KAPITEL
54
HASSAN
Gespenstisch anmutende Schatten zuckten über die Mauern des Atriums, als Lethia Hassan in den Leuchtturm führte. Er hob den Blick und stellte voller Grauen fest, dass die hell leuchtende Fackel an der Spitze durch die blasse Flamme des Gottesfeuers ersetzt worden war.
Dies war die Flamme, mit der sie die Begnadeten ausrotten würden. Sie hatten sie hierhergebracht, an die Spitze des Leuchtturms, der Nasiras Erbe und die Weisheit der Propheten symbolisierte.
In der Mitte des Atriums standen fünf in Ketten gelegte Mitglieder der Paladingarde vor der groß gewachsenen blassen Gestalt des Hierophanten. Neben ihnen befand sich ein weiterer Gefangener, um dessen Hals, Handgelenke und Fußknöchel Eisenringe lagen, die mit einer Kette verbunden waren. Hassan brauchte einen Augenblick, bis er Jude Weatherbourne in ihm erkannte. Den Hüter der Botschaft. Hassan hatte ihn seit jener Nacht, in der er seinen Traum gehabt hatte, nicht mehr gesehen.
Auf den stufenförmig angeordneten Galerien über ihnen standen dicht an dicht weitere Gefangene. Seine Armee. Er ließ den Blick durch ihre Reihen wandern, hielt unter den Soldaten und Soldatinnen nach jemand ganz Bestimmtem Ausschau. Aber es war zu dunkel, um einzelne Gesichter auszumachen.
Schließlich sah er wieder zu dem hell erleuchteten Mann in der Mitte des Atriums, dessen goldene Maske im Licht des Gottfeuers funkelte. Hassan wurde von einem unbändigen Zorn gepackt. Dieser Mann, der dort so ruhig und andächtig inmitten eines Rings aus aneinandergeketteten Gefangenen stand, war der Grund für all die Angst und das Entsetzen, das Hassan in den letzten vier Wochen ausgestanden hatte. Dieser Mann verursachte auf Schritt und Tritt Schmerz, säte Hass und Gewalt und wagte es auch noch, dabei von Erlösung zu sprechen. Hassans Zorn war wie ein lebendiges Wesen, das sich in seinem Inneren hin und her warf und danach lechzte, freigelassen zu werden.
»Es ist an der Zeit, dass ihr die Wahrheit erfahrt«, sagte der Hierophant an die Gefangenen gerichtet.
»Die Wahrheit?«, rief Penrose. »Du verbirgst dein Gesicht hinter einer Maske und wagst es, von Wahrheit zu sprechen? Wir wissen, was du in Wirklichkeit bist. Du bist der Betrüger.«
Der Hierophant wandte sich langsam zu ihr um. Sie zuckte zusammen, hielt seinem Blick aber stand. Hassan war stolz auf sie angesichts ihres Muts, dem Hierophanten die Stirn zu bieten.
»Ah, der Betrüger … der Prophezeiung zufolge der erste Vorbote unseres neuen Zeitalters. Und für den hältst du mich?«, entgegnete der Hierophant spöttisch. »Welche Unwahrheiten habe ich denn verbreitet?«
»Du hast deinen Anhängern Lügen über die Begnadeten erzählt, ihnen eingeredet, sie müssten uns hassen«, entgegnete Penrose aufgebracht. »Du behauptest, einst ein Akolyth gewesen zu sein, aber in keinem der Tempel gibt es auch nur eine Spur von dir. Du hast die Namen der Propheten verleumdet und all diese Menschen in die Irre geleitet.«
»Es sind nicht meine Anhänger, die in die Irre geleitet wurden«, erwiderte der Hierophant ungerührt. »Und ich habe keine Lügen gepredigt. Doch es befindet sich jemand hier unter uns, der sich all dessen schuldig gemacht hat. Jemand, dessen Betrug euch alle hierhergeführt hat.«
Hassan erstarrte. Der Hierophant sah ihn auffordernd an.
»Sag es ihnen, Prinz Hassan.«
Hassans Mund war wie ausgedörrt. Er hatte das Gefühl, nicht mehr atmen, geschweige denn sprechen zu können.
»Wie mir scheint, bist du noch nicht einmal jetzt in der Lage, es zuzugeben. Vielleicht ziehst du es vor, dass diese Menschen der Vergeltung entgegentreten, ohne den wahren Grund dafür zu kennen, warum sie hier sind.«
Hassan stieß die Luft aus. »Nein. Ich werde es ihnen sagen.«
Sämtliche Augen auf dem Leuchtturm ruhten nun auf ihm. Er wusste, was er zu tun hatte. Er hätte es schon vor Tagen tun müssen, als sie in Pallas Athos an Emirs Grab gestanden hatten. So wie er es vorgehabt hatte, bevor er es sich, von rasender Wut und Trauer beherrscht, anders überlegt hatte.
Er atmete tief durch und wandte sich den sechs Mitgliedern der Garde zu, den Menschen, die für ihn gekämpft und an ihn geglaubt hatten. Er sah sie nacheinander an und hielt ihren Blicken stand.
»Die Wahrheit ist«, begann er, »dass ich nicht der Prophet bin.«
Penrose starrte ihn einen Moment bestürzt an. »Ich … Ihr lügt.«
»Ich dachte, ich wäre der Prophet«, sprach Hassan langsam weiter. »Ich habe es geglaubt … sehr viel länger, als ich es hätte tun sollen. Aber meine Vision war nichts weiter als ein Traum. Und selbst als ich die Wahrheit erkannt habe, habe ich die Lüge aufrechterhalten. Das war … ein unverzeihlicher Fehler.«
Osei trat einen Schritt auf ihn zu, zerrte an seinen Ketten. »An dem Tag, an dem Ihr geboren wurdet, ist der Himmel erleuchtet gewesen …«
»Ein Zufall«, sagte Hassan mit fester Stimme.
»Aber die Prophezeiung von Nasira«, ergriff nun auch Petrossian das Wort, »hat sich nicht erfüllt, als die Zeugen die Stadt eingenommen haben.«
»Falsch«, sagte Lethia, die noch immer neben Hassan stand. »Der Leuchtturm ist unversehrt und dieses Königreich wird weiterhin von der Seif-Linie regiert. Ich
bin die Nachfolgerin meiner Mutter. Ich bin die Königin von Herat.«
Penrose sah Hassan an, einen flehenden Ausdruck in den Augen. »Aber … die Vision. Die Vision, die uns gezeigt hat, wie wir das Zeitalter der Dunkelheit aufhalten können.«
»Es war ein Traum«, sagte er, so ruhig er es vermochte. »Nichts weiter.«
Die Fassungslosigkeit verschwand aus Penroses Zügen, als sie begriff, dass er die Wahrheit sprach. Als sie sich nicht länger dagegen auflehnte. Jude Weatherbournes Miene neben ihr war unergründlich, seine Augen hatten sich geweitet, aber sein Blick war konzentriert, seine Lippen bildeten eine schmale, angespannte Linie.
»Ihr seid nicht der Letzte Prophet«, sagte er langsam, als würde er den Gedanken vorsichtig in seinem Kopf hin und her wenden. »Seid es nie gewesen.«
»Er ist ein falscher Prophet«, sagte der Hierophant. »Ein Betrüger.«
Alle Luft wich aus Hassans Brustkorb. Die Worte aus der Prophezeiung hallten wie ein Echo durch seinen Kopf. Der Betrüger verführt die Welt mit Lügen.
»Prinz Hassan ist der erste Vorbote des Zeitalters der Dunkelheit.«