KAPITEL 31
BERU
Beru schlug das Herz bis zum Hals, als sie in die Eisenbahn einstieg. Sobald sie aus dem Bahnhof von Pallas Athos herausfahren würde, würde sie das erste Mal in ihrem Leben ihren Weg ohne Ephyra gehen.
Doch in ihre Angst und Unsicherheit hatte sich auch ein winziger Hauch Aufregung gemischt. Sie hatte schon als kleines, in dem staubigen Dorf Medea aufwachsendes Mädchen davon geträumt, mit der Armillar-Bahn zu fahren. Für manche war sie der größte Geniestreich begnadeter Ingenieurswissenschaft, den die Sechs Prophetischen Städte je hervorgebracht hatten. Sie war vor fast zweihundert Jahren von den kundigsten begnadeten Konstrukteuren erbaut worden, um fünf der Sechs Prophetischen Städte über den Landweg miteinander zu verbinden und es den Reisenden aus Endarrion und Behesda – die beide keinen Zugang zum Meer hatten – zu ermöglichen, die anderen Städte in weniger als einer Woche zu erreichen. Seitdem hatte die Armillar-Bahn ihr Streckennetz immer weiter ausgebaut, verband Handelsrouten und Häfen miteinander und reichte bis in die ländlichen Gebiete hinein. Sie transportierte jeden Tag Hunderte von Reisenden nach Tel Amot, von denen ab und zu auch eine Handvoll ihren Weg in Berus Heimatdorf fanden, die Geschichten aus den Sechs Prophetischen Städten und über deren Grenzen hinaus im Gepäck hatten.
Nun war Beru eine von ihnen. Sie kehrte mit Eindrücken und Geschichten von all den Orten nach Tel Amot zurück, an denen sie und Ephyra in den letzten fünf Jahren gelebt hatten. Verstohlen blickte sie sich unter ihren Mitreisenden um – ein Vater, der sich mit seiner kleinen Tochter aus dem Fenster lehnte und ihr das funkelnde Fahrwerk und die Messingverarbeitung der Eisenbahn zeigte, ein Reisender, der mit leicht verwirrtem Gesichtsausdruck einem der Gepäckträger durch das Abteil folgte, ein junges Paar, das sich Hand in Hand einen Weg in Richtung des Speisewagens bahnte.
Beru fragte sich, wie es sich anfühlen würde, einer dieser Menschen zu sein. In der Vorfreude des Aufbrechens oder Ankommens zu schwelgen, zu staunen, wie die Welt vor einem Fenster vorbeiflog. Von Zeit zu leben, die nicht gestohlen war, sondern ihr gehörte.
Ein durchdringender Pfeifton ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken und einen Augenblick später setzte die Eisenbahn sich in Bewegung und glitt geschmeidig über die Gleise. Ein Bediensteter trat an ihren Platz und schenkte ihr eine Schale dampfenden Tee ein. Beru ließ ihn abkühlen und versuchte nicht darüber nachzudenken, wohin sie fuhr und was sie zurückließ.
Die Abteiltür wurde aufgezogen und sie hob den Kopf. Der Anblick Hector Navarros, der darinstand und sich suchend umschaute, riss sie grob in die Gegenwart zurück.
Er hatte sie erneut aufgespürt. Und diesmal gab es niemanden, der sich zwischen sie stellen würde.
Während er das Abteil entlangging, dachte Beru nicht an ihre letzte Begegnung zurück, sondern an ihre erste. Ephyra und sie waren mit seinen Eltern aus Charis angekommen und hatten die sieben Meilen zu ihrem Dorf am Meer zu Fuß zurückgelegt. Hectors älterer Bruder Marinos hatte sie am Ende eines schmalen Fußpfads empfangen und in eine kleine, aber heimelige Kate geführt, wo ein abendliches Mahl aus fangfrischem Fisch, eingelegtem Gemüse und warmem Brot auf sie gewartet hatte. Mehr Essen als Beru und Ephyra seit Monaten zu Gesicht bekommen hatten.
Sie hatten das Mahl bereits begonnen, da kam plötzlich der jüngste der Navarro-Söhne ins Haus gestürmt, eine Spur aus Sand und Seegras hinter sich herziehend. Er setzte sich zu ihnen, riss sich ein Stück Fladenbrot ab und begann mit überschäumender Begeisterung das Schildkrötennest zu beschreiben, das er in einem Gezeitenbecken entdeckt hatte, bevor Beru auch nur Atem holen konnte, um sich und ihre Schwester vorzustellen. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie er damals ausgesehen hatte – das vom Laufen gerötete Gesicht mit den noch kindlich runden Wangen, seine von Schweiß und Gischt feucht an seiner Stirn klebenden Haare. Und diese Augen, dunkel wie Kohle. Selbst in seinem jungenhaften Ungestüm war Hector betörend gewesen.
Als Beru nun im hinteren Teil des Eisenbahnwagens saß und an ihrem Tee nippte, fanden diese Augen ihre. Es gelang ihr nicht, in seinem Gesicht zu lesen, als er sich ihr gegenübersetzte. War der Ausdruck in seinen Augen Schmerz? Furcht? Hass? Aus der bronzenen Teekanne zwischen ihnen stieg nach Minze duftender Dampf auf.
Als er nichts sagte, fragte sie: »Soll ich noch mehr Tee kommen lassen?«
Sie griff nach der Kanne. Seine Hand schnellte über den Tisch und umschloss ihr Handgelenk. Es war mittlerweile wieder verbunden, aber sie wussten beide, was sich unter der dünnen Stoffschicht verbarg. Sie sah ihn aufmerksam an und empfand eine seltsame Ruhe, während sie darauf wartete, was er als Nächstes tun würde.
Seine Hand fühlte sich warm und rau auf ihrer Haut an. Sein Griff war noch nicht einmal besonders fest – für jeden anderen im Abteil hätte es sogar wie eine zärtliche Geste wirken können. Wenn man nicht zu genau hinschaute. Beru schluckte, als sein Daumen über den zarten Knöchel ihres Handgelenks strich und sich auf ihren Puls legte.
»Ich bin immer noch aus Fleisch und Blut«, sagte sie. »Genau wie vorher. Genau wie du.«
Er zog seine Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. »Ich bin nicht wie du.«
Sie senkte den Blick, überrascht, wie sehr seine Worte sie trafen. »Wie hast du mich gefunden?«
Sein Kiefer verhärtete sich. Er atmete langsam aus und einen Moment war Beru sicher, er würde sein hartnäckiges Schweigen fortsetzen. »Die Fahrkarte, die du deinem Freund gegeben hast«, sagte er schließlich. »Ich habe sie ihm abgenommen. Warum Tel Amot?«
Die Küste flog am Fenster vorüber. Beru wusste nicht, wie sie seine Frage beantworten sollte. Sie hätte nach Tarsepolis zurückkehren können, nach Valletta, in alle möglichen anderen Städte. Sie hatte sich für Tel Amot entschieden. Das ausgedörrte, staubverwehte Land, in dem ihr Leben begonnen hatte. Und in dem es geendet hatte.
»Aus demselben Grund, aus dem du mich töten willst«, sagte sie. »Ich dachte, wenn ich zurückkehre … finde ich vielleicht einen Weg, die Dinge wieder ins Reine zu bringen. Aber das ist unmöglich. Das weiß ich. Und du weißt es auch. Es macht deine Familie nicht wieder lebendig, wenn du mich tötest.«
»Aber wenigstens stirbt dann niemand anderes mehr«, sagte Hector leise. »Niemand muss mehr einen geliebten Menschen mit einem hellen Handabdruck begraben.«
Beru schloss die Augen. Unzählige Male hatte sie sich vorgestellt, was passiert war, nachdem sie und Ephyra geflohen waren. Hatte sich vorgestellt, wie Hector nach Hause gekommen war und den kalten Leichnam seines Vaters gefunden hatte. Jedes Mal, wenn sie daran dachte, stieg Übelkeit in ihr auf.
»Ich habe nie gewollt, dass einem von ihnen etwas geschieht«, sagte sie leise. »Deiner Mutter, deinem Vater. Marinos.«
Hectors Schultern spannten sich an. »Sprich seinen Namen nicht aus.«
Hectors Bruder war siebzehn gewesen, als er starb. Er war immer geduldig mit seinem jüngeren Bruder gewesen, hatte ihn gern liebevoll geneckt, ihn mit ein paar kleinen spöttischen Bemerkungen aufbringen, aber genauso leicht wieder beschwichtigen können. Im zarten Alter von elf Jahren war Beru hoffnungslos in sie beide verliebt gewesen.
Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie und Hector Marinos früher anbettelten, mit ihnen über die zerklüfteten Klippen zu klettern oder sich in die Weingärten von Sal Triste zu stehlen und von den süßen Trauben zu naschen. Die wenigen Male, die Marinos sich von ihnen beschwatzen ließ, hatten sie sich unbesiegbar gefühlt. Marinos war Hectors Held gewesen.
Bis Beru und Ephyra ihm seinen Bruder weggenommen hatten.
»Du hast kein Recht, von ihm zu sprechen«, sagte Hector.
»Wann immer ich die Augen schließe, sehe ich sein Gesicht vor mir«, erwiderte Beru. »Erinnerst du dich auch noch so gut daran? Sein Lächeln war leicht schief – links krümmte sich sein Mund immer ein kleines bisschen mehr nach oben als rechts. Über seiner rechten Augenbraue hatte er eine kleine Narbe. Ich habe nie herausgefunden, woher sie stammte.«
»Tu das nicht.« Hector zitterte.
»Wie muss sich das nur für dich anfühlen«, sagte sie leise, »zu sehen, wie ich hier vor dir sitze, quicklebendig, während deine Familie …«
Er schlug mit der Faust auf den Tisch und schreckte damit ein paar der anderen Reisenden in ihrer Nähe auf. Hector hielt den Blick gesenkt, bis sie das Interesse verloren hatten und sich wieder ihrem Tee und ihren Plaudereien zuwandten.
»Glaubst du, ich will dein Mitleid
Die Verachtung in seiner Stimme ließ sie zusammenzucken. »Es geht nicht um Mitleid, Hector. Ich habe deine Familie geliebt.«
»Sei still« , sagte er. »Hör auf, so zu tun, als wärst du nicht …«
»Als wäre ich nicht was?«, sagte Beru, die meistens lange brauchte, um wütend zu werden, aber nun war sie es. »Ein Monster?«
Hector krallte so fest die Finger um die Kante der Tischplatte, dass sie zu zerbrechen drohte. »Du bist von den Toten auferstanden. Seitdem befinden sich deine Schwester und du auf einem Pfad, der in die Dunkelheit führt. Ihr werdet die Welt mit euch ins Verderben reißen.«
»Wovon redest du?«
Hectors Worte erfüllten sie mit Grauen. Sie verstand sie nicht, aber sie fühlten sich auf eine Art wahr an, die sie nicht erklären konnte. Als hätte sie einst von ihnen geträumt und würde sich nun daran erinnern.
»Es ist an der Zeit, es zu beenden«, sagte Hector. In seinen kohlschwarzen Augen sah Beru den Schmerz und die Trauer, die seine Wut befeuerten. »Ich bin der Einzige, der weiß, was ihr seid. Das bedeutet, ich bin der Einzige, der euch aufhalten kann. Niemand soll mehr euretwegen Leid erfahren müssen. Ich will, dass ihr seht, was der Preis für jeden Atemzug, den ihr auf dieser Erde gemacht habt, gewesen ist.«
»Dafür brauche ich dich nicht«, sagte Beru. »Jede Nacht sehe ich die Gesichter derer vor mir, die sterben mussten, damit ich leben kann.«
»Warum lässt du es dann zu?«, fragte er mit vor Verzweiflung erstickter Stimme. »Warum lässt du zu, dass sie es immer wieder tut?«
Beru zwang sich, seinem Blick standzuhalten. Er wollte sie als die Wiedergängerin sehen, als das Schreckgespenst seiner Trauer. Aber das Einzige, was sie ihm anbieten konnte, war die Wahrheit. »Ich wollte leben.«
Hector sah so verloren aus, wie sie sich fühlte. »Und was willst du jetzt?«
Noch vor einer Stunde hätte sie geantwortet, dass sie das immer noch wollte. Aber in dem Moment, in dem sie Hector in der Krypta hatte stehen sehen, hatte sich etwas verändert. Als hätte die Wahrheit darüber, was sie und Ephyra getan hatten, angefangen, schwerer zu wiegen. Zu einer Last zu werden, die sie nicht länger tragen konnte.
Sie war nach Pallas Athos gekommen, um den Eleasarkelch zu finden, damit sie sich endlich von dem Fluch ihres zweiten Lebens befreien konnte. Aber nun, da sie Hector Navarro gegenübersaß, während der Zug sich an einer endlosen Küste entlangschlängelte, wusste sie, dass sie nie frei sein würde.
»Jetzt«, sagte sie, »will ich nach Hause.«