KAPITEL 35
EPHYRA
»Wach auf.«
Ephyra öffnete blinzelnd die Augen. Sie schmeckte Salz. Ihr Gesicht fühlte sich wund gescheuert an, ihre Lider waren schwer und brannten. Hatte sie geweint? Sie wusste es nicht mehr. Sie wusste überhaupt nichts mehr. Weder wie lange sie schon in dieser dämmrigen Zelle war, noch wie viel Zeit vergangen war, seit der Schwertkämpfer bei ihr gewesen war.
Oder ob das Leben ihrer Schwester nun in den Händen eines Mannes lag, der Ephyras Tod wollte.
Polierte schwarze Stiefel klackerten über den nackten Steinboden der Zelle. Ephyra setzte sich auf. Ein Mann in einem dunkelgrauen Mantel aus feinem Tuch stand vor ihr. Ein Mann, den sie hätte töten sollen.
»Hier bist du also gelandet«, sagte Illya Aliyev und ließ den Blick seiner goldbraunen Augen durch die karge Zelle wandern, bevor er ihn auf Ephyra heftete. Sein Lächeln war so kalt und gefühllos, dass es sie schauderte. »In einem Gefängnisturm, in den man die berüchtigtsten Mörder steckt. Jemanden wie dich – die Blasse Hand.«
Ephyra erstarrte. Hatte Hector seine Drohung also wirklich wahr gemacht? Hatte er den Stadtwächtern den Beweis dafür geliefert, was sie war?
Illya winkte ab. »Das ist natürlich nur ein Gerücht. Aber die Wachen nehmen es ganz offensichtlich für bare Münze. Sie haben mich mindestens dreimal davor gewarnt, diese Zelle zu betreten.«
»Und wenn sie recht haben?«, erwiderte Ephyra. Ihre Stimme klang belegt, weil sie schon eine Weile nicht mehr gesprochen hatte. Vielleicht auch vom Weinen.
»Das Risiko nehme ich gern auf mich.«
»Was beim Wanderer willst du von mir?«
Er schnalzte mit der Zunge. »Warum denn gleich so unhöflich?«
»Ich bin sogar noch viel zu höflich«, zischte sie. »Falls du es vergessen haben solltest – ich sitze wegen dir in dieser Zelle.«
»Ach, tatsächlich?« Er trat ein paar Schritte näher. »Wenn ich mich richtig erinnere, hat mein Bruder dich in diesen Tempel mitgenommen.«
Den Rücken an die Wand gepresst, stemmte Ephyra sich vom Boden hoch. »Und hat dein Bruder den Stadtwächtern auch etwas von angeblichen Tempelplünderern zugeflüstert? Unterschätz mich nicht. Ich weiß, dass du sie uns auf den Hals gehetzt hast.«
»Damit habe ich nichts zu tun«, sagte Illya. »Es war ein unglücklicher Zufall, mehr nicht.«
Ephyra wandte sich schnaubend ab. »Du hast ja keine Ahnung.«
Er stützte einen Arm neben ihrem Kopf an die Wand und zwang sie so, ihn wieder anzusehen. »Und wenn sich das Blatt nun für dich wenden würde?«
Sie kniff die Augen zusammen. »Was soll das heißen?«
»Wie es scheint, hat einer der Paladine meinem Bruder geholfen, aus seiner Arrestzelle zu entkommen. Die genauen Gründe dafür kenne ich nicht. Aber du kennst sie bestimmt.«
Ephyras Gedanken begannen zu rasen. Er sprach von Hector.
»Ah«, sagte Illya. Ihre Angst musste sich deutlich auf ihrem Gesicht abzeichnen. »Ich habe also ins Schwarze getroffen.«
Wenn Anton Hector davon überzeugt hatte, ihn aus seiner Zelle zu befreien, konnte dies nur bedeuten, dass er ihn zu Beru geführt hatte. Und wenn Hector herausfand, welche Rolle Beru beim Tod seiner Familie gespielt hatte, würde er sie töten. Ephyra hatte nicht den leisesten Zweifel daran. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie Hectors Vater sich damals auf sie gestürzt hatte, an die von tiefem Schmerz befeuerte Rachgier in seinen Augen.
Illyas goldbrauner Blick hielt ihren fest. »Du weißt, wohin sie gegangen sind, hab ich recht?«
»Wenn ich es wüsste, wärst du der Letzte, dem ich es sagen würde.«
Er zog die Brauen hoch. »Das ist wirklich schade, ich glaube nämlich, wir könnten uns gegenseitig helfen.«
»Wobei sollst du mir schon helfen können?«
Er legte den Kopf schräg, was ihn auf geradezu unheimliche Weise wie seinen Bruder aussehen ließ. »Zum Beispiel dabei, dich aus diesem Turm herauszuholen.«
Ephyra stieß ein Lachen aus. »Als ob die Stadtwächter eine Gefangene, die des Mordes verdächtigt wird, einfach so laufen lassen würden.«
»Nun, dann trifft es sich ja umso besser, dass ich genau weiß , dass du diese Morde nicht begangen haben kannst«, erwiderte er.
»Wovon redest du?«
»An dem Abend, an dem die Blasse Hand den Priester Armando Curio getötet hat, bist du mit mir zusammen gewesen«, sagte er und sein Gesicht nahm plötzlich einen zärtlichen Ausdruck an. »Ist es nicht so, meine Liebste? Ich müsste es wohl wissen, wenn meine Gemahlin eine gemeine Mörderin wäre.«
»Deine Gemahlin?«, entgegnete sie fassungslos.
Er zuckte mit den Achseln. »Meine zukünftige Gemahlin, wenn dir das lieber ist.«
Sie hätte ihm gern entgegengeschleudert, dass es ihr lieber wäre, er würde verschwinden und sie für immer in Ruhe lassen, aber sein Angebot – ein Alibi und die Freiheit – war nur schwer auszuschlagen. Sofern es kein Trick war.
»Warum sollten die Stadtwächter von Pallas Athos dem Wort irgendeines Fremden Glauben schenken?«
»Mein Wort hat in Pallas Athos großes Gewicht«, antwortete er mit unschuldigem Lächeln. »Ich habe einflussreiche Freunde. Einflussreich genug, um eine Gefangene zu entlassen, für die ich mich verbürge.«
Sie zweifelte nicht daran, dass er die Wahrheit sagte. Das erklärte, wie es ihm gelungen war, sich Zugang zu ihrer Zelle zu verschaffen.
»Ich bin nur allzu gerne bereit, den Stadtwächtern all das zu erzählen«, fuhr er fort, »wenn du mir hilfst, meinen Bruder zu finden.«
»Warum ist dir so viel daran gelegen, ihn zu finden?«
Er schwieg einen Moment, und als er antwortete, klang seine Stimme anders, leiser. »Es gibt in deinem Leben nicht viel, woran dir etwas liegt, oder?«
Ephyra wandte den Blick ab. Es war wohl mehr als offensichtlich, wie wenig ihr am Rest der Welt lag. Beru war ihr stets genug gewesen.
»Mir geht es genauso«, sagte Illya. »Sicher … ich kann mich rausputzen und den wohlhabenden Fremden spielen. Ich kann ein gelungenes Mahl genießen, eine schöne Melodie, eine gut gebaute Frau.« Sein Blick glitt über Ephyra. »Aber das alles … hat keine Bedeutung. Es gibt nur ein paar wenige kostbare Dinge, die wirklich wichtig sind. Du weißt, wovon ich spreche, nicht wahr? Es hat sehr lange gedauert, bis mir das klar wurde. Vielleicht zu lange.«
Ephyra beobachtete, wie seine Züge weicher wurden, bis er schließlich wie der junge Mann aussah, der er war. Bis sie beinahe anfing zu glauben, dass seine Worte so aufrichtig waren, wie sie klangen.
»Aber nun …«, Illya atmete seufzend aus, »verstehe ich es. Mein Bruder ist eines dieser kostbaren Dinge, die von Bedeutung sind. Ich werde alles dafür tun, um ihn zu finden. Um mir seine Vergebung zu verdienen.«
Mit der lautlosen Anmut, die sie sich als Blasse Hand angeeignet hatte, trat Ephyra so nah an ihn heran, dass sie nur noch einen Atemzug von ihm entfernt war. »Oh, Illya«, sagte sie leise. »Du scheinst mich für das wehrloseste Opferlamm in den Sechs Städten zu halten, wenn du glaubst, ich würde dir auch nur ein Wort von dem Pferdemist glauben, den du von dir gibst.«
Illya zuckte zurück. »Ich lüge nicht.«
Sie erinnerte sich, dass er dasselbe zu Anton gesagt hatte. »Was willst du wirklich von ihm?«
»Ich will ihn beschützen.«
»Wovor?« , fragte Ephyra. »Ich kann nicht behaupten, ihn besonders gut zu kennen, aber ich weiß, wie Angst aussieht, und das Einzige, wovor dieser Junge sich wirklich fürchtet, bist du.«
»Warum hätte ich Jahre damit verbringen sollen, nach ihm zu suchen? Warum hätte ich ein kleines Vermögen dafür ausgeben sollen, um einen Orakeldienst damit zu beauftragen, ihn aufzuspüren? Warum hätte ich von Stadt zu Stadt jagen sollen mit nichts mehr als einer geraunten Andeutung, dass er sich dort aufhalten könnte?«
Ephyra schwieg. Sie wollte nichts gemeinsam haben mit diesem Mann, der eindeutig ein Meister darin war, andere in die Irre zu führen, aber sie konnte nicht anders, als seine Geschichte mit ihrer zu vergleichen. Es kam ihr so vor, als wäre sie um die ganze Welt gereist, um ein Heilmittel für ihre Schwester zu finden. Illya hatte dasselbe getan, um seinen Bruder zu finden.
Aber dass sie sich in diesem Punkt offenbar so sehr ähnelten, bedeutete noch lange nicht, dass sie irgendwelche anderen Gemeinsamkeiten hatten.
»Na schön«, sagte Illya und trat einen Schritt zurück. »Du hältst mich immer noch für einen Lügner. Dann werde ich eben wieder auf eigene Faust nach ihm suchen.«
Er drehte sich um und ging auf die Zellentür zu, jeder Schritt ein Schlag auf den Steinboden.
Ephyra fluchte unterdrückt. Sie musste Anton genauso dringend finden wie Illya. Wenn jemand wusste, was mit Beru passiert war, ob Hector sie gefunden hatte oder nicht, dann war es Anton.
»Warte«, sagte sie. Illya blieb stehen und drehte sich mit einem höflichen Lächeln um, das kaum den Spott dahinter verhehlte. »Ich habe nicht gelogen, als ich sagte, ich wüsste nicht, wohin sie gegangen sind. Aber ich kann dich zu der Unterkunft führen, in der wir hier in der Stadt unser Lager aufgeschlagen haben. Vielleicht ist er noch dort. Vielleicht auch nicht.«
»Das klingt nicht sonderlich vielversprechend.«
»Es ist besser als nichts, und das weißt du ganz genau«, entgegnete Ephyra. »Ich habe keine Ahnung, was für ein Spiel du treibst, und fest steht, dass ich dir nicht traue, aber ich muss hier raus. Dann haben wir also eine Abmachung?«
Illya winkte ab. »Ob du mir vertraust oder nicht, spielt keine Rolle. Ich brauche dich, und es liegt auf der Hand, dass du mich brauchst, was uns naturgemäß zu Verbündeten macht.«
Sie schnaubte. »Zu Verbündeten? Ich wollte dich töten.«
»Das hast du aber nicht.«
»Wer sagt, dass ich es dabei belasse?«
Er lächelte wieder, einen wölfischen und gleichzeitig welpenhaften Ausdruck im Gesicht. »Ich bin bereit, das Risiko einzugehen, wenn du es auch bist.« Er hielt ihr die Hand hin. »Verbündete?«
Sie nahm sie und schluckte, als sie in seine goldbraunen Augen schaute. Sie war in ihrem Leben schon oft dazu gezwungen gewesen, mit dunklen Mächten zu verhandeln. So hatte es sich noch nie angefühlt.
»Verbündete.«