KAPITEL 56
JUDE
Von der Spitze des Leuchtturms loderte weißes Licht. Als Jude den Blick hob, sah er eine Prozession von Zeugen, die mit brennenden Fackeln, die sie an der Flamme des Gottesfeuers entzündet hatten, die geschwungenen Treppenaufgänge herabstiegen.
»Der Moment der Vergeltung ist gekommen«, verkündete der Hierophant, dessen Stimme von den Turmmauern widerhallte. »Unser Gottesfeuer wird der Verderbtheit der Begnadeten ein Ende setzen und die Welt von den Sünden der Propheten reinigen. Sobald ihr von den euch verderbenden Kräften befreit seid, werdet auch ihr beginnen, die Wahrheit zu sehen. Manche von euch werden nicht in der Lage sein, sich ihr zu stellen. Dies ist der Preis der Vergeltung.«
Der Tonfall des Hierophanten war düster, als würde der Gedanke ihn aufrichtig bekümmern.
»Aber der Rest von euch wird geläutert und Teil einer neuen und reinen Welt werden«, fuhr er fort. »Einer Welt, wie sie vor langer Zeit existierte, bevor die Propheten sie der Verkommenheit anheimfallen ließen. Das heilige Esha der Welt wird wieder ungestört fließen, ohne dass die Begnadeten es für ihre eigennützigen Zwecke manipulieren. Und wir werden Zeugen eines wahren und fortwährenden Friedens werden.«
Die geisterhafte Prozession der Fackelträger hatte mittlerweile das Atrium erreicht und bildete einen Kreis um die Paladingarde in ihrer Mitte.
Der Hierophant breitete die Arme aus und erhob die Stimme. »Lasst die Vergeltung ihren Lauf nehmen.«
Schatten zuckten an den Rändern von Judes Sicht. Er zwang sich, nicht zu zittern, nicht den leisesten Anflug von Angst zu zeigen, als der Hierophant auf ihn zutrat.
»Jude Weatherbourne. Hüter der Botschaft. Treuester Anhänger der Propheten.«
Quälende Schuldgefühle stiegen in Jude auf. Die Worte des Hierophanten verhöhnten ihn. Er war nicht der treueste Anhänger der Propheten. Er hatte sie im Stich gelassen und nie war sein Versagen offenkundiger gewesen als in diesem Augenblick.
Er versteifte sich, als der Hierophant mit kühlen, schlanken Fingern sein Kinn anhob. Es war eine sanfte Berührung, aber sie brannte auf Judes Haut. Der scharfe Geruch nach Anis und Asche umzingelte ihn.
Der Hierophant winkte einen der Zeugen herbei, der ihm seine brennende Fackel reichte.
»Du wirst der Erste sein, der sich der Vergeltung zu stellen hat.«
Jude konnte die Augen nicht von der blassen Flamme des Gottesfeuers abwenden, die sich ihm näherte. Das gleißend helle Licht verschluckte seinen Blick.
Mit einem Mal durchfuhr ihn ein heftiger Schmerz. Er krümmte sich, seine Sicht verschwamm, seinem Brustkorb entrang sich ein gepeinigter Schrei. Es war derselbe Schmerz, den er empfunden hatte, als er in den in Gottesfeuer geschmiedeten Ketten versuchte, seine Gabe zu benutzen.
Einen Moment lang glaubte er, das Feuer hätte ihn verbrannt. Doch als seine Sicht sich klärte, sah er, dass der Hierophant die Fackel wieder ein Stück von ihm weghielt.
Der Schmerz ließ nach, verschwand aber nicht ganz. Jude konzentrierte sich auf das von der Gottesfeuer-Fackel erleuchtete Gesicht des Hierophanten. Er stand vollkommen reglos da, die blauen Augen hinter der Maske geweitet.
Ohne Vorwarnung schlug der Schmerz von Neuem zu. Er strahlte von Judes Brustkorb aus und fraß sich bis unter seine Haut, als würde er von innen nach außen verbrennen. Als er wieder abebbte, schneller diesmal, spürte er an seiner Stelle einen leisen Pulsschlag, der gleichmäßig an- und abschwoll wie das Funkeln eines blinkenden Sterns.
Der Puls vibrierte durch ihn hindurch, wie er es von seiner Gabe kannte, aber es war etwas anderes. Etwas, was in seiner Brust pochte, so klar und deutlich wie sein eigener Herzschlag, sich von einem zaghaften Zupfen zu einem unmissverständlichen Sog auswuchs, wie ein Koah, das das Esha durch seinen Körper strömen ließ, wie das Erdmagnetfeld, das die Nadel eines Kompasses nach Norden ausrichtete.
Er schloss die Augen, und als ihn ein weiterer warmer Pulsschlag durchlief, begriff er, was es war. Das Echo einer anderen Gabe. Er hatte es schon einmal gespürt, doch damals war er zu jung gewesen, um zu wissen, was es bedeutete. Im Schatten eines Monolithen, unter einem erleuchteten Himmel, hatte Jude gespürt, wie eine Erschütterung durch die Erde gegangen war. Er hatte in seinem Inneren einen Schrei vernommen, eine Stimme, die nach ihrem Hüter rief.
Und nun, sechzehn Jahre später, rief die Gabe des Letzten Propheten erneut nach ihm.