KAPITEL 63
HASSAN
Es war ein sehr simpler Plan.
Im Schutz der Dunkelheit hielten sie, in Sechsergruppen aufgeteilt, bei jedem Tempel entlang der Ozmandith-Allee an, um Salböl und alles, was sie an Stoffen und Tüchern finden konnten, zusammenzutragen.
Die Straßen von Nasira waren wie ausgestorben. Der Großteil der Zeugen schien sich in Erwartung der Schiffe des Ordens um den Hafen versammelt zu haben, doch der Rest patrouillierte in kleinen Zweier- und Dreiertrupps durch die Straßen der Stadt. Als Hassans und Khepris Gruppe gerade den dritten Tempel verlassen hatte, wurden sie von einer dieser Patrouillen entdeckt. Hassan war mit bis zum Hals klopfendem Herzen zurückgeblieben, während Khepri den beiden Zeugen nachjagte. Wenn Lethia und der Hierophant erfuhren, dass sie aus dem Leuchtturm entkommen waren, würden sie das Überraschungsmoment verlieren, das sie auf ihrer Seite hatten.
Khepri war unversehrt zurückgekehrt.
»Was ist mit den Zeugen?«, hatte Hassan gefragt.
»Wir haben gekämpft, einer ist ins Meer gestürzt. Der andere wird mit einem gebrochenen Bein nicht sonderlich weit kommen«, hatte sie geantwortet.
»Wir wissen nicht, ob uns sonst noch jemand gesehen hat«, hatte Hassan gesagt. »Besser, wir beeilen uns.«
Als sie zum Leuchtturm zurückkehrten, hatten die anderen bereits damit begonnen, die Stoffe und Tücher mit Salböl zu tränken und in Holzkisten zu packen.
»Glaubst du, das wird reichen?«, fragte Hassan Khepri.
Sie lehnten am Hafendamm, der senkrecht von der Halbinsel abging, auf der der Leuchtturm stand.
»Es muss reichen.« Khepri beobachtete, wie die anderen Soldaten die Kisten an der dem Meer zugewandten Seite des Leuchtturms stapelten. Sie hofften, dass die Sprengkraft ausreichen würde, um den Turm zum Einstürzen zu bringen.
»Es ist so weit«, sagte Hassan, als die Soldaten ihre Arbeit beendet hatten und begannen, sich über die Halbinsel zurückzuziehen. Er richtete sich auf und schwang sich ein langes, aufgerolltes Seil über die Schulter.
Ihm fiel der gefährlichste Teil ihrer Mission zu. Er war der Einzige, der dicht genug an die Flamme des Gottesfeuers herankommen konnte, ohne mehr als ein paar Brandwunden zu riskieren. Er war derjenige, der die Zündschnur legen und in Brand stecken würde.
»Warte.« Khepri richtete sich ebenfalls auf. Einen Moment lang fürchtete Hassan, sie würde darauf bestehen, mit ihm zu kommen, obwohl sie beide wussten, dass es für sie viel zu gefährlich wäre.
Stattdessen schlang Khepri die Arme um ihn und presste die Lippen auf seine. Es war ein kurzer, aber leidenschaftlicher Kuss, der ihn taumelnd zurückließ.
»Ich glaube an dich.« Sie drückte ihm eine kleine Glasflasche in die Hand und schob ihn sanft vom Hafendamm fort.
Er rückte das Seil auf seiner Schulter höher, während er auf den Leuchtturm zusteuerte. Auf seinem Weg kamen ihm einige Herati-Soldaten entgegen, die stehen blieben, als sie ihn sahen, und ihre zur Faust geballte Hand auf die Brust legten – dem königlichen Salut der Herati-Legionäre. Prophet oder kein Prophet, Betrüger oder kein Betrüger, Hassan war noch immer ihr Prinz.
Er erwiderte den Gruß mit einem Respekt zollenden Nicken, und sie setzten ihren Weg zum Hafendamm fort, wo Khepri auf sie wartete.
Hassan legte die restliche Strecke zum Leuchtturm zurück. Als er die Kisten mit dem Salböl erreicht hatte, wickelte er das Seil auf und schlang eines der Enden zwischen ihnen hindurch. Anschließend öffnete er den Verschluss der Glasflasche, die Khepri ihm gegeben hatte, und verteilte ihren Inhalt über dem Seil und den Kisten.
Das andere Ende des Seils hinter sich herziehend, ging er um den Leuchtturm herum und hielt auf den Eingang zu. Je näher er kam, desto deutlicher konnte er den beißenden Qualm in seinem Inneren riechen. Den Griff um das Seil festigend, zog er sich wieder den Stofffetzen, den er aus seinem Leibhemd gerissen hatte, über Nase und Mund.
Schwarzer Rauch quoll ihm entgegen, als er die Tür öffnete. Hassan wich unwillkürlich einen Schritt zurück, blinzelte gegen das Brennen in seinen tränenden Augen an. Der Rauch war so dicht, dass er noch nicht einmal das blasse Licht des Gottesfeuers darin ausmachen konnte. Er holte einmal tief Luft, schloss die Augen und lief ins Innere. Hitze und Qualm legten sich wie Blei auf ihn, während er sich einen Weg durch die dunklen Schwaden kämpfte und sein Kopf von den giftigen Dämpfen zu pochen begann.
Darauf vertrauend, sich in Richtung der Flammen zu bewegen, arbeitete er sich blindlings vorwärts und wickelte dabei weiter das Seil ab. Ein heißer Schmerz stach bis tief in seine Lungen.
Schließlich sah er durch den dichten Rauch das Züngeln weißer Flammen. Seine Augen brannten und sein Magen hob sich, als er sich darauf zuschleppte, bevor er alles, was ihm noch an Kraft geblieben war, zusammennahm und das letzte Stück des Seils in die Flammen warf.
Das Feuer flackerte auf und Hassan sackte von einem heftigen Husten geschüttelt auf die Knie. Die Augen vor dem beißenden Rauch schließend, kroch er auf allen vieren rückwärts und folgte der Spur des Seils zum Ausgang zurück.
Die Hitze wurde immer unerträglicher. Das Seil hatte Feuer gefangen, brannte schneller ab, als er kriechen konnte.
Er rückte etwas davon ab, um nicht selbst Feuer zu fangen, während er weiter versuchte, der weißen Flammenspur zu folgen. Doch der Rauch umzingelte ihn, sperrte ihn wie in einen luftdichten Käfig ein. Er konnte nichts mehr sehen. Bekam keine Luft mehr. Der Rauch füllte seinen Mund aus, drang in seine Lungen, benebelte seinen Kopf, brannte in seinen Augen. Sein Brustkorb fühlte sich an, als würde er jeden Moment bersten.
Bald würde das Feuer das Salböl erreichen und den ganzen Turm in Flammen aufgehen lassen. Hassan hatte getan, was er tun musste. Er besaß keine Kraft mehr.
Wie sein Vater würde er sein Leben zum Wohle seines Volkes opfern.
Er schloss die Augen und ließ sich vom Rauch einhüllen.