KAPITEL 48
HASSAN
Hassan fuhr auf der Seekarte mit dem Finger bis zur Abbildung des Leuchtturms. »Hier werden wir anlegen.«
Er saß mit Petrossian, Osei, Penrose, Khepri und Lethias Sohn Cirion über die Karte gebeugt, ihre Gesichter spiegelten unterschiedliche Stadien der Erschöpfung wider. Wie bereits am Tag zuvor gingen sie nun schon seit Stunden immer und immer wieder ihre Strategie durch, zerlegten sie in ihre Einzelteile und setzten sie wieder neu zusammen. Die seekrank machende, stickige Enge des Kartenraums der Cressida begann allmählich an ihren Nerven zu zerren. Aber vor allem waren sie die endlosen Debatten über ihre Vorgehensweise müde geworden. Dutzende Male hatten sie jedes einzelne Detail ihres Angriffs erörtert.
»Die Artemisia wird Nasira vor Sonnenaufgang erreichen. Yarik, Annuka und Faran warten auf die Ankunft der Schiffe des Ordens und führen die Offensive am Hafen an.« Hassan tippte auf die entsprechende Stelle auf der Karte. »Wir legen in der Zwischenzeit außer Sichtweite des Palasts hinter dem Leuchtturm an, Khepri und ich gehen an Land und steigen auf die Aussichtsplattform des Turms, um von dort aus den Palast und den Hafen im Auge zu behalten.
Ihr wartet auf unser Signal, das Schiff zu verlassen, und macht euch dann auf den Weg zum Palast.«
»Ich würde wetten, dass die Zeugen die Flamme des Gottesfeuers entweder im Hohen Tempel oder an einem gesicherten Ort im Palast aufbewahren«, fügte Khepri hinzu. »Am besten fangen wir dort zu suchen an.«
Penrose nickte. »Die Schiffe des Ordens werden ebenfalls im Morgengrauen anlegen. Unsere Streitkräfte werden das Heer der Zeugen zurückschlagen und den Hafen einnehmen, während wir nach der Flamme des Gottesfeuers suchen.«
»Uns darf nicht der kleinste Fehler unterlaufen«, mahnte Petrossian.
»Wir alle sind aus ein und demselben Grund hier«, sagte Cirion. »Mich und meine Besatzung mit eingeschlossen. Morgen um diese Zeit wird Herats rechtmäßiger Herrscher wieder in den Palast von Nasira einziehen und die Geschicke seines Landes führen.«
Hassan sah zu seinem älteren Cousin, den er nur von seinen Besuchen im Palast von Herat kannte, als er selbst noch ein Kind gewesen war. Dennoch hatte Cirion – mittlerweile »Kapitän Siskos« – nicht gezögert, Hassan seine volle Unterstützung zuzusichern, ohne die Gefahr zu scheuen, in die er sich selbst damit brachte. Er mochte nur zur Hälfte ein Herati sein, war jedoch nicht weniger loyal als jeder andere Landsmann.
»Es sind nur noch ein paar Stunden, bis wir Land sichten«, fuhr Cirion fort. »Wir sollten die Zeit dafür nutzen, uns etwas auszuruhen und zu sammeln.«
Jeder Muskel in Hassans Rücken protestierte, als er seine über die Karte gebeugte Haltung aufgab und sich aufrichtete. Er nickte den anderen zu, als diese mit schweren Gliedern den Raum verließen. Hassan blieb, wo er war. Morgen würde er zum ersten Mal seit über einem Monat seine Heimatstadt wiedersehen.
Der Abschied von Pallas Athos war bittersüß gewesen. Die Männer und Frauen, die sich der Armee der Geflüchteten angeschlossen hatten, hatten ihren Familien Lebewohl gesagt, die an Bord des Ordensschiffes gegangen waren, um zum Galliangebirge zu segeln und im Kastell von Kerameikos Schutz zu suchen. Ein schwerer Schritt, aber unabdingbar. Sollte Hassan scheitern – und nur er und Khepri wussten, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass genau das passierte –, wäre es für sein Volk wichtiger denn je, einen Ort zu haben, an dem es in Sicherheit war.
Asisi, seine Mutter und seine kleine Schwester waren unter den Geflüchteten, die sich nun auf dem Weg nach Kerameikos befanden.
»Ich will auch wieder nach Hause«, hatte Asisi zu Hassan gesagt, als sie am Hafen darauf warteten, an Bord zu gehen. »Warum kann ich nicht mit euch kommen?«
Die Worte hatten Hassan das Herz schwer gemacht. »Du wirst wieder nach Hause kommen. Das verspreche ich. Doch bevor ihr dorthin zurückkönnt, müssen wir dafür sorgen, dass euch in Nasira keine Gefahr mehr droht.«
»Aber ich habe keine Angst«, protestierte Asisi. »Ich will euch helfen.«
Hassan war vor dem Jungen in die Hocke gegangen und hatte ihm eine Hand auf die schmale Schulter gelegt. »Das tust du schon. Dass du mit deiner Mutter und deiner Schwester an Bord dieses Schiffs gehst, um in ein unbekanntes Land zu segeln, ist genauso wichtig, wie das, was wir tun. Genauso mutig. Es braucht sogar sehr viel Mut, auch in der Fremde die Heimat in deinem Herzen zu bewahren, zusammen mit der Hoffnung auf Rückkehr. Wir werden Herat wieder zu einem sicheren Ort für euch machen, Asisi.«
Er hoffte es.
Danach war es für Hassan an der Zeit gewesen, sich von Lethia zu verabschieden. Ein Teil von ihm wünschte sich, sie würde mit ihm nach Nasira kommen, statt nach Charis zu segeln und den Geflüchteten dort von den jüngsten Entwicklungen zu berichten.
Es gab nicht genügend Worte, dachte er, in keiner Sprache der Welt, um auszudrücken, wie dankbar er ihr war. Nicht nur für die Schiffe, sondern für alles, was sie für ihn getan hatte, und alles, was sie ihm seit dem Umsturz gewesen war. Selbst als sie versucht hatte, ihn von der Agora fernzuhalten, selbst als sie die Motive des Ordens infrage gestellt hatte – an ihm hatte sie keinen Moment gezweifelt.
»Lethia …«
Sie hatte ihn mit einem Blick zum Schweigen gebracht. »Bald sehen wir uns wieder. Gib auf dich acht, mein Prinz.«
Sie hatte ihn auf die Wange geküsst und Cirion ein Zeichen gegeben, ihn an Bord der Cressida zu geleiten.
Nun beugte sich Hassan in der engen Schiffskabine wieder über die Karte und maß die Entfernung von Pallas Athos bis nach Nasira ab. Sie war kaum der Rede wert, und doch hatte es ihm alles abverlangt, sie zurückzulegen.
»Du solltest dich auch etwas ausruhen, Hassan.«
Khepri. Als sie ihre Lagebesprechung beendet hatten, hatte er gehofft, sie würde vielleicht noch einen Augenblick bleiben. In den Tagen vor ihrer Abreise hatte er sich immer wieder dabei ertappt, wie er ihren Blick suchte, selbst dann, wenn sie mit den anderen Verantwortlichen der Armee und der Garde gerade über ihrer Strategie brüteten. Und jedes Mal, wenn sie seinen Blick erwidert hatte, hatte sich in seiner Brust plötzlich ein federleichtes Gefühl ausgebreitet und er hatte ganz tief in sich ein sehnsüchtiges Ziehen gespürt. Das Erste, woran Hassan dachte, wenn er morgens aufwachte, waren Herat und Nasira, aber Khepri war das Letzte, was er sah, wenn er abends die Augen schloss.
Sie lehnte sich mit der Hüfte an den Tisch neben ihm.
»Es gibt immer noch so viele Unwägbarkeiten«, sagte er kopfschüttelnd und breitete die Hände über der Karte aus. »Unser Schiff könnte von der Küste aus entdeckt werden. Die Zeugen könnten kurz vor Herat eine Seeblockade errichtet haben, von der wir nichts wissen. Die Schiffe des Ordens könnten sich verspäten …«
»Nicht.« Khepri nahm seine Hände zwischen ihre. »Wir haben tagelang alle möglichen Szenarien durchgespielt. Jetzt kannst du nichts mehr tun, als Vertrauen in dich selbst zu haben, und in uns.« Sie legte ihm eine Hand an die Wange und zwang ihn sanft, sie anzusehen. »Aber das allein ist es nicht, was dir solche Sorgen bereitet, habe ich recht?«
Er versuchte vergeblich, seine Verzweiflung vor ihr zu verbergen. »Sag mir, dass ich das Richtige tue«, stieß er schließlich leise hervor. »Sag mir, dass es das ist, was ich tun muss. Dass ich keine andere Wahl habe, als den Weg einzuschlagen, der vor uns liegt.«
Ihr Blick war fest, als sie nun dicht vor ihn trat und sein Gesicht in beide Hände nahm. »Wir haben immer eine Wahl, Hassan.«
Dann schloss sie auch den letzten winzigen Abstand zwischen ihnen beiden und legte ihre Lippen auf seine. Noch bevor Hassan den Kuss erwidern konnte, hatte sie sich wieder von ihm gelöst. Ihre Brauen waren zusammengezogen, ihre Hand lag schwer wie ein Anker in seiner Halsbeuge.
»Tut mir leid.« Sie schüttelte den Kopf. »Das war …«
Er verschloss ihren Mund mit seinem, schlang den Arm um ihre Taille und vergrub die andere Hand in ihren Haaren. Zweimal schon waren sie ganz kurz davor gewesen. Beim ersten Mal war er ausgewichen. Beim zweiten Mal war sie zurückgescheut.
Aber nun fanden sie sich. Nun küsste er sie, als wäre es seine einzige Bestimmung auf der Welt. Als gäbe es keine Prophezeiung und kein Blutvergießen und keine Schlacht. Nur das hier – Lippen auf Lippen, sein Puls, der unter ihrem Daumen pochte, ihr Haar, das wie Seide durch seine Finger glitt.
Khepri unterbrach den Kuss mit einem leisen Keuchen und fegte die Karten, Aufzeichnungen und Pläne vom Tisch hinter sich, schwang sich auf die frei gewordene Fläche und zog Hassan mit sich, bevor ihre Lippen von Neuem miteinander verschmolzen, leidenschaftlich und hungrig und hoffnungsvoll.
Hassans Körper wurde von einer pulsierenden Hitze erfasst und aus irgendeinem seltsamen Grund musste er daran zurückdenken, wie sie bei dem Übungskampf auf der Agora ihre Kräfte gemessen hatten, wie sie von einem inneren Leuchten erfüllt schien, als sie ihm im Innenhof der Villa kühn die Stirn geboten hatte, an ihren grimmigen und unerschütterlichen Kampfgeist beim Anschlag der Zeugen auf den Tempel von Pallas.
Habe ich den falschen Mann gewählt? , hatte sie ihn an Emirs Grab gefragt.
Nein, dachte er verzweifelt und umschlang sie noch fester, verzehrt von seinem Verlangen nach dieser Nähe – nach ihr. Er wollte, dass sich all dieses Feuer, all dieser Mut, all diese stählerne Kraft auf ihn richtete, auf ihn ganz allein. Er wollte jeden einzelnen Teil von ihr kennen. Und er wollte, dass sie jeden einzelnen Teil von ihm kannte, weil niemand sonst in der Lage dazu war. Als er ihr das erste Mal begegnet war, hatte er sie belogen und ihr verschwiegen, wer er war. Doch hier im Bauch dieses Schiffes, am Vorabend einer Schlacht, war sie der einzige Mensch auf der Welt, der die ganze Wahrheit kannte, der wusste, wer er wirklich war. Er wollte, dass sie auch diese Wahrheit kannte – dass sie wusste, welche Gefühle sie in ihm hervorrief, dass ihre Berührung, ihr Blick, ihre Worte ihn in seine Einzelteile auflösten. Und ihn anschließend wieder zu einem Ganzen zusammensetzten, etwas, das neu und größer war als zuvor.
Sie schob die Hand in seinen Nacken, zog ihn sanft an den Haaren, bis er seine Lippen von ihrem Hals löste und seine Nase an ihre Wange schmiegte.
»Ich kann hören, wie dein Herz schlägt«, flüsterte sie an seinem Ohr.
Hassan strich mit den Daumen seitlich über ihre Rippen und genoss, wie sie erschauerte.
»Es schlägt sehr schnell.« In ihrer Stimme schwang ein Lächeln mit.
Er stieß ein hilfloses kleines Lachen aus.
»Das macht nichts«, sagte Khepri. Sie griff nach seiner Hand und legte sie auf ihr Herz. Er spürte es hart gegen seine Handfläche pochen. »Meines auch.«
»Ich dachte …« Hassan drückte nach Atem ringend die Stirn an ihre. »Ich dachte, du würdest das hier nicht wollen. Ich dachte …«
Sie brachte ihn mit einem Kuss zum Schweigen und ließ ihre Hände an seiner Brust hinabgleiten. Die Berührung sandte einen warmen Schauer durch seinen Körper. Als sie ihn danach wieder ansah, schimmerten ihre Augen feucht. »Ich habe versucht, mich dagegen zu wehren. Aber nun kümmert es mich nicht mehr, ob es selbstsüchtig ist – ich will es. Ich will genau das hier. Ich will dich.«
Seine Lippen fanden die zarte Stelle neben ihrem Ohr, an der ihr Puls schlug, folgten dem Schwung ihres Halses bis zu der kleinen Vertiefung zwischen ihren Schlüsselbeinen, entlockten ihrer Kehle ein süßes Seufzen und seinen atemlos gehauchten Namen. »Hassan …«
Doch dann spannte sich ihr Körper mit einem Mal an und sie richtete sich halb auf. »Was war das?«, sagte sie. »Hast du das auch gehört?«
Hassan löste sich widerstrebend von ihr. Sie lauschte mit zusammengekniffenen Augen. Er hatte nichts gehört, trat aber trotzdem ein paar Schritte zurück, damit sie sich ganz aufrichten und vom Tisch gleiten konnte.
»Da draußen geht irgendetwas vor sich.« Khepri griff nach ihrem Schwert, das an der Wand lehnte.
Die Tür flog auf.
»Prinz Hassan!« Es war der Erste Offizier der Cressida , auf dessen Gesicht ein Ausdruck höchster Alarmbereitschaft lag. Zwei weitere Besatzungsmitglieder standen hinter ihm in dem dunklen Gang. »Kommt schnell.«
Hassan richtete sich auf und hoffte inständig, dass ihm nicht anzusehen war, was sich zwischen ihm und Khepri gerade ereignet hatte. »Was ist passiert?«
»Im Hafen wurde etwas gesichtet«, sagte der Erste Offizier und führte sie zu den Stufen am Ende des Gangs.
»Schiffe?«, fragte Hassan und lief noch etwas schneller, um zu ihm aufzuschließen.
Der Erste Offizier schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Kapitän Siskos hat mir lediglich die Order gegeben, Euch auf der Stelle zu ihm zu bringen.«
Plötzlich bemerkte Hassan, dass Khepri ihnen nicht mehr folgte. Sie war mitten im Gang stehen geblieben und in den Schein einer Leuchtlampe getaucht, deren Licht aus der Kajüte drang, die sie gerade verlassen hatten. Die zwei anderen Besatzungsmitglieder standen hinter ihr.
»Khepri?«
Sie sah den Ersten Offizier an. »Du lügst … dein Herzschlag hat sich gerade beschleunigt. Du weißt sehr wohl, was hier vor sich geht.«
»Wir beeilen uns besser«, drängte der Erste Offizier. »Die anderen warten bereits an Deck auf Euch.«
Khepri schüttelte den Kopf. »Du lügst
Sie griff nach ihrem Schwert, doch bevor sie es ziehen konnte, hatten sich die anderen beiden schon auf sie geworfen und eine eiserne Kette um sie geschlungen, die ihr die Arme eng an den Körper fesselte.
»Khepri!« Hassan dachte nicht nach. Er stürzte sich auf einen der Männer und stieß ihn gegen die Wand, worauf der andere ihn an den Armen packte und den Flur zurückzerrte.
Khepri nutzte den Moment, um die Kette abzuwerfen, die jedoch an einer Metallfessel befestigt war, die sie um ihr Handgelenk geschlossen hatten. Sie machte einen Ausfallschritt und winkelte die Arme vor sich an – die Grundhaltung des für Stärke stehenden Koahs, wie Hassan sofort erkannte. Doch als sie zur nächsten fließenden Bewegung ausholen wollte, schrie sie gequält auf und sackte gegen die Wand.
Rasend vor Wut versuchte Hassan sich aus dem Griff der Besatzungsmitglieder zu befreien, nahm nichts anderes mehr wahr als Khepris schmerzverzerrtes Gesicht.
»Was geht hier vor?«, schrie er heiser. »Was habt ihr mit ihr gemacht?«
Khepri setzte zu einem anderen Koah an und schrie erneut auf. Zwei weitere Wachen, die mittlerweile angerückt waren, drückten sie gegen die Wand und fesselten ihr die Arme auf den Rücken.
»Hände weg von ihr!« Hassan riss sich aus der Umklammerung der beiden Männer. »Lasst sie sofort …«
Jemand packte ihn von hinten, stieß ihn neben Khepri und presste sein Gesicht seitlich gegen die Wand. Er hörte Khepris erstickte Schmerzenslaute, während sie versuchte, sich gegen den Griff ihrer Peiniger zu wehren.
Seine Gedanken überschlugen sich, als ihm ebenfalls die Hände auf den Rücken gefesselt wurden. Was ging hier vor sich? War das alles womöglich nur ein Irrtum? Oder hatte die Besatzung eine Meuterei angezettelt?
Doch als der Erste Offizier sie abführen und an Deck bringen ließ, offenbarte sich die ganze Wahrheit.
Hassans Soldaten standen im bläulich-violetten Licht der Morgendämmerung entlang der Reling, geknebelt und in Ketten gelegt. Vor ihnen hatte sich ungefähr ein Dutzend Besatzungsmitglieder aufgereiht, die ihre Armbrüste auf sie richteten.
Sie waren verraten worden.
Hinter ihm näherten sich schwere Stiefelschritte und im nächsten Moment legte sich ihm eine Hand auf die Schulter.
»Nun, Hassan«, sagte Cirion. »Ich muss zugeben, dass euer Plan gar nicht so schlecht war.«
Sprachlos vor Zorn wirbelte Hassan zu seinem Cousin herum. Seine Augen hatten exakt denselben Farbton wie die von Lethia.
»Unserer war nur sehr viel besser.«