hin und her wandern, als würde einer von ihnen jeden Moment zu Verstand kommen und einsehen müssen, dass das, was sie sagten, völlig ausgeschlossen war.
»Das ist kein Irrtum«, sagte Emir. »Sämtliche Zeichen weisen auf Euch.«
»Zeichen?«, sagte Hassan. »Meinst du den erleuchteten Himmel, den die Prophezeiung vorhergesagt hat?«
Hassan kannte die Geschichten über den verheißungsvoll erleuchteten Himmel bei seiner Geburt. Die Herati hatten es als Zeichen dafür gedeutet, dass aus ihm einmal ein weiser und würdiger Herrscher werden würde. Sie hatten das Ereignis fünf Tage und fünf Nächte lang gefeiert und seiner in jedem der darauffolgenden Jahre mit einem Feuerwerk gedacht.
Niemandem wäre je in den Sinn gekommen, dies könnte Teil einer Prophezeiung sein.
Hassan schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht das einzige Kind gewesen sein, das in dieser Nacht geboren wurde.«
»Das hätte unsere Aufgabe in der Tat um einiges erleichtert«, merkte Emir mit einem kleinen Lächeln an. »Aber Ihr habt recht. Zunächst war es lediglich eine Vermutung. Doch sie genügte mir, um den jungen Prinzen von Herat im Auge zu behalten und auf ein weiteres Zeichen zu warten. Und vor zweieinhalb Wochen war es endlich so weit.«
Vor zweieinhalb Wochen. Hassan schauderte. »Du sprichst vom Umsturz. Dem Tag, an dem die Zeugen Nasira eingenommen haben.«
»Ja«, antwortete Emir. »Von da an hatte ich Gewissheit. Die Zeugen haben in Herat die Linie der Seif gebrochen und damit in eine der frühesten Prophezeiungen der Sieben Propheten eingegriffen – die Prophezeiung von Nasira.«
So lange der Leuchtturm von Nasira steht, soll die Linie der Seif herrschen.
Hassan berührte flüchtig den Kompass in seiner Tasche. Das waren die Worte, die ihm die Richtung wiesen, die Prophezeiung, die seinen Platz in der Thronfolge sicherte.
»Aber eine einmal gemachte Prophezeiung kann doch nicht wieder zurückgenommen werden, oder?«, sagte Hassan unsicher.
»Dazu ist es bisher noch nie gekommen«, antwortete Marschall Weatherbourne. »Dergleichen wurde aber auch noch nie von den Propheten vorhergesagt. Die Ordensgelehrten haben die Aufzeichnungen aller Prophezeiungen, die jemals gemacht wurden, durchforstet und nicht eine gefunden, die sich nicht erfüllt hätte. Die Prophezeiung zu Eurer Familie ist die erste und einzige, die davon abweicht – das zweite Zeichen dafür, dass Ihr der Letzte Prophet seid. Ein altes Versprechen wird gebrochen.
«
»Aber ich
habe nichts getan, um es zu brechen. Der Hierophant ist dafür verantwortlich!«
»In Nasiras Prophezeiung geht es um das Schicksal Eurer Familie«, sagte Emir. »Somit ist es ein Eingriff in den Lauf Eures Schicksals.«
Hassan schluckte. »Es gibt also zwei Zeichen, die auf mich hindeuten, aber was ist mit dem dritten? ›Ein Thronfolger mit gesegneter Weitsicht‹? Der Prophet soll die Gabe des Sehens besitzen. Ich dagegen besitze keine einzige der Vier Inneren Gaben.«
Jetzt werden sie es endlich begreifen,
dachte er.
»Ihr seid ein Thronfolger«, entgegnete Emir unbeirrt. »Und Ihr seid erst sechzehn. Eure Gabe hat noch genügend Zeit, sich zu offenbaren.«
Hassan wurde es eng um die Brust. Er hatte viele Jahre gebraucht, bis es ihm gelungen war, diese Hoffnung aus seinem Herzen zu verbannen. Es war reines Wunschdenken. Er war es leid, das Unmögliche zu hoffen.
»Mein Vater«, sagte Hassan, »war zwölf, als er Schlösser konstruiert hat, die sich durch den Klang einer Stimme öffnen ließen, und eine Uhr, die das Wetter vorhersagte. Meine Mutter war neun, als sie entdeckte, dass sie einen Mann in die Luft stemmen konnte, der dreimal so schwer war wie sie. Es ist zu spät für mich.«
»Das glaube ich nicht«, sagte die Paladinwächterin mit den kupferroten Haaren. »Gerade die Gabe des Sehens offenbart sich oft später als die anderen Gaben.«
Es war wahr, Hassan hatte selbst oft darüber nachgedacht und sich eine Zeit lang damit getröstet, dass die Gabe des Sehens einfach schwieriger zu entdecken war, was die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass sie länger unbemerkt blieb. Aber vielleicht steckte noch etwas anderes dahinter.
»Es gibt sogar Gelehrte, die davon überzeugt sind, dass die Prophetin Nasira, die Gründerin Eurer Heimat, erst mit sechzehn Jahren ihre erste Vision hatte«, fügte die Paladinwächterin hinzu.
»Eure Hoheit«, ergriff Marschall Weatherbourne plötzlich wieder das Wort und sah ihn eindringlich an. »Die Akolythen unseres Ordens haben hundert Jahre lang nach dem Letzten Propheten gesucht. Auf niemanden
, dem wir in all dieser Zeit begegnet sind, haben die Zeichen so eindeutig gepasst wie auf Euch. Wir wären niemals den ganzen Weg bis hierhergekommen, wenn wir nicht glauben würden, dass Ihr der Auserwählte seid.«
Hassan blickte in die Gesichter der anderen Paladine, in denen nicht der leiseste Zweifel zu lesen war. Unter ihrem förmlich mit Händen greifbaren Glauben gerieten seine Zweifel ins Wanken.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte er. »Was gedenkt Ihr als Nächstes zu tun?«
»Wie werden für Eure Sicherheit sorgen«, erwiderte Marschall Weatherbourne, »und darauf warten, dass Ihr die Prophezeiung erfüllt und uns einen Weg deutet, wie wir das Zeitalter der Dunkelheit aufhalten können.«
»Das Zeitalter der Dunkelheit«, sagte Hassan langsam. »Was genau hat das zu bedeuten?«
Marschall Weatherbourne warf den anderen Angehörigen der Garde einen kurzen Blick zu, bevor er antwortete. »Es bedeutet das Ende der Begnadeten.«
»Und damit die Zerstörung unserer Zivilisation«, sagte die Paladinwächterin mit den Kupferhaaren. »Auf das Verschwinden der Propheten folgten Jahrzehnte andauernde Unruhen. Verbündete Städte führten Krieg gegeneinander, die Bevölkerung wurde von Seuchen und Naturkatastrophen heimgesucht. Die Sechs Prophetischen Städte hatten auch in der Vergangenheit immer wieder mit schwierigen Zeiten zu kämpfen, wussten dank der Prophezeiungen jedoch stets, was auf sie zukommen würde. Aber ohne die Propheten verloren die Menschen die Orientierung, es gab nichts mehr, woran sie sich festhalten konnten, und die Welt geriet aus dem Gleichgewicht.«
Hassan nickte. Er hatte alles gelesen, was er über die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts finden konnte. Selbst Herat, das zu einer der stabilsten Regionen zählte, hatte die Auswirkungen dieser Unruhen zu spüren bekommen. Zu Beginn der Regentschaft seiner Großmutter hatte das Königreich kurz vor einer Rebellion gestanden.
»Doch all das ist nichts im Vergleich dazu, was passieren wird, wenn auch die Begnadeten verschwinden«, fuhr die Paladinwächterin fort. »Dann gibt es niemanden mehr mit der Gabe des Blutes, der Kranke und Verletzte heilen kann. Niemanden mit der Gabe des Geistes, der dafür sorgt, dass die Leuchtlampen brennen, dass die Eisenbahnen rollen und Nachrichten von einer Stadt zur nächsten gesendet werden. Niemanden mit der Gabe des Herzens, der die Schwachen beschützt. Es wird Chaos herrschen, ein Chaos, das tausendmal schlimmer ist als das nach dem Verschwinden der Propheten.«
Der perfekte Zeitpunkt für einen Despoten, um die Macht an sich zu reißen. Erst recht für einen so charismatischen und scharfsinnigen Despoten wie den Hierophanten.
Hassan wurde es schwer ums Herz. »Das Ende der Begnadeten«, sagte er. »Ist das nicht genau das, was die Zeugen wollen? Heißt das, die Absichten des Hierophanten, dieser Tag der Vergeltung, wie seine Anhänger es nennen, sind nicht bloß die Hirngespinste eines Größenwahnsinnigen?«
Marschall Weatherbourne senkte den Kopf. »Ich fürchte nein. Was auch immer der Hierophant vorhat, entspricht dem, was die Propheten in ihrer letzten Prophezeiung vorausgesagt haben.«
»Aber warum seid Ihr Euch dessen so sicher?«
»Weil sie bereits angefangen hat, sich zu erfüllen«, sagte Marschall Weatherbourne. »Der Prophezeiung nach gibt es drei Vorboten, die das Zeitalter der Dunkelheit auslösen können. Einen Betrüger, die Blasse Hand des Todes und etwas, das sich aus Staub erheben wird.«
»Wir glauben, dass der Hierophant der prophezeite Betrüger ist«, sagte die Paladinwächterin. »Er hetzt seine Anhänger auf und redet ihnen ein, die Propheten wären niederträchtig gewesen und die Begnadeten müssten vernichtet werden. Die Zeugen haben in seinem Namen bereits Hunderte unfassbare Gräueltaten begangen – Heiligtümer niedergebrannt, Tempel geschändet, ja sogar begnadete Kinder getötet. Und das alles aufgrund der Lügen, die er ihnen erzählt.«
»Und die blasse Hand des Todes …«
Hassan dachte an den Vorfall, den Lethia neulich erwähnt und der die Priester und den Archon basileus in Angst und Schrecken versetzt hatte. »Sie soll auf ihren Opfern einen hellen Handabdruck hinterlassen. Dann ist sie also auch ein Teil der Prophezeiung?«
Marschall Weatherbourne nickte. »Alle diese Ereignisse sind miteinander verbunden, sind ein Beleg dafür, dass die Prophezeiung im Begriff ist, sich zu erfüllen. Einer der Vorboten wird das Zeitalter der Dunkelheit herbeiführen, oder sie führen es gemeinsam herbei.«
»Was ist mit den Zeugen?«, fragte Hassan. »Weiß der Hierophant, dass die Propheten sein Erscheinen vorausgesagt haben?«
»Nein«, antwortete Marschall Weatherbourne. »Der Orden hat absolutes Stillschweigen über die Prophezeiung gewahrt. Niemand sonst weiß, was die Propheten vor ihrem Verschwinden gesehen haben.«
In Hassan stieg wütende Fassungslosigkeit hoch. »Aber wenn Ihr gewusst habt, was geschehen würde – wenn Ihr gewusst habt, dass dieses Zeitalter der Dunkelheit kommen würde –, warum habt ihr dieses Wissen dann geheim gehalten?«
»Die damalige Hüterin der Botschaft hat es nach dem Verschwinden der Propheten so entschieden, um das Leben des Letzten Propheten zu schützen und zu verhindern, dass andere Kräfte sich auf die Suche nach ihm machen«, sagte Marschall Weatherbourne. »Deshalb musste der Inhalt der Prophezeiung so lange geheim gehalten werden, bis es dem Orden des Letzten Lichts gelingen würde, den Propheten zu finden. Euch
zu finden.«
»Und jetzt, da Ihr mich gefunden habt?«
»Muss sich die Prophezeiung erfüllen.«
Hassan runzelte die Stirn. »Und was genau bedeutet das?«
»Es gibt einen Grund dafür, warum diese Prophezeiung ihre letzte ist«, sagte Marschall Weatherbourne. »Die Fähigkeit der Propheten, in die Zukunft zu blicken, reichte nur bis in unsere gegenwärtige Zeit. Für alles, was danach kommen würde, waren sie genauso mit Blindheit geschlagen wie der Rest von uns. Sie konnten das Zeitalter der Dunkelheit zwar sehen, aber nicht, wie es aufgehalten werden kann. Das könnt nur Ihr.«
Hassan dachte daran, was Khepri an seinem ersten Abend im Flüchtlingslager zu ihm gesagt hatte. Dass Prinz Hassan sein Land von den Zeugen zurückerobern würde. Er hatte in dem Moment an sich gezweifelt, und er zweifelte immer noch an sich. Er war zum Prinzen geboren, nicht zum Propheten. Wie sollte er die Welt retten, wenn er noch nicht einmal in der Lage war, sein eigenes Land zu verteidigen?
»Aber wie
soll ich das sehen können?«, fragte er.
»Jeder der Propheten erhielt seine Visionen auf ganz eigene Weise«, sagte die Paladinwächterin. »Manche im Traum. Andere in einem Zustand der Trance. Die Visionen der Propheten sind selten vorhersagbar. Sie kommen, wenn die Zeit reif dafür ist – nicht früher und nicht später. Das Schicksal lässt sich nicht in die Karten schauen.«
»Das heißt, wir warten einfach ab«, sagte Hassan düster. Er hatte es satt zu warten. »Und was ist, wenn die Vision niemals kommt?«
»Sie wird kommen«, sagte Marschall Weatherbourne fest. »Ich verstehe, wie unvorbereitet Euch all das treffen muss. Besonders nachdem Ihr erst vor Kurzem aus Eurem Land fliehen musstet. Aber wir haben das Kastell von Kerameikos verlassen, um an Eurer Seite zu sein. Um Euch zu beschützen. Jeder von uns hat einen Eid geschworen, Euch zu dienen. Das ist der Grund, warum wir hier sind.«
Die Worte des Paladins weckten Hassans Unmut. Sie waren also angeblich hier, um ihm
zu dienen – aber was war mit seinem Volk? »Und wenn ich gar nicht der Letzte Prophet wäre?«, sagte er langsam. »Würdet Ihr euch dann weiterhin in Eurem Kastell verstecken? Oder wärt Ihr trotzdem gekommen, um die Zeugen zurückzuschlagen?«
»Wir dienen dem Propheten«, war alles, was der Marschall Weatherbourne ihm zur Antwort gab.
Hassan wandte sich zum Gehen. »Ich würde jetzt gern in die Villa meiner Tante zurückkehren. Wie Ihr bereits gesagt habt, hat mich das alles … sehr unvorbereitet getroffen.«
»Natürlich, Eure Hoheit.« Marschall Weatherbourne nickte und sah dann Emir, den Akolythen, an. »Hab Dank für alles, was du getan hast. Der Orden wird deine Dienste nicht vergessen. Wir werden uns bald wiedersehen.«
Emir neigte den Kopf, und die Garde schloss sich ihrem Anführer an, der auf die Tempeltüren zumarschierte.
»Wartet«, sagte Hassan. »Was habt Ihr vor?«
»Ihr habt gesagt, Ihr wollt in die Villa Eurer Tante zurückkehren«, antwortete Marschall Weatherbourne geduldig.
»Ja, aber ich habe drei Stadtwächter, die mich eskortieren«, entgegnete Hassan. »Es ist nicht nötig, dass Ihr mich begleitet.«
Diesmal war es an Marschall Weatherbourne, verwirrt zu sein. »Vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt, Hoheit. Ich bin der Hüter der Botschaft. Das hier ist die Garde der Paladine. Wir sind hier, um Euch zu beschützen. Wir gehen dorthin, wo Ihr hingeht.«
Hassan starrte ihn einen Moment lang schweigend an und begann endlich zu begreifen. Es war erst eine Stunde vergangen, seit ihn die Angehörigen eines Ordens in den Tempel von Pallas bestellt hatten, der ein Jahrhundert lang einfach so, ohne dass irgendjemand den Grund dafür gekannt hätte, wie vom Erdboden verschluckt gewesen war. Und plötzlich war er nicht länger Hassan Seif, Kronprinz von Herat. Er war Hassan Seif, Heilsträger einer geheimen Prophezeiung.
Die letzte und einzige Hoffnung, das Zeitalter der Dunkelheit aufzuhalten.