KAPITEL
69
EPHYRA
Eine leichte Brise rauschte in den Blättern der Akazie, unter der Ephyra stand. Über dem Dorf der Toten war die Abenddämmerung hereingebrochen.
Beru war fort. Ephyra war allein, nach allem, was sie getan hatte, um genau das zu verhindern.
»Guten Tag, Ephyra.«
Ephyra fuhr herum. Doch nicht so allein. Noch nicht.
Sie kannte die Frau nicht, die auf der anderen Seite des Gartens stand, aber etwas sagte ihr, dass sie sie kennen sollte.
Sie trug braune Hosen und ein einfaches langes blaues Hemd, die typische Kleidung der Bewohner Medeas. Um ihre dunklen Locken war ein seidenes Tuch in leuchtendem Orange gebunden, der Farbe der Morgenröte. Sie war eine schöne Frau – tiefbraune Haut, einige Schattierungen heller als ihre eigene, und Augen, die wie dunkler Likör schimmerten.
»Wer bist du?«, fragte Ephyra, während eine weitere Brise über sie hinwegstrich.
Die Frau trat mit geschmeidiger Anmut durch den Garten auf sie zu. »Nun, ich habe dir nie meinen wahren Namen genannt.«
»Frau Tappan?«
Aber das ist nicht ihr richtiger Name
, hatte Anton an jenem Abend, der ein ganzes Weltalter zurückzuliegen schien, in seiner Kammer in der Stadt des Glaubens zu ihr gesagt. Nun, da Ephyra ihr endlich selbst gegenüberstand, wusste sie, dass Anton recht gehabt hatte. Wer auch immer diese Frau war, sie war nicht nur eine Kopfgeldjägerin. Und sie hatte das Dorf der Toten aufgespürt, den Ort, an dem Ephyras Leben seinen Anfang genommen hatte.
Ephyra ballte die Hände zu Fäusten. »Was macht Ihr hier?«
»Ich bin gekommen, um dir zu helfen«, antwortete die Frau.
»Helfen?
Mir?«, sagte Ephyra. »Ihr habt mein Leben zerstört! Ihr seid diejenige, die uns nach Pallas Athos geschickt hat. Ihr seid der Grund dafür, dass Hector uns dort gefunden hat. Das alles ist Eure Schuld!«
Die Frau musterte sie unbeeindruckt. »Ich mag nicht ganz unbeteiligt daran gewesen sein, dass eure Wege sich mit denen von Hector Navarro gekreuzt haben, aber es sind deine Taten und die deiner Schwester gewesen, die euch hierhergeführt haben. Diejenigen, die nicht selbst wählen können, werden stets vom Schicksal beherrscht werden.«
»Ist das alles nur eine Art makabres Spiel für Euch?«, zischte Ephyra. »Uns auf eine aussichtslose Jagd nach irgendeinem legendären Kelch zu schicken? Der womöglich noch nicht einmal wirklich existiert?«
»Oh, dieser Kelch existiert durchaus. Und er kann dir helfen, das Leben deiner Schwester zu retten. Ist das noch immer dein Wunsch?«
Ephyra holte zitternd Luft. Beru zu retten, war so lange das einzig Beständige in ihrem Leben gewesen. Für etwas anderes war überhaupt nie Raum geblieben. Es hatte immer nur die nächste Stadt gegeben, das nächste Opfer, den nächsten in Berus Haut geätzten Strich.
Sie kannte kein anderes Leben. Sie wusste nicht, wie
sie irgendetwas anderes wollen sollte.
»Komm mit.« Die Frau deutete mit dem Kopf zu dem kleinen Haus. Das Haus, in dem Ephyras Eltern gestorben waren. Das Haus, in dem Beru den ersten Atemzug ihres zweiten Lebens getan hatte.
Ephyra folgte ihr.
Die Frau trat durch die Tür in die kleine Stube mit ihrem niedrigen, von abgewetzten Kissen umgebenen Tisch und den bis unter die Decke reichenden Bücherregalen an den Wänden. Ephyra konnte nicht anders, sie strich mit den Fingern über die Buchrücken, so wie sie es früher als Kind immer getan hatte. Die Erinnerung traf sie wie ein unerwarteter Sonnenstrahl, der für einen Moment ihre Trauer durchbrach und ihr das Gefühl gab, wieder ein kleines Mädchen zu sein.
Die Frau ging zu einem der Bücherregale und zog etwas heraus. Ephyra erkannte es auf der Stelle wieder. Es war eines der Skizzenbücher ihres Vaters. Auf seinen langen Karawanenreisen hatte er stets eines bei sich getragen, um auf den Seiten die Gesichter der Menschen, denen er unterwegs begegnete, und die Orte, durch die er kam, festzuhalten. Sie dachte daran, wie sie abends an ihren Vater geschmiegt jedes Mal »Oh, was ist das?« gerufen hatte, wenn er eine Seite umblätterte und eine Herde Kamele oder fremde Artefakte zum Vorschein kamen.
Die Frau schlug das Skizzenbuch auf und begann darin zu blättern. Ephyra musste sich auf die Zunge beißen, um nicht laut dagegen zu protestieren. Die Skizzenbücher ihres Vaters waren wie ein kostbarer Schatz. Etwas Heiliges.
Die Frau hielt bei einer Zeichnung von Beru inne. Sie mochte ungefähr zehn oder elf Jahre gewesen sein, als das Bild entstanden war, ein schlaksiges junges Mädchen mit dem Gesicht einer Elfe. Sie streckte die Arme über den Kopf, um einen Papierdrachen im Sturzflug aufzufangen. Ephyra konnte sich noch gut an diesen Tag erinnern. Das jährliche Drachenfest im Dorf. Beru hatte mehr Drachen gefangen als jedes andere Kind. Sie war so stolz gewesen. Wenige Wochen später war sie das erste Mal krank geworden.
Zwischen zwei Seiten steckte ein zusammengefaltetes Stück Pergament. Die Frau nahm es heraus und hielt es ihr hin.
Ephyra faltete es mit zitternden Händen auf. Es enthielt ebenfalls eine Zeichnung, aber nicht von einem Menschen.
Es war ein Krug. Sie strich mit den Fingerspitzen über die feinen Striche, die einen kunstvoll verzierten, mit Edelsteinen besetzten silbernen Krug darstellten. Er sah aus, als gehörte er auf die Tafel eines alten Königs von Behesda.
Nein, kein Krug
. Ein Kelch.
Sie hob langsam den Blick von der Zeichnung und sah die Frau an. »Ist das …?«
»Schau auf die Rückseite«, sagte die Frau.
Und dort entdeckte Ephyra eine Karte der Wüste Seti, die sich von der Ostküste des Pelagos bis nach Behesda erstreckte und von der Inshuusteppe im Norden bis zum Südmeer. Kleine mit Tinte eingezeichnete Kreuze markierten Dutzende von Wüstendörfern, von denen sie teilweise noch nie etwas gehört hatte.
Am unteren Rand der Karte war ein weiteres Stück Pergament befestigt, auf das jemand in einer ihr nicht vertrauten Handschrift eine Nachricht geschrieben hatte.
Aran,
stand dort. Der Name ihres Vaters. Ich fürchte, wir können dir in dieser Angelegenheit nicht helfen. Falls dieser Kelch existiert, begebe dich besser nicht auf die Suche nach ihm. Das Einzige, was du finden wirst, ist ein schneller Tod.
Ephyra las die Worte dreimal, als könnten sie sich dadurch verändern. Lange bevor sie überhaupt von der Existenz dieses Kelches wusste, hatte ihr Vater bereits danach gesucht. All die Male, in denen er mit einer Handelskarawane in die Wüste gezogen war … Was hatte er auf diesen Reisen wirklich getan? Ihr schlug das Herz bis zum Hals.
»Was ist das?«, fragte sie heiser. »Hat mein Vater nach dem Eleasarkelch gesucht?«
Die Frau erwiderte nichts.
Ephyra riss ihr das Skizzenbuch aus der Hand.
»Antwortet!«, rief sie. »Wenn mein Vater nach dem Eleasarkelch gesucht hat, kann es nur etwas mit mir zu tun gehabt haben, nicht wahr? Warum bin ich … warum habe ich eine solche Gabe?«
Die Frau legte den Kopf schräg. »Was für eine Gabe?«
»Eine so mächtige«, sagte Ephyra. Das Wort fühlte sich seltsam an auf ihrer Zunge. Sie hielt sich selbst nicht für mächtig, aber der Beweis dafür war hier, in diesem Dorf, und hatte die Haut jedes Menschen gezeichnet, der je durch ihre Hand den Tod gefunden hatte.
Hatte ihr Vater aus irgendeinem Grund gewusst, wozu sie fähig war? Glaubte er, dass der Kelch helfen würde, ihre Gabe im Zaum zu halten?
Die Frau ließ den Blick durch den Raum wandern. »Du und deine Schwester seid nicht der Anfang all dessen gewesen. Die Blasse Hand und die, die aus Staub aufersteht. Aber ihr werdet diejenigen sein, die es beenden.«
Ephyra zuckte zusammen. Berus Worte über die letzte Prophezeiung hallten durch ihren Kopf. Eine Prophezeiung, die ein Zeitalter der Dunkelheit vorhersagt … und wir sind die Vorboten dieses Zeitalters.
»Ich wollte nichts anderes, als meine Schwester zu retten.« Ephyra brach die Stimme. »Das hätte alles nie geschehen sollen.«
»Aber es ist geschehen«, erwiderte die Frau. »Und nun? Nun, da du den Preis dafür kennst, bist du noch immer bereit, alles zu tun, um sie zu retten?«
Ephyra schloss die Augen. »Ja.«
»Dann musst du zu Ende führen, was dein Vater begonnen hat«, sagte die Frau. »Es ist an dir, dich zu entscheiden.«
Ephyra blickte auf die Karte in ihrer Hand. Würde sie den Kelch finden, könnte sie Beru ein für alle Mal retten.
Und womöglich die Welt dabei ins Verderben stürzen.
Ephyra begegnete dem unerschütterlichen Blick der Frau und traf ihre Entscheidung.