KAPITEL 41
ANTON
Der Abstand zwischen dem Fenster und dem nächsten Dach war größer, als Anton im Dunkeln angenommen hatte. Sobald er auf dem rauen Sandstein aufkam, gaben seine Knie unter ihm nach.
Als er sich wieder aufrichten wollte, wurde er von Judes Esha niedergestreckt, das mit einer Heftigkeit über ihn hinwegtoste, wie er es zuvor noch nicht gespürt hatte. Orientierungslos lag er da, überwältigt von seiner Kraft wie von einem Orkan.
Lauf , befahl ihm sein Verstand, und er rappelte sich auf und hetzte über das Dach. Sein Bruder war hinter ihm her. Entweder war er einer der Männer gewesen, die gerade die Kammer gestürmt hatten, oder er lag irgendwo dort draußen auf der Lauer. Er konnte durch Judes sturmgleiches Esha das seines Bruders fühlen, misstönend und schrill, wie das Geräusch von zerspringendem Glas. Unverkennbar.
Und er war mit seinen Söldnern gekommen, denselben, die in Antons Unterkunft aufgetaucht waren. Wobei Anton nicht glaubte, dass sein Bruder mit Jude gerechnet hatte. Eine Handvoll bezahlter Schwertkämpfer war einer so mächtigen Gabe wie seiner nicht gewachsen.
Andererseits, bei Illya wusste man nie. Anton hatte schon früh gelernt, seinen Bruder nicht zu unterschätzen. Am Ende war es doch immer so gekommen, dass er ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war.
Anton sprang auf das nächste der terrassenförmig angelegten Dächer und hielt sich im Schutz der Schatten, während er fieberhaft über einen Fluchtplan nachdachte. Würde er sich aus der Geheimen Quelle stehlen, setzte er seine beste Möglichkeit aufs Spiel, Pallas Athos zu verlassen. Er könnte in den frühen Morgenstunden zurückkehren, um wieder zu Remzi und seiner Besatzung zu stoßen – aber wer wusste schon, ob Illya dann nicht mit noch mehr Söldnern warten würde.
Geduckt huschte er auf die andere Seite des Dachs und sprang in die Gasse hinab, die darunter verlief. Dann also zum Hafen. Ihm blieb keine andere Wahl. Er musste es bis dorthin schaffen und sich so lange verstecken, bis die Schwarze Kormoran ihre Segel setzen würde.
»Anton«, zischte eine leise Stimme in seinem Rücken. Als er herumwirbelte, sah er Ephyra auf der obersten Stufe einer Treppe stehen. Überraschung und Erleichterung durchfluteten ihn.
»Ephyra … was machst du hier? Wie hast du mich gefunden? Wie hast du es aus der Zitadelle geschafft?«
Ihre Augen funkelten bedrohlich im Mondlicht. »Wie hast du es geschafft?«
Sein Magen zog sich schuldbewusst zusammen.
»Ich weiß, dass Hector Navarro dich dort rausgeholt hat«, sagte Ephyra. »Und ich weiß, dass er hinter Beru her ist. Sag mir, wo sie sind.«
»Ich habe versucht, ihr zu helfen«, sagte Anton. »Ich schwöre es. Ich … ich habe es geschafft, Navarro abzulenken, damit Beru fliehen kann. Sie … sie wollte zum Bahnhof, um nach Tel Amot zu fahren. Aber es kam zu einem Kampf. Navarro konnte entkommen. Wie es danach weitergegangen ist, weiß ich nicht.«
Er wappnete sich gegen ihre Wut, gegen ihre Verzweiflung, gegen ihre Abscheu. Stattdessen kamen ihr die Tränen und sie wandte den Blick von ihm ab. Schließlich nickte sie und sah ihn wieder an.
»Er wird alles daransetzen, sie zu finden, oder?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Anton. »Es spielt keine Rolle. Wir müssen schleunigst von hier weg, Ephyra. Mein Bruder … er ist hier. Er hat mich gefunden. Ich habe keine Ahnung, wie, aber er …« Er hielt inne, als er bemerkte, wie Ephyra den Kiefer anspannte und ihm plötzlich nicht mehr in die Augen schauen konnte.
Ihm wurde klar, dass sie seine Frage nicht beantwortet hatte.
»Wie bist du aus der Zitadelle rausgekommen, Ephyra?«
Als sie antwortete, besaß sie immerhin die Größe, ihn anzusehen. »Ich hatte keine andere Wahl«, sagte sie. »Es war die einzige Möglichkeit, um Beru zu retten.«
Natürlich. Wer sonst außer Ephyra hätte Illya hierherführen sollen. Nacktes Grauen stieg in ihm auf, als das klackernde Esha seines Bruders sich näherte.
»Ich weiß, das ist das Letzte, was du wolltest.« In Ephyras Stimme lag eine Sanftheit, die Anton noch nie von ihr gehört hatte. »Aber ich glaube, du hast dich in ihm geirrt. Ich glaube, er ist nicht der, für den du ihn hältst.«
»Und ob er das ist. Und du hast einfach … du …«
Es schnürte ihm die Kehle zu, als auf dem oberen Absatz der Treppe eine weitere Gestalt erschien.
Illya.
Ihm lief es eiskalt über den Rücken, als er in das Gesicht seines Bruders blickte – die blasse Haut straff über den hohen Wangenknochen gespannt, dunkle Schatten unter den goldbraunen Augen. Er sah wieder zu Ephyra, konnte immer noch nicht glauben, wollte nicht glauben, dass sie ihn tatsächlich verraten hatte.
»Du hast dich gar nicht von mir verabschiedet, Anton«, sagte Illya, als er die Stufen zu ihm herunterstieg, einen bekümmerten Unterton in der Stimme.
Ephyra ließ unsicher den Blick zwischen ihnen hin und her wandern. »Wolltest du nicht zuerst mich mit ihm sprechen lassen?«
»Ich habe es mir anders überlegt«, entgegnete Illya herablassend, bevor er seine funkelnden Augen wieder auf Anton richtete. »So wie du dich auch beim ersten Mal, als du fortgegangen bist, nicht von mir verabschiedet hast. Als du dich mitten in der Nacht davongestohlen hast. Großmutter und Vater haben mir die Schuld daran gegeben. Haben mir die schlimmste Tracht Prügel meines Lebens verpasst.«
»Sie hatten recht. Ich bin vor dir weggelaufen.«
»Nein, das bist du nicht«, sagte Illya leise. »Das hast du dir eingeredet, weil es wohl einfacher war, deinen grausamen, eifersüchtigen Bruder für alle deine Ängste verantwortlich zu machen. Aber tief in deinem Inneren weißt du, dass das nicht die Wahrheit ist.«
Illyas Worte ließen ihn erstarren. Er wünschte sich nichts mehr, als loszulaufen und nicht zurückzuschauen. Aber er konnte sich nicht von der Stelle rühren.
Er holte zitternd Luft. »Ich bin weggelaufen, weil du mich sonst umgebracht hättest.«
»Du meinst die Geschichte am See?«, sagte Illya. »Nein, Anton. Ich habe nicht versucht, dich umzubringen, aber irgendetwas ist an diesem Tag tatsächlich geschehen. Etwas, was dir mehr Angst eingejagt hat, als ich es jemals vermocht hätte. Etwas, dem du dich noch nicht einmal jetzt stellen kannst.«
»Ich weiß, was passiert ist.«
»Wirklich?«
»Ich …« Anton schloss die Augen. Er war wieder in dem eisigen See. Seine Muskeln waren starr vor Kälte. Hände tauchten ihn erbarmungslos unter Wasser. »Ich …«
Du weißt immer noch nicht, wovor du davonläufst, oder?
Er durfte das Wasser nicht in seine Lungen strömen lassen, ganz gleich, wie sehr sie brannten und nach Erlösung gierten. Er durfte nicht aufgeben. Durfte sich nicht in die Tiefe sinken lassen. Konnte sich dem, was dort unten auf ihn wartete, nicht aussetzen.
»Ich kann nicht …«
Hör auf damit!
BITTE!
»Anton!«
Er riss die Augen auf und sah Judes Gesicht vor sich. Anton hatte keine Ahnung, wie er plötzlich hierhergekommen war.
»Geht es dir gut?«, fragte Jude.
Sein Esha umtoste sie, während Anton ihn bloß anstarrte, wie aus weiter Ferne die kleine Lücke zwischen Judes Schneidezähnen wahrnahm, seine dichten, zu einer Linie zusammengezogenen Brauen, seine leuchtend grünen Augen, die voller aufrichtiger Sorge waren. Er wusste nicht, was er erwidern sollte.
Judes Blick wanderte an Anton vorbei zu Ephyra. »Du …«, sagte er verblüfft. »Ich verstehe nicht. Anton sagte, du hättest ihm helfen wollen.«
»Da gibt es nicht viel zu verstehen«, sagte Anton düster. »Sie hat stattdessen einfach beschlossen, mich zu verraten.«
»Könntest du vielleicht aufhören, so ein Drama zu machen?«, sagte Ephyra. »Ich habe dich nicht verraten . Ich bin hier, um Beru zu finden.«
»Und ihn bei der Gelegenheit zu mir zu führen«, erwiderte Anton. »Zusammen mit seinem Söldnertrupp.«
»Söldnertrupp?«, sagte Ephyra. »Welcher Söldnertrupp?«
»Oh«, sagte Illya in einem fast entschuldigenden Tonfall. »Es könnte sein, dass ich ein paar Freunde eingeladen habe, sich zu uns zu gesellen, nachdem wir uns getrennt haben.«
Fünf Männer traten um die Ecke. Sie trugen ähnliche Uniformen wie die Stadtwächter, nur dass ihre nicht blau, sondern grau und rot waren. Zwei von ihnen hatten riesige Armbrüste mit Messingpfeilen auf sie angelegt, an deren Ende schwere Silberketten befestigt waren. Der Rest von ihnen war mit Schwertern bewaffnet. Anton spürte, dass keiner von ihnen begnadet war. Das hier waren ganz gewöhnliche Kämpfer. Wäre er ihrer Brachialgewalt allein ausgeliefert gewesen, wäre sein Schicksal besiegelt gewesen.
Aber zum ersten Mal war Anton nicht allein.
Jude trat an Anton vorbei und stellte sich, die Hand fest um das Heft seines Schwerts geschlossen, zwischen ihn und die näher rückenden Söldner, obwohl der verwirrte Ausdruck auf seinem Gesicht verriet, dass er nicht wirklich verstand, was hier vor sich ging.
»Was soll das?« Ephyra blickte von den Söldnern zu Illya. »Du … du hast doch gesagt, dass …«
»Er hat dich angelogen, Ephyra«, sagte Anton. »Er lügt immer. Er tut nichts anderes.«
»Ich tue noch ein bisschen mehr als das.« Illya gab den Söldnern ein Zeichen.
Jude reagierte so schnell, dass Anton seinen Bewegungen mit bloßem Auge kaum folgen konnte. In der einen Sekunde war er noch an Antons Seite, in der nächsten schien er nur noch aus seinem wehenden blauen Umhang und seiner im Mondlicht funkelnden silbernen Klinge zu bestehen.
Jude schlug den ersten Söldner mit einem gezielten Schlag zurück, drehte sich blitzartig um die eigene Achse und wehrte den nächsten ab. Das pfeifende Sirren und metallische Klirren aufeinanderschlagender Klingen hallte durch die Nacht, während Jude die Söldner zurücktrieb und dabei stets darauf achtete, einem unverrückbaren Felsen gleich zwischen ihnen und Anton zu stehen.
Sich an eine Hauswand pressend, begegnete Anton über das Kampfgetümmel hinweg Ephyras Blick. In ihren Augen lag weder Reue noch Schuld. Nur erbarmungslose Entschlossenheit. Sie wandte sich ab und lief auf die niedrige Mauer zu, die die Gasse vom Innenhof der Geheimen Quelle trennte.
»Lasst sie nicht entkommen«, knurrte Illya. »Keinen der drei.«
Zwei der Söldner stürzten sich auf Ephyra, packten sie an den Armen und zerrten sie von der Mauer weg.
Sie versuchte sich aus ihrem Griff zu befreien. »Lasst mich los
Anton sah, wie ihr Blick den von Illya fand, einen Ausdruck kalter Wut in den Augen.
»Was ist aus Verbündete geworden?«, zischte sie.
Sein Bruder lächelte – ein Lächeln, bei dem es Anton kalt den Rücken hinunterlief. »Du bist eine gute Verbündete gewesen. Aber du wirst eine noch bessere Gefangene abgeben.«
Ephyras Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Ich hätte dich töten sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.« Sie trat einem der Söldner, die sie festhielten, mit aller Kraft auf den Fuß. Kaum hatte er zu einem schmerzerfüllten Jaulen angesetzt, riss sie sich los und stürzte sich auf Illya. In einem Wimpernschlag hatte sie ihn niedergeschlagen, nagelte ihn mit ihrem Knie auf den Boden und presste ihre Handfläche auf seine Kehle, als wäre sie eine Klinge.
»Ruf deine Männer zurück«, schrie sie. »Ich kann dein Herz dazu bringen, nicht mehr zu schlagen, noch bevor du versuchst, das nächste Mal Luft zu holen, und ich brauche dafür noch nicht einmal eine Waffe. Ruf. Sie. Zurück.«
Anton hörte ein leises, sirrendes Geräusch, und ehe er begriff, was passierte, schoss einer der Armbrust tragenden Söldner einen Pfeil ab.
Ephyra warf sich zur Seite und rollte von Illya herunter. Der Pfeil und die Kette verfehlten sie und flogen über die niedrige Innenhofmauer hinweg.
Mit geweiteten Augen starrte sie dem Geschoss hinterher, dann rappelte sie sich vom Boden auf, sprang auf die Mauer und von dort auf das darüberliegende Dach.
»Ihr nach!«, rief Illya und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf Anton.
Nun stand nur noch Jude zwischen den beiden Brüdern. Aber bevor einer von ihnen sich rühren konnte, legten die zwei Söldner, die Illya flankierten, ihre Armbrüste an und schossen.
Anton duckte sich. Jude holte blitzschnell mit seinem Schwert aus und wehrte einen der Bolzen ab, bevor er dem anderen auswich und seine Klinge Richtung Illya schwang.
Der zweite Bolzen schlug neben Anton in der Hauswand ein. Die daran befestigte Kette flog hinterher, peitschte zurück, wickelte sich um Judes Handgelenk und zog sich so straff, dass die Klinge nur wenige Fingerbreit vor Illyas Kehle zum Stehen kam.
Die Söldner rissen an der Kette und zerrten ruckartig Judes Arm zurück. Jude schrie auf und sank auf die Knie. Er hob den Blick, seine grünen Augen funkelten erbittert, als er sein Gewicht auf die Fersen verlagerte, um ein Koah durchzuführen.
»Das würde ich an deiner Stelle lieber nicht tun«, warnte Illya ihn.
Jude schrie erneut auf und sackte in sich zusammen. Anton spürte, wie Judes Esha erzitterte. Er wollte ihm zu Hilfe eilen, aber sein Instinkt befahl ihm, sich nicht von der Stelle zu rühren.
Illya trat vor Judes zusammengesunkene Gestalt. Der Paladin stieß ein leises Stöhnen aus.
»Was hast du mit ihm gemacht?«, fragte Anton.
»Keine Sorge. Er wird keinen dauerhaften Schaden davontragen«, versicherte Illya ihm. »Diese Ketten wurden in Gottesfeuer geschmiedet. Sie brennen die Gabe nicht heraus, wie die Flammen es tun, aber sie sorgen dafür, dass es unvorstellbar schmerzhaft ist, sie zu benutzen.«
Judes Kopf ruckte nach oben. »Gottesfeuer? Das ist unmöglich. Bist du …« Er sog vor Schmerz die Luft zwischen den Zähnen ein. »Haben die Zeugen dich geschickt?«
Anton wirbelte zu seinem Bruder herum. Die ganze Zeit hatte er geglaubt, Illya wäre hier, um sich an ihm zu rächen, aber … das? Illya, ein Anhänger der Zeugen?
Er war so ein Narr gewesen. Illya hatte sich nie für die angebliche Blutlinie ihrer Familie interessiert. Er hatte Anton stets dafür gehasst, begnadet zu sein. Es war also nur folgerichtig, dass er sich denen angeschlossen hatte, die seinen Hass teilten. Die ihn gelehrt hatten, dass das, was er am meisten hasste – Antons machtvolle Gabe –, für all sein Elend verantwortlich war.
»Du begreifst schnell«, sagte Illya. »Ich bin fast beeindruckt.«
»Was willst du von Anton?«, fragte Jude und unterdrückte ein Stöhnen.
»Ich dachte, das wäre offensichtlich«, erwiderte Illya. »Schließlich ist es dasselbe wie das, was du von ihm willst.«
Jude sah Anton an, das Gesicht schmerzverzerrt. »Wovon spricht er?«
»Oh«, sagte Illya amüsiert. »Interessant.«
»Lass ihn gehen.« Anton richtete den Blick wieder auf seinen Bruder. »Um ihn geht es dir doch gar nicht. Du willst nur mich.«
»Falsch«, sagte Illya. »Ich will euch beide.«
Er beugte sich über Jude und riss die Gewandspange von seinem Umhang. Der dunkelblaue Stoff glitt an Jude herab.
»Hüter der Botschaft«, sagte Illya, die Gewandspange betrachtend. »Ich habe das Gefühl, der Hierophant wird äußerst zufrieden mit mir sein, wenn ich ihm das Oberhaupt des Ordens des Letzten Lichts ausliefere.«
Sie saßen in der Falle. Und Anton hatte nichts, was er als Wetteinsatz auf den Tisch legen konnte. Kein Ass, das er aus dem Ärmel schütteln konnte. Er war sämtlicher Entscheidungsmöglichkeiten beraubt. Die Furcht, die ihn von einer Stadt zur nächsten getrieben hatte, die jahrelang seinen Verstand geschärft und seine Schritte beschleunigt hatte, löste sich plötzlich auf. An ihre Stelle trat das Wissen um seine Niederlage.
Vielleicht hatte er die ganze Zeit gewusst, dass Illya eines Tages gewinnen würde. Anton war es gelungen, es all die Jahre zu verdrängen, nur um am Ende doch hier zu landen – ohne jeden Ausweg, ohne jede Chance, sich vor dem Ertrinken zu retten.