KAPITEL 57
JUDE
Der Hierophant schwenkte die Fackel in Judes Richtung. Jude wich instinktiv vor der lodernden Flamme zurück, ohne daran zu denken, dass seine Handgelenke und Fußknöchel noch immer gefesselt waren.
Er fiel auf die Knie, als die Ketten sich spannten und ihn zu Boden rissen. Er schloss die Augen und atmete aus. Die Intensität des Schmerzes, den die in Gottesfeuer geschmiedeten Ketten ihm zugefügt hatten, ein glühend heißes Brennen, das sich bis in seine Knochen fraß, war ihm noch immer gegenwärtig.
Doch nun hatte sich alles auf ein einziges Ziel reduziert. Schmerz schien keinerlei Bedeutung mehr zu haben. Die Gabe des Letzten Propheten – des wahren Letzten Propheten, nicht des Prinzen von Herat – hatte nach ihm gerufen. Nichts würde ihn davon abhalten, ihr zu antworten.
Jude atmete ein und richtete all seine Sinne auf den Ruf des Propheten. Seine Gabe schwoll in ihm an und mit ihr die Hitze der in Gottesfeuer geschmiedeten Ketten. Er neigte sich dem Schmerz entgegen, seiner glühenden Hitze. Sie leckte an ihm wie eine heranrollende Welle, aber sie verschlang ihn nicht. Er konnte ihr standhalten.
Er verrichtete ein Stärke bündelndes Koah, ließ sich von dem sengenden Schmerz antreiben, der sein Esha noch mächtiger durch ihn hindurchströmen ließ, bevor er mit einer einzigen kraftvollen Bewegung die Ketten von seinen Handgelenken, seinen Fußknöcheln und seiner Kehle sprengte. Der Hierophant, der noch immer mit der Fackel in der Hand vor ihm stand, starrte ihn mit ungläubig aufgerissenem Mund an.
»Ergreift ihn!«, bellte er in Richtung seiner Anhänger, worauf zwei Zeugen sich mit erhobenen Fackeln auf Jude stürzten.
Aber Jude, seiner Fesseln entledigt, war bereit für sie. Mit begnadeter Schnelligkeit duckte er sich unter der Flamme weg und packte die Gottesfeuer-Fackel mit beiden Händen, versetzte dem Zeugen, der sie schwang, einen harten Stoß und wirbelte dann herum. Wenn Jude die Augen schloss und die Hitze der Flamme ausblendete, konnte er so tun, als wäre die Fackel nichts weiter als ein Holzknüppel, den die Paladine im Kastell von Kerameikos bei Übungskämpfen benutzten.
Er hatte mit dem anderen fackeltragenden Zeugen hinter sich gerechnet, auf den sich jedoch zu seiner Verblüffung bereits der Prinz von Herat gestürzt hatte, der ihm die Arme auf den Rücken hebelte.
»Die Garde!«, rief der Prinz.
Jude begriff sofort. Sich blitzschnell um seine eigene Achse drehend, schwang er die Fackel und schlug einen weiteren Zeugen in die Flucht, bevor die Flamme ihr eigentliches Ziel fand – die Kette, mit der die fünf Mitglieder der Paladingarde aneinandergefesselt waren. Er begegnete Penroses Blick, die ihn einen Moment mit großen Augen ansah. Dann nickte sie kaum merklich und sie konzentrierten sich beide auf die Stelle, wo die Flamme das Metall zu schmelzen begann.
»Haltet sie auf!«, schrie der Hierophant.
Alles um sie herum geriet in Bewegung. Jude wusste, ohne hinzusehen, dass die Wächter, die den Prinzen und seine Tante in den Leuchtturm begleitet hatten, sich in das Getümmel gestürzt hatten.
Jude warf die Fackel in seine linke Hand, griff hinter sich und entriss einem angreifenden Wächter das Schwert. Penrose hob die Arme und straffte die Kette, mit der die Paladine gefesselt waren, und Jude hieb die Schwertklinge auf das mittlerweile glühende Metall.
Die Kette zersprang und glitt zu Boden. Yarik, Annuka, Petrossian und Osei gingen augenblicklich in Verteidigungshaltung und wehrten die anrückenden Wächter und Zeugen ab. Jude stürmte durch das Kampfgetümmel an Penroses Seite.
»Penrose«, sagte er atemlos. Es gab so viel, was er ihr sagen musste. Aber in diesem Moment zählte nur eines. »Der Prophet. Der Prophet ist hier.«
Penrose schüttelte langsam den Kopf. »Wir haben uns geirrt, Jude. Der Prinz ist nicht …«
»Nein.« Jude legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Nicht der Prinz. Der wahre Prophet. Ich … habe seine Gabe gespürt. Ich kann sie immer noch spüren.«
Penroses Augen weiteten sich.
»Sie haben ihn in ihrer Gewalt«, sagte Jude. »Irgendwo hier in der Nähe.«
»Bist du sicher?«
»Niemals bin ich mir einer Sache so sicher gewesen.«
Ihr Blick wurde hart wie Stahl. »Dann such ihn. Ganz gleich, was dafür nötig ist. Dies ist unsere heilige Pflicht und jeder von uns ist bereit, sein Leben zu opfern, um sie zu erfüllen. Die Flotte des Ordens liegt im Hafen. Bring ihn an Bord eines unserer Schiffe.«
Jude zögerte, wollte die Garde nicht erneut allein ihrem Schicksal überlassen. Doch die Gabe des Propheten war eine unleugbare Kraft in seinem Inneren, die Penroses Worte wiederholte. Such ihn. Ganz gleich, was dafür nötig ist.
Er wandte sich von ihr ab und sah, wie der Hierophant seine Fackel senkte. Jude reagierte instinktiv und machte einen Satz zurück. Um die anderen Mitglieder des Ordens entzündete sich vor seinen Augen ein weißer Flammenring. Eine Mauer aus Gottesfeuer, die sie von Jude trennte.
Mit einem letzten Blick auf Penroses strahlendes Gesicht und ihre resolute Miene drehte er sich um und nahm den Hierophanten ins Visier.
Er war in diesem Moment völlig ungeschützt. Die Zeugen um ihn herum waren von dem unerwarteten Chaos abgelenkt. Der Hierophant hielt Judes Blick fest, als wüsste er genau, welche Gedanken durch seinen Kopf rasten. Wie einfach es wäre, den Hierophanten in die Flammen zu stoßen und ihn mit seiner eigenen Waffe zu schlagen.
Aber der Ruf des Propheten schallte lauter denn je durch Jude und verlangte eine Antwort. Jude kehrte dem Hierophanten den Rücken zu und kämpfte sich durch die immer zahlreicher werdenden Zeugen und Wächter hindurch, bis er es an den Fuß des Leuchtturms geschafft hatte.
Von Rufen und Schritten verfolgt, stürmte er in die Nacht hinaus. Mit mahlendem Kiefer den brennenden Schmerz in seinen Beinen ausblendend, rannte er über den Viadukt, der den Leuchtturm mit dem Festland verband. Über ihm erstreckte sich ein sternenfunkelnder Himmel. Der Ruf der Gabe des Propheten hallte immer deutlicher in ihm wider, wurde mit jedem Schritt lauter und zog ihn an wie ein Magnetstein.
Sein ganzes Leben hatte Jude sich von seinem Glauben leiten lassen. Sein Glaube an den Propheten, an den Orden war unerschütterlich gewesen. Im Gegensatz zu seinem Glauben an sich selbst. Er hatte so viel Zeit damit verbracht, gegen seine Zweifel anzukämpfen, sie zum Verstummen zu bringen, seine Angst zu verbergen.
Aber nun begriff er, dass sie genauso zu ihm gehörten wie seine Gabe. Er würde sich nie ganz davon befreien können. Aber er würde seine Pflicht nichtsdestoweniger erfüllen. Auch wenn er ihr nicht gerecht wurde. Auch wenn seine Hingabe schwankte.
Die Gabe des Propheten rief nach ihm, und Jude würde ihr antworten.
Als er ungeachtet des glitschigen Felsgesteins schnellen und sicheren Schrittes die Klippen unterhalb des Palasts von Herat entlanglief, wurde ihr Pulsschlag sogar noch kräftiger.
In einer dunklen Felsnische entdeckte er den Eingang zu einer Höhle. Als er sich ihr näherte, nahm die Gabe des Propheten an Intensität weiter zu, wies ihm den Weg wie eine Hand, die ihn herbeiwinkte. Er folgte ihr, verließ sich ganz auf seine Instinkte und den blinden Glauben daran, dass dieser seltsame Sog ihn zu dem Ort führen würde, zu dem er musste.
Mondlicht ergoss sich über zerklüftete Steinwände, als er in die Höhle trat. In ihrem Inneren war es dunkel, aber dank seiner Gabe konnte Jude unter einem Felsvorsprung eine Treppe ausmachen, die in schwarze Tiefe führte. Der Puls der Gabe des Propheten pochte in seinen Ohren, doch nun gesellte sich noch ein anderer Puls hinzu, der in perfektem Gleichklang schlug. Jude hielt es zunächst für ein durch die Höhle hallendes Echo des Pulsschlags, bis er schließlich verstand.
Er konnte den Herzschlag des Propheten hören. Der Prophet befand sich dort unten.
Er war noch immer in Besitz des Schwertes, das er dem Wächter abgenommen hatte. Seine geschwungene Klinge und eigentümliche Auswuchtung waren Jude nicht vertraut, aber die Höchste Klinge hatte man ihm abgenommen und das hier war besser, als unbewaffnet zu sein. Er griff das Schwert noch fester und begann den Abstieg. Es war kalt und feucht in dem engen Treppenaufgang, aber seine Gabe wärmte ihn.
Unten angekommen, fand er sich in einem engen Tunnel wieder, von dem es noch weiter hinabging. Er wollte nicht darüber nachdenken, warum der Prophet sich an einem Ort befand, der so tief unter der Erde lag, konzentrierte sich bei seinem Abstieg ganz auf den Klang seines eigenen Atems und den Herzschlag des Propheten.
Einen Moment später kamen neue Geräusche hinzu – das Echo spritzenden Wassers, gefolgt von einer angespannten, ungeduldigen Stimme.
»Macht weiter, bis ich sage, ihr sollt aufhören.«
Es war die Stimme von Illya Aliyev. Jude beschleunigte seine Schritte, rannte um eine Biegung und kam schlitternd zum Stehen, als der Tunnel abrupt endete und in eine gewaltige Kaverne mit einer hohen Gewölbedecke mündete. Ungefähr zwanzig Fuß unter ihm befand sich eine glänzende schwarze Glasfläche, wie ein Nachthimmel ohne Sterne.
Nein, wurde ihm klar, kein Glas. Wasser. Ein unterirdischer See. Über seine Oberfläche verliefen breite, von Säulen gestützte marmorne Stege, manche in großer Höhe, andere nur wenige Handbreit über dem Wasser.
Und auf einem dieser Stege sah Jude acht Wächter um eine Gestalt stehen, die gekrümmt auf der Seite lag.
Der Prophet. Seine Gabe steigerte sich zu einem Crescendo. Sich ganz ihrer gewaltigen Kraft überlassend, verrichtete Jude eine Reihe vertrauter Koahs für Schnelligkeit, Stärke und Gleichgewicht.
Er sprang vom Absatz der Tunnelmündung auf den darunterliegenden Steg. Aufgeschreckt von dem Aufprallgeräusch, das seine Landung verursachte, drehten die Wächter sich um.
»Da ist jemand!«
»Kümmert euch um ihn«, hallte Illyas kalte Stimme durch das Gewölbe.
Jude sprang mit einem Salto über drei auf ihn zustürzende Wächter hinweg und kam direkt hinter ihnen wieder auf dem Boden auf.
»He, was …? Wo ist er …?« Ein Wächter wirbelte herum und schwang sein Schwert auf Judes Brust zu. Jude tänzelte zurück. Der Wächter holte erneut aus und Jude blockierte die Klinge des Mannes mit seiner eigenen. Der Klang von Stahl auf Stahl hallte von Marmor und Wasser.
Von der anderen Seite stürzte sich eine Wächterin auf Jude. Mit einer blitzschnellen Drehung seines Handgelenks zog Jude sein Schwert zurück und schickte den ersten Wächter über den hohen Steg in die Tiefe, drehte sich um und verpasste der Wächterin einen Hieb gegen den Arm. Sie stolperte keuchend rückwärts, Jude ging in die Hocke, holte sie mit einem Fußfeger von den Beinen, und sie stürzte wie ein gefällter Baum ins Wasser.
Während die restlichen fünf Wächter zu ihnen aufschlossen, wich der dritte Wächter verunsichert zurück. »Er ist zu schnell!«
Die anderen hielten mit gezogenen Schwertern und bangem Blick inne. »Du bist der Paladin, den wir in Pallas Athos gefangen genommen haben«, sagte einer von ihnen.
»Ich bin Jude Weatherbourne von Kerameikos, Marschall der Paladingarde, Hüter der Botschaft. Und ihr«, knurrte er, »steht mir im Weg.«
Mit einem Schwert in seiner Hand, dem Esha , das durch ihn hindurchströmte, und dem so nahen und rasend schnell trommelnden Pulsschlag des Propheten konnte es in diesem Kampf niemand mit Jude aufnehmen. Im Handumdrehen entledigte er sich der Wächter, und als sein Weg frei war, stürmte er den von Fackeln beleuchteten Steg entlang, glitt sicheren Schrittes über den rutschigen Marmorstein hinweg. Seine Sicht war auf einen einzigen Punkt fokussiert – die schmale Gestalt, die mit dem Rücken zu ihm zusammengekrümmt am Rand des Stegs lag und deren Puls in Judes Ohren dröhnte.
Der Prophet.
Bei ihm angekommen, kniete Jude sich hin, drehte ihn behutsam um und legte dem Propheten eine Hand an die Wange.
Sein Atem stockte. Er kannte dieses Gesicht.
Er hatte einmal gesehen, wie diese Lippen sich über den dämmrigen, von Rauch erfüllten Innenhof einer Schenke hinweg zu einem herausfordernden Grinsen verzogen hatten. War einmal in einem zerfallenen Mausoleum zu sich gekommen und hatte diese Stirn wie einen blassen Mond über sich aufragen sehen.
Der Prophet war Anton.
Anton war der Prophet.
Die Gewissheit traf ihn wie die scharfe Schneide einer Klinge. Dann stieß der Junge, der sowohl Anton als auch der Prophet war, die Luft aus und öffnete die Augen.
Als Judes Welt in sich zusammengestürzt war, war sein Blick einmal von den warmen, dunklen Augen eines seltsamen Jungen angezogen worden, der am Rand eines Orakelbeckens gekauert hatte.
Nun trafen sich ihre Blicke erneut.
Und Judes wahrer Norden war gefunden.