KAPITEL
29
ANTON
Anton wirbelte herum, als Navarros misstönendes Esha
einer sich brechenden Welle gleich über ihn hinwegrollte. Der Paladin hatte die oberste Stufe der Krypta erreicht und trat nun mit zornfunkelnden Augen in das dämmrige Heiligtum.
»Wo ist sie?« Sein Blick flog über zerbrochene Fliesen und rußgeschwärzte Reliquien. »Wo ist sie hin?«
Anton atmete tief durch und trat langsam ein paar Schritte zur Seite, um den Weg zu der im Mauerwerk klaffenden Öffnung zu versperren. Wenn es ihm gelang, Beru ein kleines bisschen mehr Zeit zu verschaffen, würde sie rechtzeitig aus der Stadt fliehen können. So viel war er ihr schuldig.
»Du weißt nicht, was du da tust«, sagte Navarro. »Geh mir aus dem Weg.«
»Sie ist unschuldig.«
»Unschuldig?«, entgegnete Navarro. »Du hast keine Ahnung, was sie ist, nicht wahr?«
Anton antwortete nicht.
»Das Mädchen, das du unschuldig nennst, ist eine Kreatur des Todes«, sagte Navarro. »Eine Wiedergängerin. Ihre Schwester hat sie ins Leben zurückgeholt.«
Das konnte nicht sein. Wiedergänger, die Furcht einflößenden Kreaturen, die das Königreich von Herat auf Befehl des Nekromanten-Königs einst in Schutt und Asche gelegt hatten, existierten nur in Geschichten.
Andererseits waren Beru und Ephyra auf der Suche nach dem Eleasarkelch, dem Artefakt, das dem Nekromanten-König die Macht verliehen hatte, eine Streitkraft von Untoten um sich zu scharen. Warum sollten sie ihn brauchen, wenn das, was Navarro gesagt hatte, nicht wahr wäre?
Navarros Blick fiel auf Antons Hand. »Was ist das?«
Anton festigte den Griff um die Fahrkarte, die Beru ihm erst vor wenigen Augenblicken gegeben hatte. Aber bevor er sie wegstecken konnte, hatte Navarro sie ihm schon aus der Hand gerissen und las, was darauf stand.
»Tel Amot«, sagte Navarro langsam und fügte leise vor sich hin murmelnd hinzu: »Was will sie dort?«
Anton hechtete nach der Fahrkarte. Wieder war Navarro schneller und stieß ihn mit vollkommener Mühelosigkeit zu Boden.
»Ich danke dir.« Navarro wedelte mit der Karte und ließ sie in den Falten seines Umhangs verschwinden.
»Ihr habt gesagt, dass Ihr ihr nichts tut. Ihr habt gesagt, ihr würde nichts geschehen.«
Navarro sah auf ihn hinunter. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Sie ist eine Wiedergängerin.«
»Und wenn schon!« Die Worte waren draußen, bevor Anton darüber nachdenken konnte. »Wollt Ihr sie wirklich deswegen töten? Wegen etwas, für das sie sich selbst nie entschieden hat?«
Navarros Augen blitzten, als er einen Schritt auf ihn zutrat. »Du verstehst nicht, was auf dem Spiel steht.«
Anton rappelte sich auf und stellte sich Navarro erneut in den Weg.
»Lass mich vorbei«, sagte der Paladin. »Obwohl ich allen Grund dazu hätte, habe ich nicht vor, dir wehzutun.«
Anton rührte sich nicht von der Stelle.
»Wenn du mir nicht freiwillig aus dem Weg gehst«, sagte Navarro und zog langsam sein Schwert aus der Scheide, »werde ich dich dazu zwingen müssen.«
Das hereinfallende Sonnenlicht brach sich funkelnd in der scharfen Schneide der Klinge.
Auf einmal drang durch die Angst, die mit eisigen Fingern in Antons Eingeweiden wühlte, noch etwas anderes zu ihm hindurch. Das Esha
, das ihn seit dem Morgen im Hafenviertel verfolgte. Das ein zweites Mal über ihn hinweggefegt war, als er in der Zitadelle in der Arrestzelle gesessen hatte. Nur dass es diesmal sehr viel näher, ja fast greifbar war. Navarro und das Schwert in seiner Hand schienen mit dem Hintergrund zu verschmelzen, während das Esha
Anton umtoste und die Luft sich so schwer und aufgeladen wie vor einem Gewittersturm anfühlte.
Er sah wieder den Paladin an. Noch immer funkelte seine Schwertklinge zwischen ihnen, aber auf seinem Gesicht lag ein verwirrter Ausdruck. Einen Moment lang dachte Anton, Navarro könnte das Esha
ebenfalls spüren, doch dann dröhnten eilige Schritte durch den Säulengang, gefolgt von einer durch das Heiligtum hallenden Stimme.
»Hector!«
Navarro steckte fluchend das Schwert in die Scheide zurück. Einen halben Wimpernschlag später packte er Anton am Kragen seiner Tunika und stieß ihn in Richtung der zerfallenen Umrandung des Kristallbeckens. Anton stolperte rückwärts und bemühte sich, auf dem glitschigen Stein nicht auszurutschen. Das Esha
wurde immer stärker, wie ein Orkan, der jeden Moment auf Land trifft.
»Hector!«
Ein zweiter Schwertkämpfer erschien in der Öffnung im Mauerwerk, dunkelhaarig und kräftig, die Hand am Heft seines Schwerts, das in der Scheide an seiner Hüfte steckte. Wie er so im Gegenlicht dastand, die Umrisse wie von einem Strahlenkranz umgeben, hatte er beinahe etwas Überirdisches.
Er wandte sich Anton zu und musterte ihn mit einem Blick, der wie eine Feuersbrunst durch ihn hindurchraste.
Anton drohten die Knie nachzugeben. Er konnte nicht aufhören, den Schwertkämpfer anzustarren, konnte seine Gabe nicht davon abhalten, sich seinem einer Naturgewalt gleichenden Esha
entgegenzustrecken.
Es war, als hätte jedes Luftpartikel um sie herum Haltung angenommen, als hätte die ganze Welt ihr Gewicht verlagert, um sie in ihre Mitte zu nehmen. Antons Gabe pulsierte kraftvoll durch seinen Körper, rollte wie eine Welle auf das Esha
des Schwertkämpfers zu, brach sich daran, zog sich wieder zurück und rollte dann aufs Neue darauf zu. Als würde seine Gabe nach diesem Mann rufen, nach ihm greifen. Als würde sie ihn erkennen.