KAPITEL 17
HASSAN
Sobald Hassan am nächsten Morgen aufwachte, kletterte er aus seinem Bett und kleidete sich eilig an. Lethia würde sich bestimmt nicht die Gelegenheit entgehen lassen, der Paladingarde ihre großzügige Gastfreundschaft zu beweisen. Als er einen Moment später auf die Terrasse trat, bestätigte sich seine Vermutung. Auf der üppig gedeckten Frühstückstafel standen kleine Körbe, in denen sich mit Datteln und Nüssen gefülltes Gebäck türmte, Glasschälchen mit Rahm, der mit Honig beträufelt war, Krüge, die bis zum Rand mit rubinrotem Nektar gefüllt waren, und dampfende Silberkannen mit frisch aufgebrühtem Rosentee.
Die fünf Paladine, die in ihren dunkelblauen Umhängen um die Tafel standen, wirkten, als wären sie eher auf einen Kampf gefasst als auf ein morgendliches Festmahl.
Lethia saß lächelnd am Kopf der Tafel, trotzdem entging Hassan nicht der leicht missbilligende Zug um ihren Mund, mit dem sie ihren Unmut über seine Unpünktlichkeit zum Ausdruck brachte. Als er gestern Abend in Begleitung der Paladingarde zur Villa zurückgekehrt war, hatte sie diese höflich und zuvorkommend, aber auch sichtlich erstaunt willkommen geheißen. Die Garde hatte zurückhaltend auf seinen Wunsch reagiert, Lethia alles zu erzählen, was er im Tempel erfahren hatte, aber er hatte darauf bestanden. Seine Tante sorgte seit zweieinhalb Wochen für seine Sicherheit und hielt seine Anwesenheit in der Stadt geheim. Er war überzeugt, dass sie auch dieses Geheimnis für sich behalten würde.
Vor den Paladinen hatte sie bei seinem Bericht nicht die leiseste Irritation erkennen lassen, aber Hassan hatte ihr ihre Zweifel angesehen. Und sie nur allzu gut nachvollziehen können.
»Guten Morgen, Eure Hoheit«, begrüßte ihn die Paladinwächterin mit den kupferroten Haaren, als er sich ans andere Ende der Tafel setzte.
»Guten Morgen«, sagte Hassan in die Runde. Es dauerte einen Moment, bis ihm auffiel, dass Marschall Weatherbourne fehlte.
»Marschall Weatherbourne lässt sich entschuldigen«, sagte die Frau, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Der Hauptmann der Stadtwache hat ihn um ein Gespräch in der Zitadelle ersucht. Ich übernehme die Verantwortung für Eure Sicherheit, bis er und Navarro zurück sind.«
»Ich danke Euch …«
»Penrose«, sagte sie mit einem kurzen Lächeln.
Penrose. Er wiederholte den Namen in Gedanken, um ihn sich einzuprägen.
Nach einer eher schleppenden Unterhaltung während des Frühstücks schlug Lethia ihm vor, den Paladinen eine Führung durch den Garten zu geben. Hassan hatte eigentlich vorgehabt, sich in die Bibliothek zurückzuziehen und alles über den Orden zu lesen, was er finden konnte, kam dann aber zu dem Schluss, dass die Paladine seinen Wissensdurst wahrscheinlich am besten selbst stillen konnten.
»Ihr lebt also alle im Kastell von Kerameikos?«, fragte er, als sie im Garten das Wasserspiel einer der Springbrunnen betrachteten. »Wie ist es dort?«
»Ruhiger«, antwortete der Schwertkämpfer namens Petrossian. Er schien der Älteste in der Garde zu sein und hatte offenbar nicht viel für oberflächliches Geplänkel übrig.
»Kälter«, fügte Osei, ein Hüne, dessen Haut so dunkel wie schwarze Tinte war, hinzu.
Hassan hörte ein leises Prusten und stellte überrascht fest, dass es von den beiden groß gewachsenen, blasshäutigen Paladinen kam, die während des Frühstücks auffallend still gewesen waren. Penrose hatte sie als Annuka und Yarik vorgestellt.
»Wüstenbewohner«, sagte Annuka und deutete mit dem Kopf auf Osei. »Sind in der Kälte zu nichts zu gebrauchen.«
Osei grinste. Den feinen Fältchen um seine dunklen Augen nach zu urteilen, lächelte er viel und gern. »Nicht alle von uns sind mit Schmelzwasser statt mit Muttermilch großgezogen worden.«
»Ihr seid aus der Inshuusteppe?«, fragte Hassan Annuka.
»Vom Stamm der Qarashi«, antwortete sie.
»Warum seid ihr von dort weggegangen?«
Ein dunkler Ausdruck huschte über Annukas Gesicht. »Das Überleben der meisten Stämme in der Inshuusteppe hängt von Wildochsen ab. Aber die Ochsen sind mittlerweile ausgestorben. Während eines besonders harten Winters haben wir die Hälfte unserer Herde verloren und wurden mehrmals von anderen Stämmen überfallen. Yarik und ich schlugen sie zwar immer wieder in die Flucht, aber das änderte nichts daran, dass unser Stamm ohne die Ochsen dem Tod geweiht war. So kam es, dass die meisten von uns sich dem Lauf des Schicksals fügten und in andere Stämme einheirateten. Als schließlich nur noch Yarik und ich übrig waren, riefen die anderen Stämme ein Janaal aus.«
Hassan erinnerte sich, schon einmal etwas von diesem von den Inshuu praktizierten Ritual des Janaal gehört zu haben, als eine Delegation der größten Inshuustämme in Nasira zu Besuch gewesen war. Es war eine Art Wettkampf, bei dem die besten Krieger jedes Stammes gegeneinander antraten und der Verlierer sich dem Stamm des Siegers anschloss.
»Keinem der anderen gelang es, uns zu besiegen«, sagte Yarik. »Und am letzten Tag des Janaal trat ein neuer Gegner in den Ring. Kein Stammesangehöriger. Eine Akolythin. Sie erzählte uns vom Orden des Letzten Lichts und bot uns etwas an, wofür es sich wieder zu kämpfen lohnte. Unseren Stamm gab es nicht mehr, also haben wir nicht lange gezögert. Wir verließen die Steppe und fanden eine neue Bestimmung.«
Die Stimme der Paladinwächterin klang nüchtern, doch Hassan spürte den Schmerz hinter ihren Worten und in den angespannten Schultern ihres Bruders. Sie hatten ihren Stamm verloren und mit ihm ihren Platz in der Welt.
»Gibt es auch welche unter euch, die in Kerameikos geboren sind?«, fragte er.
Penrose schüttelte den Kopf. »Das Gelübde verbietet es den Mitgliedern des Ordens, eigene Kinder zu haben. Mit Ausnahme des Hüters, dessen Pflicht es ist, die Linie der Weatherbournes fortzusetzen.«
»Aber wie konnte der Orden dann die letzten hundert Jahre überdauern?«
»Seid Ihr immer so neugierig?«, brummte Petrossian.
»Die Krone von Herat sitzt am trefflichsten auf einem wissbegierigen Haupt«, erwiderte Hassan. »Sagen unsere Gelehrten.«
»Das ist eine kluge Frage«, sagte Penrose und warf Petrossian einen tadelnden Blick zu. »Die Größe des Ordens hat sich in der Tat verringert, aber unsere Akolythen sind über die ganze Welt verteilt und halten ständig nach neuen Anhängern Ausschau. Die meisten kommen als Kinder zu uns, so wie Osei und Navarro. Manche später, wie Yarik und Annuka.«
»Der Orden nimmt auch Kinder auf?«
»Waisen«, sagte Osei. »Aber das Gelübde legen wir erst ab, wenn wir erwachsen sind, und auch nur, wenn wir aus freien Stücken dazu bereit sind.«
»Ihr habt euch also alle freiwillig für dieses Leben entschieden«, sagte Hassan.
»Für mich ist es schon seit jeher Bestimmung gewesen«, sagte Penrose. »Die Geschichten über den Orden des Letzten Lichts haben mich von klein auf in ihren Bann gezogen. Obwohl ich wie die meisten Leute geglaubt habe, er hätte sich schon vor sehr langer Zeit aufgelöst, fühlte ich mich tief verbunden mit seinen hehren Zielen, die so weit entfernt von all dem waren, was ich als Tochter armer Bauern aus dem Umland von Endarrion kannte. Als meine Eltern entdeckten, dass ich die Gabe des Herzens besaß, verkauften sie mich an eine Frau, bei der ich die Kunst des Tanzes erlernen sollte.«
Hassan wusste, dass das Tanzen zu den einträglichsten Gewerben in Endarrion zählte, einer Stadt, in der Schönheit und Ästhetik höher geschätzt wurden als Stärke oder Gelehrtheit.
»Aber ich wollte keine Tänzerin sein. Dem Vergnügen der wohlhabenden Einwohner Endarrions zu dienen, die im Überfluss lebten, während die Bauern auf dem Land verhungerten – diese Vorstellung war mir zuwider«, fuhr Penrose fort. »Als ich in der Stadt ankam, ging ich zum Endarratempel. Ich hoffte, im Haus der Prophetin Antworten zu finden, die mir den richtigen Weg wiesen, mich meiner wahren Bestimmung zuführten. Einer der Akolythen des Tempels hörte mich beten. Er sprach mit mir und sagte, was ich mir schon mein ganzes Leben wünschte – dass der Orden des Letzten Lichts immer noch existierte und ich ihm beitreten könnte. Ich habe Endarrion noch am selben Abend verlassen.«
Allmählich begann Hassan zu verstehen, was diese Menschen, die der Paladingarde angehörten, antrieb. Jeder von ihnen schien auf die eine oder andere Weise gezwungen gewesen zu sein, sein Zuhause zu verlassen. Jeder von ihnen hatte Kummer und Not durchlebt. Jeder von ihnen hatte nach einer Aufgabe und einem Platz in dieser Welt gesucht. In dieser Hinsicht unterschieden sie sich nicht wesentlich von ihm oder den Geflüchteten auf der Agora.
Penroses Augen wurden plötzlich schmal und ihr ganzer Körper spannte sich an.
In einem Wimpernschlag war Petrossian an ihrer Seite. »Ich habe es ebenfalls gehört.«
Als Hassan sich umblickte, hatten alle fünf Paladine ihre Hand am Schwert, als stünde eine unmittelbare Gefahr bevor.
Penrose gab Yarik und Annuka mit einem kaum merklichen Nicken ein Zeichen. Sie lösten sich vom Rest der Gruppe und liefen den Pfad entlang, der zurück zur Villa führte.
»Was ist passiert?«, fragte Hassan. Die drei zurückgebliebenen Paladine – Petrossian, Penrose und Osei – bildeten ein Dreieck um ihn.
»Jemand versucht sich Zugang zum Anwesen der Villa zu verschaffen«, antwortete Penrose ruhig, aber in ihrer Stimme schwang ein angespannter Unterton mit. »Nichts, worüber Ihr Euch Sorgen machen müsstet. Dafür sind wir hier.«
Hassan dachte sofort an die Zeugen. Nach dem aufsehenerregenden Einzug des Ordens in die Stadt gestern und Hassans Erscheinen im Tempel von Pallas hatten sie mehr als nur einen Grund, hier aufzutauchen.
Es vergingen ein paar unbehagliche Minuten, bis Annuka schließlich wieder am Ende des Pfads erschien.
»Was habt ihr herausgefunden?«, fragte Hassan.
Annuka richtete ihre Antwort an Penrose. »Ein Mädchen ist hier. Ich tippe auf eine Geflüchtete aus Herat. Einer der Bediensteten hat ihr den Zutritt verwehrt, worauf sie über die Mauer geklettert ist.«
Das konnte nur Khepri sein.
Penrose sah Hassan an. »Ihr wartet hier.«
Kaum hatten die Worte ihren Mund verlassen, schob Hassan sich an ihr vorbei und lief eilig den Pfad hinunter. Sollten sie doch versuchen, ihn aufzuhalten.
Als er den Innenhof erreicht hatte, entdeckte er Yariks große Gestalt neben dem Haupteingang; mit einer seiner Pranken umklammerte dieser Khepris Handgelenke.
»Lass sie los«, sagte Hassan in seinem gebieterischsten Tonfall.
»Eure Hoheit …«
»Sofort«, unterbrach Hassan ihn und war fast ein bisschen überrascht, als Yarik tatsächlich Khepris Handgelenke losließ und widerstrebend ein paar Schritte zurücktrat.
Khepri hatte die ganze Zeit die Augen auf Hassan gerichtet. Durchdringend, verwirrend. Sie verneigte sich langsam vor ihm.
»Eure Hoheit«, sagte sie in vollkommener Ehrerbietung, aber er hätte schwören können, dass in ihrer Stimme ein herausfordernder Unterton mitschwang.
»Bitte«, sagte er. »Du musst nicht vor mir knien.«
»Ist das etwa nicht die angemessene Art für eine Untertanin Herats, ihren Prinzen zu begrüßen?«, fragte Khepri forsch, aber mit respektvoll gesenktem Blick.
Hassan spürte, wie ihm kalter Schweiß ausbrach. »Doch, natürlich.«
»Aber vielleicht gibt es noch eine andere Art, wie ich einem Prinzen Ehre erweisen sollte, der noch bis gestern behauptet hat, er würde Cirion heißen und auf die Akademie gehen.«
Diesmal war ihr Tonfall unmissverständlich. Hassan seufzte. »Es tut mir leid. Aber ich hielt es für zu gefährlich …«
»Du hast deine wahre Identität selbst dann noch verschleiert, nachdem ich dir erzählt habe, warum ich nach Pallas Athos gekommen bin.« Khepri hob den Blick und sah ihn scharf an. »Du hast mich angelogen.«
Schamesröte kroch seinen Hals hinauf. »Es ist nie meine Absicht gewesen, dich zu täuschen.«
»Trotzdem hast du es getan.«
»Wofür ich mich nun entschuldigt habe«, erwiderte er leicht ungehalten. »Schon zwei Mal – gestern auf der Agora und gerade noch einmal. Es tut mir leid, dass ich dir nicht gleich gesagt habe, wer ich bin, aber jetzt kennst du die Wahrheit, und als Prinz von Herat verbiete ich dir, so mit mir zu sprechen.«
»Ich brauche keine Entschuldigung«, sagte Khepri. »Und ich spreche mit dir, wie es mir gefällt.«
Er musterte sie mit zusammengekniffenen Augen, während die Paladine mit so synchronen Bewegungen auf sie zutraten, als wären sie ein einziger Körper.
»Nein.« Hassan hob die Hand. »Sie soll sprechen.«
Khepris Wangen und Hals färbten sich zartrosa, aber sie fuhr fort.
»Ich habe etliche Male mein Leben riskiert und ich habe das Meer überquert, um hierherzukommen. Weil ich wissen möchte, wissen muss , wie wir Herat von den Zeugen zurückerobern können. Ich bin hierhergekommen, um für mein Land zu kämpfen. Ich dachte, du wolltest dasselbe.«
Hassan zuckte zusammen, als hätte sie ihn geohrfeigt. »Das will ich auch. Mehr als irgendetwas sonst. Aber die Zeugen haben es nicht nur auf unser Land abgesehen. Es steht noch sehr viel mehr auf dem Spiel.«
»Ach ja? Du weißt nicht, wovon du redest«, sagte Khepri. »Du bist nicht dabei gewesen, als die Zeugen die Stadt eingenommen haben. Du weißt nicht, was sie uns angetan haben.«
Die Worte legten sich wie eine Schlinge um seinen Hals und schnürten ihm die Kehle zu. Seit dem Umsturz wurde er jeden Tag von der Frage gequält, was der Hierophant seinen Eltern und allen anderen, die sich in seiner Gewalt befanden, angetan hatte. »Wovon redest du?«
»Begleite mich ins Lager zurück. Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte Khepri. »Wenn du danach immer noch glaubst, dass ich die Gefahr, die von den Zeugen ausgeht, nicht begreife, werde ich dich in Zukunft in Frieden lassen.«
Hassan wollte nicht, dass Khepri ihn in Frieden ließ. Sie war für ihn seine einzige echte Verbindung zu seinem Zuhause und … er versank einen Moment in ihren wie Zwillingssterne funkelnden Augen.
Schließlich nickte er. »Einverstanden.«
»Ohne die Paladingarde geht Ihr nirgendwohin«, warf Penrose ein.
Hassan hatte ihre Anwesenheit fast schon vergessen.
»Dann ist es also wahr.« Khepri blickte über die Schulter zu Penrose. »Es heißt, der Orden des Letzten Lichts sei nach Pallas Athos zurückgekehrt. Aber niemand kennt den Grund dafür.«
Penrose warf Hassan einen kurzen Blick zu. »Wir sind wegen der Zeugen hier«, sagte sie. »Wir beobachten den Hierophanten schon seit einer Weile und der Orden ist sehr besorgt über die Vorgänge in Nasira.«
Bei dem Wort Zeugen verdüsterte sich Khepris Blick. »Dann solltet ihr ebenfalls mitkommen. Was auch immer ihr über den Hierophanten gehört habt, ich versichere euch – die Wahrheit ist noch viel grausamer.«