KAPITEL
15
ANTON
Die Nachricht forderte Illya auf, Anton um Mitternacht im Tarseistempel zu treffen. Ephyra hatte sie in Antons Kammer im Hafenviertel hinterlassen. Sie wussten, dass die Mietskaserne immer noch von den Männern beobachtet wurde, die Illya angeheuert hatte, es konnte also nicht lange dauern, bis jemand die Nachricht fand.
Nun mussten sie nur noch warten.
Anton und Ephyra standen Schulter an Schulter in dem in Dunkelheit gehüllten Tempel. Die Nacht hatte sich wie ein Schleier über die Stadt gelegt, und Anton kam es vor, als würde die Stille ihn ersticken.
Sie hatten sich für den Tarseistempel entschieden, weil er mitten in der Oberstadt lag. Damit war zwar ein gewisses Risiko verbunden, schließlich gingen die Fußsoldaten der Stadtwache hier jede Nacht regelmäßig Patrouillen, gleichzeitig verringerte sich dadurch jedoch die Gefahr, dass Illya seine Söldner mitbringen und sie in einen Hinterhalt locken würde. Den Wächtern würde es nicht entgehen, wenn ein halbes Dutzend bewaffneter Schwertkämpfer die nähere Umgebung des Tempels durchstreifte. Da Anton sich aber bestens in den kleinen Gassen der Stadt auskannte und Ephyra wiederum mit den Routen der Wächter, würde es ihnen leichtfallen, sich nicht erwischen zu lassen.
»Wenn du das normalerweise machst … Ich meine, wenn du jemanden als die Blasse Hand tötest … wie genau gehst du dann vor?«, flüsterte Anton in die Stille des Tempels.
»Ich kundschafte vorher den Ort aus. Verschaffe mir Zugang. Vergewissere mich, dass das Opfer allein ist.« Ephyras schmales Lächeln war im Dunkeln eher zu erahnen als zu sehen, was es nur umso unheimlicher machte. »Dann erkläre ich dem armseligen Bastard, warum ich gekommen bin.«
»Du sprichst mit ihnen?«
»Jeder sollte Gelegenheit haben, ein paar letzte Worte zu sprechen.«
»Und was sagen sie so?«, fragte Anton, von einer plötzlichen morbiden Neugier gepackt.
»Das wirst du schon sehr bald selbst herausfinden«, erwiderte sie, bevor sie sich tiefer in die Schatten zurückzog.
Anton spürte seinen Bruder, bevor er ihn sah. Das leise Summen seines Esha
klackerte durch ihn hindurch wie ein aufeinanderschlagendes Gebiss. Er blickte zum Eingang des Tempels. In dem Säulenvorbau stand der Mensch, von dem er die letzten fünf Jahre jeden Tag gebetet hatte, ihn nie wiederzusehen.
Mondlicht fiel auf eine breite, blasse Stirn. Goldbraune Augen spähten entlang einer geraden Nase, die seiner glich. Anton würde dieses Gesicht an jedem Ort dieser Welt erkennen, obwohl er so viel Zeit damit verbracht hatte, es aus seinem Kopf zu verbannen.
»Bruder«, sagte Illya. Der Klang seiner Stimme ließ Anton das Blut in den Adern gefrieren. »Es ist lange her.«
Als Anton ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatten sie beide zerrissene Lumpen getragen, hatten immerzu gefroren und vor Dreck gestarrt. Jetzt sah Illya wie einer der Gäste aus, die Anton in den Gärten von Thalassa
bediente. Anton zweifelte nicht daran, dass der Mann vor ihm die Mittel besaß, einen Orakeldienst zu beauftragen und sich einen Trupp Söldner zuzulegen.
»Nicht lange genug«, entgegnete Anton. »Ich habe gehört, du bist auf der Suche nach mir. Warum?«
»Ich wollte mich vergewissern, dass du wohlauf bist«, antwortete Illya ohne das leiseste Zögern.
»Wohlauf?«, echote Anton fassungslos. »Darum hast du dich doch sonst nie geschert. Ich habe nicht vergessen, was du mir antun wolltest.«
»Ich habe mich geändert«, sagte Illya. Das Geräusch seiner schweren Stiefel auf dem Steinboden hallte von den Wänden des Tempels wider, als er näher trat. »Wenn ich auf das grausame, von Zorn getriebene Monster zurückblicke, das dir so viel Leid zugefügt hat, weiß ich nicht mehr, wer das gewesen ist. Seit du weggegangen bist, wünsche ich mir nichts mehr, als dich zu finden und dir zu sagen, wie leid es mir tut, was ich dir angetan habe.«
Zum ersten Mal kam es Anton in den Sinn, sich zu fragen, wie es Illya in den Jahren seit dem Vorfall auf dem See ergangen war. Ob der Mann, der nun vor ihm stand, wirklich ein anderer war als der Junge, der er einmal gewesen war. Er sah mit Sicherheit ganz anders aus in seinem feinen grauen endarrischen Mantel und seinen glänzenden Stiefeln. Aber unter der edlen Kleidung verbarg sich noch etwas anderes, etwas Vertrautes. Ein Hunger in seinen Augen, eine Verzweiflung, die Anton nur sah, weil er ihn so gut kannte.
»Was du mir angetan hast«, sagte Anton. »Du hast mich gequält.
Du hast gesagt, du würdest mich töten. Du …« Er verstummte. Es gab keine Worte für das Grauen, das er durchlebt hatte.
Illya wurde blass. »Ich war noch ein Kind.«
»Ich auch.«
Illya senkte den Kopf, sodass Anton sein Gesicht nicht sehen konnte, als er sagte: »Es gibt keine Vergebung für das, was ich getan habe. Das ist mir klar. Aber ich habe auch gelitten. Du weißt nicht, wie es sich angefühlt hat, genau wie unser Vater der ungewollte, nutzlose Sohn zu sein. Nichts wert, weil ich der war, der ich war. Oder genauer gesagt nicht
war. Während du der Auserkorene warst, dazu bestimmt, unsere Familie aus dem Elend zu befreien und uns wieder Ruhm und Ehre zu verleihen.«
Illya war beiseitegeschoben worden, war der unbegnadete Erstgeborene gewesen, der im Schatten seines jüngeren Bruders lebte.
»Ich habe mir das nicht ausgesucht«, sagte Anton. »Nacht für Nacht habe ich mir gewünscht, mir würde jemand meine Gabe nehmen, damit Großmutter mich in Ruhe lässt. Damit du aufhörst, mich zu hassen.«
Über Illyas Gesicht huschte ein Ausdruck, der fast etwas Reuevolles hatte und Anton einen Moment lang verunsicherte. Konnte jemand, der so grausam war wie sein Bruder, wirklich aufrichtige Reue empfinden?
Anton würde nicht darauf hereinfallen. Illya mochte einen Weg gefunden haben, sich aus der Trostlosigkeit ihrer Kindheit zu befreien, die Welt zu täuschen, damit er bekam, was er wollte, so wie er Anton so viele Male getäuscht hatte. Aber das war nichts weiter als kluges Kalkül. Das Monster war vielleicht in einen Käfig gesperrt worden, aber es war immer noch quicklebendig.
»Es ist wahr«, sprach Illya weiter, nachdem sie einen Moment geschwiegen hatten. »Ich habe dich gehasst. Aber sobald du weg warst, verstand ich, dass nicht du es gewesen bist, den ich gehasst habe. Ich habe die beiden gehasst. Nachdem du fortgegangen bist, habe ich ebenfalls alles hinter mir gelassen. Ich habe nie zurückgeschaut. Vater hat sich vermutlich zu Tode getrunken, und was unsere Großmutter betrifft … nun, wenn man zum Überleben nichts weiter braucht als Boshaftigkeit, ist sie wohl immer noch genau dort, wo wir sie zurückgelassen haben.«
Wenn Anton in Gedanken weit genug in die Vergangenheit zurückging, erinnerte er sich an eine Zeit, in der Illya und er in dem harten, kalten Leben ihres Zuhauses zusammengehalten hatten. Seite an Seite gegen ihren betrunkenen, nichtsnutzigen Vater und ihre kaltherzige Großmutter, eine Frau, der es so sehr an Güte und Liebenswürdigkeit fehlte, dass ein Wolf neben ihr geradezu fürsorglich wirkte. Anton konnte sich noch genau an den Tag erinnern, an dem alles anders wurde. Illya hatte sich während eines Sturms verlaufen. Und als es endlich zu schneien aufhörte, hatte Anton ihre Großmutter auf direktem Weg zu ihm geführt, gelenkt von Illyas Esha
.
Am nächsten Tag hatte Illya Anton den Arm auf den Rücken gedreht, bis er zu weinen anfing. Von da an hatte es keinen Zweifel mehr gegeben – Anton hatte seinen einzigen Verbündeten verloren. Seine einzige wahre Familie.
»Ich bin abgehauen, genau wie du«, sagte Illya leise. »Zuerst ging ich nach Osgard, dann nach Endarrion. Ich suchte nach einem Ort, an dem ich mehr sein konnte als der ungewollte Sohn. Es hat eine Weile gedauert, aber … irgendwann habe ich verstanden, wie sehr ich mich verrannt hatte. Dass ich mich von Neid und Eifersucht habe zerfressen lassen.«
»Du willst, dass ich dir vergebe?«, sagte Anton. »Du willst, dass ich dir glaube, du hättest dich geändert? Du willst dich von den Grausamkeiten reinwaschen, die du mir angetan hast? Das wird niemals
passieren. Ich kann es nämlich nicht.«
Illyas goldbraune Augen verdunkelten sich. »Anton, ich … ich weiß, wie grausam ich war. Ich habe dir wehgetan. Ich wollte, dass du leidest. Aber was ich zu dir gesagt habe, womit ich dir gedroht habe … ich hätte dich nie getötet. Niemals.«
»Du lügst.« Anton ballte die Hände zu Fäusten.
»Anton, ich schwöre …«
»Du hast versucht, mich zu ertränken!«
, schrie Anton. »Du hast mich zu diesem zugefrorenen See geführt, und als das Eis unter mir eingebrochen ist, hast du mich unter Wasser gedrückt.«
Auf Illyas Gesicht machte sich Verblüffung breit. »Du glaubst, ich hätte dich …?«, begann er, dann schüttelte er bekümmert den Kopf. »So war es nicht. An diesem Tag auf dem See habe ich dich gerettet
. Du bist eingebrochen und ich habe dich aus dem eiskalten Wasser gezogen. Ich dachte … du hast nicht mehr geatmet. Deine Haut war blau angelaufen. Aber dann hast du gehustet und nach Luft gerungen, und das war der Moment, in dem ich wusste, dass ich dich von nun an beschützen musste. Dass ich der Bruder sein musste, der ich immer hätte sein sollen. Aber du bist weggegangen, bevor ich es dir beweisen konnte.«
»Hör auf damit«, sagte Anton. »Ich will deine Lügen nicht hören.«
»Ich lüge nicht, Anton.«
»Hör auf damit!«
, schrie Anton und hörte gleichzeitig den Schrei seines elfjährigen Ichs, als sein Bruder ihn unter das Wasser, unter das Eis drückte.
Hör auf damit!
Illyas Stimme hallte durch Antons Kopf, scharf und voller Entsetzen, wie das Klackern seines Esha
, als Antons Lungen sich zusammenzogen, als seine Sicht sich verdunkelte. Bitte!
Nein.
Es war Anton, der flehte, Anton, der erbärmlich winselte und bettelte. Der sich nichts mehr wünschte, als das Illya ihn losließ, der frei sein wollte, der auf den Grund des eiskalten Wassers sinken wollte.
Nein.
Er wollte in Sicherheit sein. Und um in Sicherheit zu sein, musste Illya weg sein. Es genügte schon, vor ihm zu stehen, um ein schreckliches Chaos in seinem Kopf ausbrechen zu lassen. Er musste dafür sorgen, dass das aufhörte.
»Ach Anton«, sagte Illya. In seinem Blick lag Mitleid. »Du weißt immer noch nicht, wovor du davonläufst, oder?«