KAPITEL 24
EPHYRA
Das metallische Schaben ihrer sich öffnenden Zellentür ließ Ephyra aus dem Schlaf hochschrecken. Benommen rappelte sie sich vom Boden auf und blinzelte gegen das dämmrige Licht an, das durch die Tür fiel. Als sie die Gestalt erkannte, die dort stand, zerrte sie hilflos an den Ketten, die ihre Hände fesselten.
Hector Navarro hatte die Hand um das Heft seines Schwerts geschlossen. Ephyra hatte keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Bis auf die ihr übliche Art und Weise. Ihre Handflächen prickelten vor erwartungsvoller Anspannung.
»Wie seid Ihr hier hereingekommen? Was wollt Ihr von mir?«, fragte sie laut.
»Spar dir das Theater«, erwiderte Hector und trat in die Zelle. »Es ist niemand hier außer uns.«
»Wo ist der andere Paladin?« Er hatte Hector schon einmal im Zaum gehalten.
»Ich habe dir doch gesagt, dass außer uns niemand hier ist«, sagte Hector.
Ephyra schluckte.
»Ich habe sehr lange nach dir gesucht«, fuhr Hector fort. »Lange genug, um zu wissen, wie viele Leben du auf dem Gewissen hast, seit du meine Familie getötet hast. Auf wie vielen Menschen du dein Zeichen hinterlassen hast.«
»Dann weißt du auch, dass niemand von ihnen unschuldig gewesen ist.« Ephyras Stimme zitterte. »Ich töte nur die, die es verdient haben. Die, die grausam sind und ihre Macht missbrauchen, um anderen wehzutun.«
»Die Blasse Hand vergeht sich also nur an denen, die Schuld auf sich geladen haben? Seltsam, dass das offenbar keine Rolle gespielt hat, als du mir meine Familie genommen hast. Sie war unschuldig, doch das hat dich nicht davon abgehalten, sie zu töten. Erinnerst du dich überhaupt noch an sie?«
Sie zwang sich, ihn anzusehen. »Ja«, sagte sie leise.
Er verzog voller Bitterkeit den Mund. »Meine Mutter. Mein Vater. Mein Bruder. Sie haben dich mit offenen Armen aufgenommen, sind dir mit nichts als Freundlichkeit begegnet. Und du hast sie umgebracht.«
»Ich wollte nicht …« Sie verstummte. Ganz gleich, was sie sagen würde, es änderte nichts daran, was sie getan hatte. Und wenn sie in der Zeit hätte zurückgehen können und noch einmal vor die Wahl gestellt worden wäre, hätte sie sich wieder für Beru entschieden. »Es war ein schreckliches Versehen.«
»Das glaube ich dir nicht«, sagte Hector. »Du tötest, weil du es kannst . Du hältst dich für allmächtig. Aber das bist du nicht. Wer gibt dir das Recht, zu entscheiden, wer leben darf und wer sterben muss? Woher weiß ein Monster, wer seinesgleichen ist und wer nicht?«
Ephyra atmete zitternd ein. Hectors Miene nahm wieder diesen unnatürlich ruhigen Ausdruck an, der ihr mehr Angst einjagte, als es unbeherrschte Wut jemals vermocht hätte.
»Ich habe mich oft gefragt, warum du mich nicht ebenfalls getötet hast. Warum bin ich verschont geblieben?«, fragte Hector. »Nach fünf langen Jahren habe ich endlich die Antwort gefunden. Ich habe überlebt, weil es mir bestimmt ist, dich aufzuhalten. Alles in meinem Leben hat mich zu diesem Moment hingeführt. Das Schicksal hat mir meine Aufgabe zugeteilt – dafür zu sorgen, dass die Blasse Hand kein einziges Leben mehr auslöscht.«
Ephyra wich zurück und stieß mit dem Rücken gegen die raue Steinwand, spürte kaum, wie die Fesseln an ihren Handgelenken zerrten.
Hector festigte den Griff um das Heft seines Schwerts, einen wilden Ausdruck in den Augen. Sie konnte förmlich sehen, wie die Gedanken durch seinen Kopf rasten. Es lag in seiner Macht, sie hier und jetzt niederzustrecken. Ihr Blut in dieser Zelle zu vergießen und der Blassen Hand ein Ende zu bereiten.
»Du hast noch nie jemanden getötet, habe ich recht?«, sagte Ephyra leise. »Es ist einfacher, als du denkst. Und gleichzeitig so viel schwerer. Vielleicht geht es aber auch nur mir so.«
»Ich werde dich nicht töten.«
Ephyra atmete aus, aber in seiner Stimme lag ein Unterton, der sie auf der Hut bleiben ließ.
»Noch nicht«, sagte er. »Zuerst sollen alle erfahren, was du bist. Ich werde der Welt beweisen, dass du die Blasse Hand bist.«
»Es beweisen?«, sagte Ephyra. »Wie willst du das anstellen?«
»Du wirst es ihnen sagen«, antwortete Hector. »Den Stadtwächtern. Dem Orden des Letzten Lichts. Niemand auf der Welt soll auch nur den leisesten Zweifel daran haben, was du bist.«
»Ich werde alles abstreiten.«
Hector sah sie einen Moment schweigend an. Schließlich sagte er leise: »Du hast eine Schwester. Ich kann mich noch gut an sie erinnern.«
Ephyra erstarrte, versuchte jedoch, sich ihren inneren Aufruhr nicht anmerken zu lassen. »Ich habe sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen.«
»Du lügst«, sagte Hector. »Du würdest niemals zulassen, von ihr getrennt zu werden. Sie hält sich ebenfalls irgendwo hier in der Stadt auf.«
Ephyra atmete tief durch und zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie durfte ihn ihre Angst nicht sehen lassen. Durfte ihm nicht zeigen, dass er ihren einzigen wunden Punkt getroffen hatte. Ihr eigenes Leben konnte Hector bedrohen, sooft er wollte, aber das von Beru …
Er durfte sie nicht anrühren.
»Sie ist unschuldig«, sagte Ephyra. »Genau wie es deine Familie war. Würdest du wirklich so weit gehen, ein unschuldiges Leben zu bedrohen?«
Der Ausdruck in Hectors Augen veränderte sich. Vielleicht hatte sie es endlich geschafft, durch den Nebel aus Trauer und Wut zu ihm durchzudringen. Vielleicht konnte sie ihn dazu bringen, zu erkennen, was er im Begriff war, zu tun, und zu begreifen, dass er zu weit gegangen war.
»Ich hoffe, dass es nicht dazu kommen wird«, sagte er schließlich. »Hier geht es um etwas weit Größeres als ein einzelnes Leben. Wenn du dich weigerst, vor aller Welt zu gestehen, was du bist, dann wirst du das, was geschieht, mit deinem Gewissen verantworten müssen.«
Eher würde Ephyra ihr eigenes Leben opfern. Aber falls Hector Beru finden würde, falls er herausfinden würde, dass Ephyra all diese Menschen um ihretwillen getötet hatte, dass sie der Grund dafür war, warum seine Familie hatte sterben müssen …
Sie sah den Abgrund, an den ihn seine Trauer gedrängt hatte. Sie wusste, wozu ein solch tiefer Schmerz einen Menschen treiben konnte.
»Du wirst sie nicht finden«, sagte sie mit leiser, drohender Stimme. »Und wenn du die ganze Stadt auf den Kopf stellst.«
Hectors Blick wurde dunkel vor Zorn. »Dann werde ich die ganze Stadt auf den Kopf stellen«, gab er zurück. »Und ich weiß auch schon genau, wo ich anfangen muss.«