KAPITEL
61
EPHYRA
Ephyra war dreizehn Jahre alt, als sie ihre Schwester aus dem Reich der Toten zurückholte.
Es war ein schreckliches Jahr gewesen, geprägt von Dürre und Hungersnot. Der Strom der Karawanen, der sonst auf der Handelsroute zwischen Tel Amot und Behesda durch ihr Dorf gezogen war, war versiegt wie Regen, der auf ausgedörrte, rissige Erde fällt.
Krankheiten breiteten sich aus. Eine davon raffte Ephyras und Berus Eltern allzu schnell dahin.
Als Beru ebenfalls krank wurde, kümmerte sich Ephyra nicht länger um die Mahnung ihrer Eltern, ihre Gabe nicht zu benutzen. Sie waren tot, und sie würde nicht zulassen, dass sie Beru auch noch verlor. Und so heilte sie sie.
Aber kurze Zeit später wurde Beru wieder krank. Und wieder. Und wieder.
Bis schließlich der Morgen kam, an dem Ephyra in die Kammer ihrer Schwester trat und sie kalt und leblos auf ihrer Schlafstatt fand. Kein Schmerz war je größer gewesen als der, von dem Ephyra an diesem Morgen überwältigt wurde. Er brach aus ihren Lungen und ihrer Kehle hervor und erschütterte sie bis in ihr tiefstes Inneres.
Aufgeschreckt von ihrem Wehklagen eilten ihre Nachbarn herbei und entdeckten Berus Leichnam. Ephyra, die wusste, sie würden darauf beharren, ihn genau wie all die anderen zu verbrennen, trat und schlug verzweifelt um sich, als sie sie von ihr wegzerrten. In dem Moment, in dem sie die kalten Finger ihrer Schwester nicht mehr in ihrer Hand spürte, verlor sie die Besinnung.
Sie würde nie erfahren, was in der Zeit, in der sie ohne Bewusstsein war, geschehen war. Vielleicht war es besser so. Als sie wieder zu sich kam, lag sie neben dem Leichnam ihrer Schwester. Nein … neben ihrer Schwester. Denn Beru atmete wieder. Ihr Brustkorb hob und senkte sich stoßweise, ihre Augäpfel zuckten unruhig hinter den Lidern hin und her. Und als sie die Augen schließlich öffnete, wurde Ephyra bewusst, dass es um sie herum vollkommen still geworden war. Das einzige Geräusch waren die Atemzüge ihrer Schwester.
Und dann die Worte, die sie in ihrem zweiten Leben als Erstes sagte: »Was hast du getan?«
Sie sprachen nie wieder von diesem Tag. Sprachen nie davon, wie sie langsam von ihrem Zuhause durch das stille Dorf liefen, zwischen den Leichnamen ihrer Freunde und Nachbarn hindurch, die starr wie Puppen mit verrenkten Gliedern dalagen. Sprachen nie von den erloschenen Augen und der erstickenden Stille.
Seitdem hatte Ephyra keinen Fuß mehr in dieses Dorf gesetzt. Nun war sie zurückgekehrt und hoffte, ihre Schwester von Neuem retten zu können.
Sie fürchtete nur, sie kam zu spät.
Die Augen vor der aufgehenden Sonne abschirmend, stand sie am Fuß des Glockenturms in der Mitte des Dorfplatzes, ein dickes Tuch um die untere Hälfte ihres Gesichts geschlungen, um sich vor den Sandstürmen zu schützen.
Jemand war hier gewesen. Davon zeugten der aufgelockerte Staub in der festgestampften Erde und die tiefe, frisch geschlagene Kerbe im Stamm des Maulbeerfeigenbaums am Rand des Dorfplatzes.
Ja, jemand war hier gewesen. Ephyra berührte die raue Rinde des Maulbeerfeigenbaums. Es war kein Blut zu sehen, nichts, was darauf hindeutete, dass hier Gewalt angewendet worden war. Sie weigerte sich, die Möglichkeit auch nur zu erwägen. Stattdessen schlug sie den Pfad ein, der vom Dorfplatz über den gewundenen Schotterweg führte, der ihr noch immer vertraut war. Der Weg, der nach Hause führte.
Die kleine Lehmhütte sah noch genauso aus, wie sie sie in Erinnerung hatte, bis hin zu dem Riss, der oberhalb des Fensters begann und bis zu dem flachen Dach hinauf verlief. Sie glaubte beinahe, ihren Vater zeichnend zwischen seinen Büchern in der Stube vorzufinden, wenn sie den gepflasterten kleinen Pfad entlanggehen und durch die bogenförmige Tür treten würde. Zu hören, wie ihre Mutter Beru wegen ihrer zerschrammten Knie und dreckigen Fingernägel ausschimpfte, wenn sie in die Küche laufen würde.
Doch sobald Ephyra ihren Fuß über die Schwelle setzte, begann die Erinnerung zu flackern und sich wie eine geisterhafte Erscheinung aufzulösen.
»Beru?«, rief sie in die dunkle, staubige Hütte hinein. »Beru, bist du hier?«
Das Knirschen von Schritten durchbrach die Stille. Ephyra lief von der Stube in die Küche. Die Tür, die in den Garten führte, schwang auf.
»Beru!«
Aber es war nicht ihre Schwester, die im Türrahmen stand. Es war Hector Navarro.
Er sah sie wie versteinert an.
»Was hast du meiner Schwester angetan?«
Hector erwachte aus seiner Starre und sein Gesicht wurde dunkel vor Zorn. »Nichts habe ich ihr angetan.«
»Wo ist sie?«
»Dort, wo sie hingehört. Wo du sie vor all den Jahren hättest lassen sollen, bevor du …«
Ephyra konnte nicht länger zuhören. Sie stürzte an ihm vorbei in den Garten, das Herz in ihrer Brust pochend wie das eines verängstigten Tiers. »Beru!«
Beru lag zusammengekrümmt unter der alten Akazie, die schwachen Glieder eng am Körper gefaltet wie geknickte Strohhalme.
Ephyra stockte der Atem. Ihrer Kehle entrang sich ein roher, verwundeter Laut. Sie hatte das Meer überquert, um an die Seite ihrer Schwester zurückzukehren, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden, diese letzten Schritte durch den kleinen Garten zu bewältigen.
»Das ist nicht mein Werk«, hörte sie Hectors Stimme hinter sich. »Du hättest sie nie zurückholen dürfen. Du hättest nie die Linien zwischen Leben und Tod verwischen dürfen. Du hast diesen Moment mehr als fünf Jahre hinausgezögert. Du hast unzählige Leben ausgelöscht. Nun wird endlich die natürliche Ordnung wiederhergestellt.«
Die Worte schlugen wie Wellen über ihr zusammen, doch Ephyra konnte sie über ihren dröhnenden Herzschlag hinweg kaum hören.
Beru durfte nicht tot sein. Nicht, bevor sie es geschafft hatte, bei ihr zu sein.
Ihre Beine trugen sie durch den Garten an Berus Seite. Sie sank auf die Knie, nahm die Hand ihrer Schwester und presste sie an ihre Wange. Ihre Schultern bebten unter ihren stummen, verzweifelten Tränen.
Berus Finger zuckten und schlossen sich um Ephyras Daumen.
Ephyra keuchte auf und legte den Daumen oberhalb des schwarzen Handabdrucks auf Berus Handgelenk. Ihr Puls schlug einen schwachen, unregelmäßigen Takt.
Sie lebte. Es war noch nicht zu spät.
»Ich bin hier«, sagte Ephyra mit erstickter Stimme und strich Beru eine Locke aus ihrem friedlich wirkenden Gesicht. »Ich bin hier, Beru. Ich bin hier.«
»Du solltest dich verabschieden. Es ist zu Ende.«
Ephyra zuckte zusammen beim Klang von Hectors leiser Stimme, die direkt hinter ihr ertönte.
Warum bin ich verschont geblieben?
, hatte Hector sie in der Zitadelle von Pallas Athos gefragt. Ephyra hatte seine ganze Familie ausgelöscht, aber ihn am Leben gelassen.
Und nun brauchte Beru ein anderes Leben.
Ephyra festigte den Griff um das Handgelenk ihrer Schwester. Hector war nicht wie all die anderen, die sie als Blasse Hand getötet hatte. Sein Tod würde kein Zufall sein. Es würde kein Weg von dort zurückführen.
Aber ohne Beru führte kein Weg nach vorn.
Sie richtete sich auf und sah Hector an. »Es ist nicht zu Ende. Nicht für Beru.«
Alles in ihrer beider Leben war auf diesen Moment zugelaufen.
»Entweder du oder sie. Ich entscheide mich für sie.«
Entsetzen blitzte in Hectors Augen auf, als sie sich auf ihn stürzte. Er griff nach dem Heft seines Schwerts, zog es schneller aus der Scheide, als Ephyra reagieren konnte. Es zischte an ihr vorbei, und sie stolperte zurück und presste sich eine Hand auf die Stelle, wo die Klinge ihre Wange gestreift hatte. Warmes Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor.
Hector blickte bestürzt von ihr zu seinem Schwert. »Ich …«
Ephyra warf sich erneut auf ihn, doch diesmal war Hector vorbereitet. Mit begnadeter Schnelligkeit und Stärke rang er sie zu Boden und hielt ihr die Schwertklinge an die Kehle.
»Es ist zu Ende«, wiederholte er.
Sie stieß keuchend die Luft aus.
Er ließ das Schwert sinken. »Gib auf.«
Die Welt stand für einen Moment still, als sie ein stummes Blickduell ausfochten. Zwei Menschen, die alles verloren hatten. Jeder von ihnen unfähig loszulassen.
All ihre Kraft zusammennehmend, bäumte Ephyra sich unter ihm auf, bekam seinen Arm zu fassen und schloss die Hand darum. Hector sah ihr unverwandt in die Augen, als sie tief durchatmete und ihre Aufmerksamkeit darauf richtete, das Esha
aus seinem Körper zu ziehen.
Der Griff seiner Hand, mit der er immer noch ihre Schulter umklammerte, wurde schwächer. Zuerst schien er nicht zu begreifen, was mit ihm geschah. Als er jedoch von ihrem Gesicht zu ihrer Hand um seinen Arm schaute, begannen seine Augen sich entsetzt zu weiten. Ihre andere Hand schnellte empor, ihr Daumen legte sich auf seine Halsgrube. Er keuchte auf, sein Brustkorb hob und senkte sich verzweifelt, jeder Atemzug kürzer und flacher als der vorherige. Sein Puls, der gerade noch wild geschlagen hatte, wurde langsamer. Das Licht in seinen Augen erlosch, er atmete ein letztes Mal aus und alle Spannung wich aus seinem Körper. Der Puls unter ihrer Hand blieb stehen.
Er sackte vornüber und fiel schwer auf sie. Mit einem vor Anstrengung kehligen Laut wälzte sie ihn von sich herunter und blieb einen Moment schwer atmend neben ihm liegen. Heiße Tränen brannten auf ihren Wangen. Sie zitterte.
Schließlich raffte sie sich vom Boden auf und zwang sich, auf Hectors Leiche und den hellen Handabdruck hinunterzuschauen, der seine Haut zeichnete.
Trauer und Schuld schnürten ihre Kehle zu, aber sie schluckte sie hinunter. Beru brauchte sie.
Alles andere ging schnell. Ephyra hatte dieses Ritual schon so viele Male vollzogen, dass ihr Körper von ganz allein zu wissen schien, was er zu tun hatte. Die Klinge, das Blut, ihre Hand.
Und ihre Schwester, die sterbend unter der Akazie lag.
Ephyra kniete sich neben Beru und strich ihr mit ihrer sauberen Hand die Haare aus der Stirn. Die andere, von der frisches Blut tropfte, legte sie um den dunklen Abdruck auf Berus Handgelenk. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, das Esha
, das sie Hector entzogen hatte, durch sein Blut in Beru zu lenken. Sie wieder mit Leben zu füllen.
Bitte … bitte. Es darf nicht zu spät sein. Bitte.
Ein leises Keuchen durchdrang die Stille. Ephyra öffnete die Augen und begegnete Berus Blick.
»Ephyra?«, murmelte sie. »Ephyra, du bist verletzt.«
Sie strich mit den Fingern über das Blut auf Ephyras Wange.
»Mir geht es gut.« Auf Ephyras Gesicht breitete sich unwillkürlich ein Lächeln aus – ein Lächeln, das Erleichterung und Erschöpfung widerspiegelte. »Mir geht es gut, Beru. Und dir auch.«
Beru zog verwirrt die Brauen zusammen. »Ich bin …« Ihr Blick fiel auf Ephyras blutige Hand, die noch immer Berus Handgelenk umklammerte. Beru setzte sich ruckartig auf. Ephyra sah den Ausdruck in den Augen ihrer Schwester, als sie den Leichnam entdeckte, der ein paar Schritte weiter im Dreck lag. Er schwankte zwischen Bestürzung und Wut.
»Ephyra«, sagte Beru schaudernd. »Was hast du getan?«