KAPITEL
58
HASSAN
Weiße Flammen zuckten gleißend hell über die Mauern des Leuchtturms, als der Ring aus Gottesfeuer lodernd zum Leben erwachte. Das kurze Handgemenge in der Mitte des Atriums war in dem Moment zum Erliegen gekommen, in dem der Feuerring Hassan und die Paladingarde eingeschlossen und all ihre Hoffnungen auf eine Flucht zunichtegemacht hatte.
Von den Flammen stieg ein übel riechender schwarzer Qualm auf. Hassans Lungen protestierten, und er presste, von einem heftigen Husten geschüttelt, die Nase in den Stoff seines Ärmels. Als er den Blick hob, sah er, wie seine Tante, die außerhalb des Flammenrings stand, sich ein Tuch um die untere Gesichtshälfte schlang.
»Euer Hüter hat die Flucht ergriffen«, sagte der Hierophant. »Er hat seine wahre Natur gezeigt – die eines Feiglings, der sich der Wahrheit, die ich ihm zum Angebot gemacht habe, verweigert. Doch der Vergeltung wird er nicht entgehen – niemand von euch wird das. Heute werdet ihr eurem Schicksal entgegentreten.«
Der Schein der Flammen spiegelte sich in den schartigen Zacken seiner Maske, als er sich den Zeugen zuwandte. »Entzündet den Rest.«
Voller Entsetzen beobachtete Hassan, wie zwei Zeugen durch das Atrium auf die Galerie hinausschritten, die sich in Stufen den Turm hinaufwand. Sie senkten ihre Fackeln zu Boden, wo eine Spur desselben schwarzen Pulvers begann, das in einer Linie entlang der Galerie verstreut worden war. Es entzündete sich und das Feuer fraß sich der Pulverspur folgend in rasender Geschwindigkeit seinen Weg den Turm hinauf. Schreie wurden laut, als hinter den dicht an dicht nebeneinanderstehenden Herati-Soldaten Flammen hochschlugen und sie an die Brüstung der Galerie drängten.
»Der Rauch, den ihr einatmet, enthält die giftigen Dämpfe schwarzen Gesteins«, fuhr der Hierophant fort. »Diese Dämpfe werden sich langsam, aber stetig im gesamten Leuchtturm ausbreiten und ihr alle werdet nach und nach seinem Gift erliegen.«
Hassan, der das Gefühl hatte, seine Lungen würden jeden Moment bersten, vergrub die Nase noch fester im Ärmel.
»Allerdings ist keiner von euch gezwungen, hier den Tod zu finden«, sagte der Hierophant. »Es gibt noch einen anderen Weg. Um euch zu befreien, müsst ihr nichts weiter tun, als die Flammen des Gottesfeuers zu durchschreiten. Reinigt euch von den Sünden der Propheten, dann werdet ihr in unserer neuen Stadt willkommen geheißen werden. Läutert eure Körper von der Verderbtheit der Gabe und ihr werdet leben. Dies sind eure Wahlmöglichkeiten – Erlösung oder Tod.«
Der Hierophant steuerte auf die Treppe zu, die nach unten führte, und warf den Zeugen im Vorbeigehen einen Blick zu. Mehr Aufforderung brauchten sie nicht, um ihm mit ihren brennenden Fackeln aus dem Leuchtturm hinauszufolgen.
Hassan sah zu seiner Tante, die stehen geblieben war und in die lodernden Flammen blickte.
»Tante Lethia.« Hassan gelang es nicht, sich seine Angst und Verzweiflung nicht anhören zu lassen. »Lethia, bitte! Tu das nicht.«
Sie erwiderte seinen Blick über den Rand ihres seidenen Tuchs hinweg. Es bestand nicht der leiseste Zweifel daran, auf wessen Seite sie stand, und während er beobachtete, wie die Schatten über ihr Gesicht zuckten, begriff er, dass sie bereit war, alle in diesem Leuchtturm entweder den Flammen oder den giftigen Dämpfen zu überlassen.
Langsam wandte sie sich ab und folgte den Zeugen nach draußen. Einen Moment später hallte das Geräusch der sich schließenden Türen durch den Turm.
Sie waren in seinen Mauern gefangen.
Der Rauch wurde dichter. Hassan und die Garde standen Rücken an Rücken zu einem engen Kreis zusammengedrängt, den Blick auf das Gottesfeuer geheftet, das sie umzingelte.
Hassan wurde erneut von einem heftigen Hustenanfall gepackt, als seine Lungen darum kämpften, den übel riechenden Qualm auszustoßen.
»Ihr müsst Eure Nase und Euren Mund bedecken«, riet ihm Penrose zu seiner Linken, deren Stimme von ihrem Umhang gedämpft wurde.
Hassan warf seinen Überrock aus dickem Brokatstoff ab, riss mit den Zähnen einen Stoffstreifen aus seinem weichen Leibhemd und band ihn sich ums Gesicht. Sobald der Rauch sich erst einmal im ganzen Turm ausgebreitet hatte, würde auch das keinen großen Unterschied mehr machen, aber vorläufig verschaffte es ihm zumindest ein wenig Erleichterung. Schnell griff er seinen Kompass und die Phiole von Emirs Bestattung aus der Brusttasche und steckte sie in seine Schärpe.
»Prinz Hassan«, sagte Penrose. »Ihr könnt durch das Gottesfeuer hindurchschreiten. Ihr könnt Euch retten.«
Sie hatte recht, natürlich. Er konnte durch die Flammen hindurchgehen und würde nicht mehr als ein paar leichte Verbrennungen davontragen. Er konnte aus dem Leuchtturm entkommen, bevor der Rauch ihn töten würde. Aber er war der Einzige.
»Ich werde euch nicht einfach hier zurücklassen«, erwiderte Hassan. »Ich … ich bin der Grund dafür, dass ihr alle hier seid. Ich habe euch belogen
. Wäre ich nicht gewesen …«
»Ja, es ist Eure Schuld«, unterbrach Penrose ihn schroff. »Und wenn ihr um Eurer Schuld willen Euer Leben opfern wollt, dann ist das Eure Entscheidung. Aber wir beide wissen, dass nur ein Feigling so handeln würde. Und trotz allem, was Ihr getan habt, glaube ich nicht, dass Ihr ein Feigling seid. Wenn Ihr Eure Lüge aufrichtig bereut, werdet ihr einen Weg finden, Eure Schuld wiedergutzumachen.«
Auch damit hatte sie recht. Wenn Hassan hier in diesem Leuchtturm starb, würde es niemanden mehr geben, der die Zeugen davon abhalten konnte, ganz Nasira niederzubrennen. Aber die Vorstellung, all die Menschen hier dem Tod oder Schlimmerem zu überlassen, war ihm unerträglich. Er blickte durch den stetig dichter werdenden Rauch zu den Reihen der Herati-Soldaten, die von den auf der Galerie lodernden Flammen eingeschlossen waren.
Dass Hassan die Möglichkeit hatte, sich zu retten, lag einzig und allein daran, dass er unbegnadet war. All die anderen hier waren – aufgrund ihrer machtvollen Gabe, die er sich sein Leben lang für sich selbst gewünscht hatte – dem Verderben ausgeliefert. Der Gabe, von der er immer geglaubt hatte, er würde sie brauchen, um sein Volk anzuführen.
Doch vielleicht hatte er sie in Wirklichkeit nie gebraucht. Vielleicht war es nicht der Umstand, ob er begnadet war oder nicht, der festlegte, wer er war oder welche Art von Anführer er sein konnte. Vielleicht waren die Entscheidungen, die er traf, das Einzige, was von Bedeutung war.
Erlösung oder Tod.
Dies waren die beiden Möglichkeiten, die ihnen der Hierophant zur Wahl gestellt hatte. Sich ihre Gabe herausbrennen zu lassen oder zu sterben.
Aber Hassan stand noch eine andere Möglichkeit zur Wahl.
Er schloss einen Moment die Augen. Dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen und ging ein paar Schritte rückwärts, bis er sich am Rand des brennenden Rings befand, um Anlauf zu nehmen.
Er war der Einzige, der hierzu in der Lage war. Der Einzige, der durch das Gottesfeuer hindurchgehen konnte.
Er öffnete die Augen, rannte los und sprang. Auf der anderen Seite des Feuerrings angekommen, rollte er sich auf dem Boden herum, um die Flammen zu ersticken, die sich durch seine Kleidung bis zu seiner Haut fraßen.
Von ein paar Brandwunden gezeichnet, aber ansonsten unversehrt, rappelte er sich schließlich auf und wandte sich zur Garde um.
»Ich lasse euch nicht im Stich«, rief er ihnen durch das lodernde Feuer zu. »Ich hol euch hier raus. Euch alle.«
Er wusste noch nicht, wie er das anstellen sollte, hatte allenfalls eine vage Idee. Aber das würde erst einmal genügen müssen. Sein Blick fiel auf eine lange, in sich verknäulte Kette, die am äußeren Rand des Flammenrings auf dem Boden lag – die in Gottesfeuer geschmiedete eiserne Fessel, die Marschall Weatherbourne durchtrennt hatte, um seine Garde zu befreien. Hassan hob die Kette auf, legte sie sich um die Schultern und stürmte den Treppenaufgang hinauf. Als er seiner Einschätzung nach hoch genug war, schlang er das eine Ende der Kette um das Geländer. Da er nichts hatte, um sie zu befestigen, musste er selbst das Gewicht sein, das sie hielt.
»Penrose!«, rief er und hielt das andere Ende der Kette in die Höhe, als sie zu ihm aufblickte. Sie begriff sofort. Mit einem Nicken wandte sie sich Osei zu, der neben ihr stand. Nachdem sie sich kurz beraten hatten, trat Penrose an den Rand des Rings und stellte sich mit dem Rücken zu den Flammen, während Osei sich in der Mitte auf den Boden kniete und die Finger mit nach oben zeigenden Handflächen ineinander verschränkte.
»Bereit?«, rief Hassan.
»Bereit!«
Er warf die Kette in einem hohen Bogen in ihre Richtung. Penrose rannte los, setzte einen Fuß in Oseis Hände, ließ sich von ihm in die Luft katapultieren und bekam das Ende der Kette genau in dem Moment zu fassen, als sie ausschlug und im Begriff war, wieder zu Hassan zurückzuschwingen.
Hassan stemmte sich nach hinten. Einige heikle Sekunden lang schaukelte Penrose unkontrolliert an der Kette vor und zurück. Als sie sich einpendelte, nutzte Penrose den Rückschwung, um über die unter ihr lodernden Flammen hinwegzusetzen und nach dem Geländer zu greifen, das ein paar Stufen unter Hassan entlanglief.
»Alles in Ordnung?«, rief er zu ihr hinunter.
»Macht weiter!«
Hassan holte die Kette wieder ein und sammelte kurz Kraft, bevor er sie dem nächsten Paladin zuwarf. Kurz darauf hatte sich auch Petrossian mit derselben sicheren Behändigkeit wie Penrose aus dem Flammenring gerettet.
Doch die Dämpfe, die der schwarze Qualm absonderte, begannen Hassan immer heftiger zuzusetzen. Er wurde von einem weiteren Hustenanfall geschüttelt und musste sich einen Moment benommen am Geländer abstützen. Ihnen lief die Zeit davon.
Als er sich wieder erholt hatte, stand Penrose neben ihm. »Wenn es uns gelingt, alle rechtzeitig aus dem Leuchtturm herauszuholen, schaffen wir es vielleicht auch zu den Schiffen des Ordens. Aber wir müssen uns beeilen.«
Hassan legte den Kopf in den Nacken, um zu den höher gelegenen Ebenen des Leuchtturms aufzublicken, wo der Rauch allmählich immer dichter wurde. Hier unten fiel das Atmen noch nicht ganz so schwer, aber dort oben waren bereits die ersten seiner Landsleute zu Boden gesackt.
»Befreit den Rest der Garde«, sagte er und drückte Penrose die Kette in die Hand. Sie zuckte unter der Berührung des Metalls zusammen.
»Was habt Ihr vor?«
»Dafür sorgen, dass alle lebend hier rauskommen.«
Er hatte sich von einer vermeintlichen Vision über einen ruhmreichen Sieg fehlleiten lassen und damit all die Menschen hier diesem schrecklichen Schicksal zugeführt. Er mochte vielleicht als Prophet nichts getaugt haben, aber dafür besaß er eine andere Fähigkeit: aus seinen Fehlern zu lernen.
Und er würde alle aus diesem Flammeninferno herausholen – komme, was wolle.