Kapitel 6
Als Sabine Bakker gegangen war, fragte ich Antje, ob wir einen Spaziergang am Strand machen könnten. Ich wollte das Meer sehen, und sie war damit einverstanden. Wir verließen das Haus und wandten uns nach rechts, in Richtung Norden. Die Nähe des Meeres war in der Luft spürbar, aber sehen konnte man es von hier aus nicht, des Schutzdeiches wegen. Wir passierten das Norderneyer Brauhaus, wechselten nach links in die Strandstraße und gelangten über den Deich zur Promenade an den Weststrand. Der Blick auf das winterliche Panorama mit horizontalen Streifen unterschiedlicher Schattierung war atemberaubend, es umfing mich wie einen alten Freund, der nach Hause gekommen war. Wir gingen über den festen Sand bis zum wogenden Meeressaum. Die kalte Salzluft zerrte an den Lungen, der Wind durchwühlte das Haar. Möwen kreisten über uns, sie schossen übers Wasser davon. Antje stand ein paar Meter von mir entfernt.
„Es gibt keine bessere Luft als diese“, rief ich ihr zu. „Es fühlt sich an, als hätte ich jetzt ein Extrapaar Lungen.“
Antje hob die Nase, sie sog die Luft in tiefen Zügen ein. Dieser Moment zauberte ihr ein Lächeln aufs
Gesicht. Sie trug Strickmütze und einen dicken Schal. Im Gegensatz zu mir war sie gut ausgestattet. Wir entschieden, weiter nach Norden zu wandern, dem Wind entgegen. Antje meinte, später böte sich noch die ein oder andere Gelegenheit, um eine gepflegte Pause einzulegen. Ich vergrub mein Kinn im Jackenkragen, wir marschierten los.
Ich wollte Antjes Meinung zu unserem Gespräch mit Sabine Bakker wissen. „Deine Freundin ist wirklich nett, aber auch sehr vorsichtig, was ihre Beziehung mit Doktor Jacobs anbelangt. Und aus ihrem Blickwinkel ist das sicherlich nachvollziehbar, aber was ist dein Gefühl? Kann es sein, dass sie uns etwas Wichtiges verschweigt?“
Antje warf mir einen fragenden Blick zu. „Wie kommst du darauf?“
„Es ist so wenig Greifbares herausgekommen, um loslegen zu können. Als bekäme man einen anonymen Anruf, bei dem der Anrufer sagt, er habe eine wichtige Information, mit der er aber nicht rausrücken will, und dann auflegt.“
Antje überlegte und sagte: „Ja, so fühlt es sich an, da gebe ich dir recht. Dieses Zaudern kenne ich sonst nicht bei ihr. Ich hatte den Eindruck, als wollte Sabine lieber über ihre Trauer und ihre Gefühle sprechen.“
„Dafür bin ich nicht angereist, ich bin kein Seelsorger.“ Mein Blick war fast immer auf die Nordsee gerichtet. Die Wellen brachen sich an Teerfingern, die ins Meer griffen. Dann sah ich hoch. Eine Handvoll zeternder Möwen stand sekundenlang in der Luft, um untereinander Positionen zu wechseln, ein himmlisches Bäumchenwechseldichspiel. Von Südwest stach ein Sonnenstrahl durch die Wolken, der das Meer funkeln ließ. Ich schaute Antje an und sagte: „Und die wenigen Fakten, die Sabine erzählte, musste ich ihr mühsam aus der Nase ziehen.“
„Was hat es dir bis jetzt gebracht, Frank? Vielleicht gibt es etwas, das ich beisteuern kann?“
Ich zählte auf: „Nach Sabines Meinung weiß Mennos Frau Gesa definitiv nichts vom jahrelangen Fremdgehen ihres Mannes – was an sich etwas unglaubwürdig ist. Nach zähen Verhandlungen ist uns nun auch das ehemalige Liebesnest bekannt, wenigstens eins. Nur mal so in den blauen Dunst hinein, Antje: Wäre es nicht denkbar, dass irgendwer die beiden Turteltäubchen beobachtet und es Gesa Jacobs brühwarm serviert hat? Was ist mit Sabine Bakker? Wird sie vielleicht selbst erpresst? Ist das der Grund, warum sie nur halbherzig aus der Defensive kommt? Solch ein Fehltritt kommt in den besten Familien vor – ich würde sogar sagen, gerade in den besten. Und was ist mit dem Immobilienmakler Jan Gronewold, der für das Techtelmechtel die Schlüsselgewalt hatte? Und wie ist sein Verhältnis zu Frau Jacobs? Könnte sie die schmerzliche Wahrheit nicht auch von ihm haben?“
Antje schüttelte leicht ihren Kopf. „Du unterschätzt die Verschwiegenheit der Leute, wenn es ums Fremdgehen geht. Es wird viel getuschelt und getratscht, aber diejenigen, die es tatsächlich betrifft, erfahren es fast nie.“
Wir erreichten das Café Marienhöhe, einen runden Steinbau in Form eines kleinen Zirkuszeltes mit breiten Fenstern ringsum, thronend auf einer Anhöhe.
Mir wurde immer kälter am Kopf, und meine Ohren waren dabei, abzufallen. Mit einem flehenden Blick fragte ich: „Sag mal, wollten wir nicht irgendwo einkehren?“
„Bist du schon sehr erschöpft oder schaffst du noch ein paar Meter?“ Mit runden Augen schaute sie mich an, ihr motivierender Blick war unübertrefflich.
Ich sagte: „Geht noch.“
Sie wies auf eine Anhöhe rechts vom Café. „Hier unter den Hügeln befinden sich drei Luftschutzbunker.“
„Eignen die sich auch als Liebesnest?“
Antje blickte mich mit seltsamen Augen an. „Wie soll ich das denn jetzt verstehen?“
Ich hob die Arme als Antwort.
„Das hättest du wohl gern“, schob sie nach und kicherte. Wir marschierten weiter, umrundeten den äußersten Westen. Ein paar Augenblicke später führte Antje unser Gespräch über Sabine Bakker fort: „Also, dass Frau Jacobs irgendetwas vom Doppelleben ihres Mannes gewusst haben könnte, kann man nur vermuten.“
„Und was ist mit Sabines Mann? Wie war noch gleich sein Name ... Rudolf?“
Antje nickte.
„Da klingelt’s doch im Busch. Könnte nicht auch er etwas davon mitgekriegt haben?“, fragte ich.
Antje hob kurz die Arme, sie schaute zweifelnd. „Das Problem wird sein, ihn das zu fragen, oder? Wie gehst du in einem solchen Fall vor?“
„Ich behalte das im Hinterkopf. Sollte sich dieser Verdacht erhärten, gebe ich der Polizei einen entsprechenden Tipp. Alibiüberprüfungen überlasse ich gerne den Behörden, die Polizei macht da saubere Arbeit. Für mich, als jemand, der in der zweiten Reihe ermittelt, bleiben Nebenschauplätze übrig, und die können es in sich haben – ich vertraue meiner Intuition.“
„Und was sagt die dir gerade?“
„Dass ich mehr von deinem Hintergrundwissen brauche.“
Antje lachte.
Die Teerfinger, ausgehend von der unteren Promenade über den Strand bis ins Meer, versanken zusehends in der ansteigenden Flut. Eine weitere Gelegenheit, um eine Pause einzulegen, gelangte in Reichweite, es war die Milchbar. Ein rundum formschöner Flachdachbau im Bauhausstil. Vertikal fließende Formen, gebogenes Fensterglas in einem Stück bis zum Boden, eingefasst von grauen Holzpaneelen, dazu eine Terrasse aus demselben Holz. Die Milchbar sei hip, ein Place to be, klärte Antje mich auf. Wir betraten die fast volle Loungebar durch den vorgelagerten historischen Bau aus den 1930er-Jahren. Der Raum war erfüllt von Stimmen und der rhythmischen Musik von northsea:groove. Und obwohl es noch zwei freie Plätze gab, waren wir uns schnell darin einig, nach einer anderen Lokalität zu schauen, wo es ruhiger zuging. Beim Hinausgehen meinte Antje: „Hast du dir die Gesichter der Gäste eingeprägt? Die sitzen morgen noch da.“
„Noch oder wieder?“, fragte ich irritiert.
Sie zuckte mit den Schultern. „Wer weiß das schon?“
Zurück auf der Promenade ließ ich ein paar Minuten verstreichen, knüpfte an etwas an, das während des Gesprächs mit Sabine Bakker unbeantwortet geblieben war: „Antje, als ich nach dem Namen des Ermittlers fragte, wolltest du mir dazu noch etwas sagen?“
„Danke, dass du mich daran erinnerst!“ Sie hob die Hände an, drehte die Innenflächen nach oben. „Du willst wissen, wer die aktuellen Mordfälle untersucht?“ Antjes Gesicht spiegelte Bedauern wider. „Du musst jetzt sehr tapfer sein“, sagte sie und blickte mich voll an. „Aber eigentlich willst du es gar nicht wissen.“
„Was redest du da? So schlimm wie vor vier Jahren in Südoldenburg wird es ja wohl nicht sein! Hauptkommissar Deeken und sein Adjutant Vaske können schließlich nicht überall sein ...“ Antje schaute mich mit versteinerter Miene an, und mir wurde flau. Ihr Schweigen hielt an und ich spürte, wie das Unerwartete dem Unverhofften wich. Immerhin brachte ich den einen Satz zustande: „Sag, dass das nicht wahr ist!“
Antje nickte. „Nicht verzweifeln, Frank. Und auch hier kenne ich den Hintergrund.“
„Ich hätte es mir denken können.“
Sie lächelte und erklärte: „Der Kriminalermittlungsdienst des Kommissariats Norden wurde wegen der Morde auf Norderney um genau zwei Leute aufgestockt. Die Namen der Ermittler waren in der Norderneyer Badezeitung abgedruckt, und du kennst sie: Hauptkommissar Thomas Deeken und Oberkommissar Ralf Vaske.“ Ich kniff die Augen zusammen, Antje sprach einfach weiter. „Hin und wieder begegnet man den beiden, beispielsweise beim Nachmittagskaffee im Bittersüß oder beim Inselbäcker Bethke.“
Diese Neuigkeit schmerzte. Hauptkommissar Thomas Deeken und ich waren damals Studienkollegen. Unsere Wege trennten sich, als er sich für die Polizeikarriere entschied, während ich die Selbstständigkeit anpeilte. Aus irgendeinem Grund wurde Deeken nach Südoldenburg versetzt, und unsere Wege kreuzten sich dort. Jetzt würde ich ihn hier also wiedertreffen – die Welt war klein. Hauptkommissar Deeken, mit dem Habitus einer Feldhaubitze und der Durchschlagskraft eines Rohrkrepierers, hatte sich als Miesepeter und Unsympath einen Namen gemacht. Unverdiente Erfolge verbuchte er für sich, Niederlagen trat er gern an andere ab. Geballte Inkompetenz gepaart mit verbaler Inkontinenz gehörten zu seinen Stärken. Aber immerhin – sein junger, tüchtiger Kollege hatte es bis zum Oberkommissar gebracht. Ich schluckte ein paarmal. „Danke für die Warnung, Antje. Ich möchte Deeken so wenig wie möglich begegnen, aber das wird sich wohl nicht ganz vermeiden lassen.“
„Wenn er dir auf die Pelle rückt, bekommst du bei mir Asyl“, sagte sie mit einem Lächeln so breit wie die Strandpromenade. „Gib einfach Bescheid.“
„Danke für das Angebot, ich komme vielleicht darauf zurück.“
Antje schenkte mir ein Lächeln, ich spürte es bis in die Hosentaschen. Sie nahm und behielt meine Hand und ich hatte nichts dagegen. Weiter gingen wir auf der Promenade entlang, parallel zur Kaiserstraße. Rechts eine fast lückenlose Aneinanderreihung beachtlicher Hotels und Apartmenthäuser, die ein oder andere Bausünde war auch darunter. Ich schaute in den Himmel. Eine Möwe bekam Schlagseite, legte sich in den Wind und ließ sich treiben. Der Himmel trübte ein, das Meer funkelte nicht mehr. Der letzte Rest von Farbe war dabei, zu verblassen. Tiefgraue Wolkenfronten zogen auf, vermutlich sogar mit Schnee im Gepäck.
„Antje, gibt es noch etwas anderes, das Sabine Bakker betrifft? Du sprachst vorhin davon, noch etwas beisteuern zu können? Hat das etwas mit diesem Fall zu tun?“
„Sabine hat es bestimmt nicht absichtlich getan, das will ich ihr nicht unterstellen. Es ist ja auch schon lange her. Vor Jahren gab es einen ungewöhnlichen Vorfall im St.-Ludgerus-Hospital. Es ist das Krankenhaus, in dem Doktor Jacobs als Chefarzt tätig war.“
„Und, worum ging es?“
„Es ist eine Ewigkeit her, vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren, als ein Krankenpfleger fristlos entlassen wurde, der schwere Anschuldigungen gegen den Gynäkologen Doktor Jacobs erhoben hatte. Unmittelbar darauf war der Pfleger weg vom Fenster, von einem Tag auf den anderen. Der Personalrat wurde nicht eingeschaltet, und der Pfleger klagte auch nicht. Es gab wohl eine stillschweigende Übereinkunft mit der Pflegedienstleitung, und dann – aus die Maus. Die Krankenschwestern hatten mir irgendwann davon erzählt, ich war ja damals noch nicht hier. Aber Sabine habe ich nie darauf angesprochen.“
„Weiß man, um welche Anschuldigungen es sich damals handelte?“
„Doktor Jacobs soll angeblich seine Sorgfaltspflicht missachtet haben. Ein Säugling soll vertauscht worden sein.“ Antje hob die Schultern. „So etwas in der Art.“
„Ein schwerwiegender Vorwurf. Was denkst du, weshalb hat Sabine Bakker uns nichts davon erzählt?“
Antje dachte kurz nach, bevor sie antwortete: „Wie gesagt, es ist sehr lange her. Vielleicht hat sie nicht daran gedacht, oder sie verbucht das unter den Dingen, die Teil seines Lebens bleiben sollen. Und jetzt will sie natürlich sein Andenken in Ehren bewahren. Keine Ahnung.“
„Ihr seid Freundinnen, aber ihr könnt nicht über alles reden.“
„Nö.“
„Okay, ich kenne das. Es gibt immer auch individuelle Abstufungen von Freundschaft.“
Antje nickte. Vor uns tauchten die beiden Karusselldächer des Strandrestaurants Riffkieker und des Surfcafés auf. Wir entschieden uns für das Café mit hellem, modernem Interieur, feinem Strandsand unterm Couchrondell und einer aufgeräumten Bar, die zum Dosenwerfen einlud. Bei einem heißen Latte Macchiato tauten unsere Gesichtsnerven auf, und weil der Wind fehlte, sprachen wir wieder in Zimmerlautstärke miteinander. Ein paar Tische von uns entfernt saßen junge Leute, die ihre Köpfe zusammengesteckt hatten.
Ich nahm einen Schluck Macchiato und fragte: „Ist dir Sabine Bakkers veränderter Gesichtsausdruck aufgefallen, als ich sie auf Pfarrer Sander ansprach?“
Antje rührte mit langem Löffel im Kaffeeglas. „Allerdings. Pfarrer Sander war ja auch sehr beliebt hier. Eine charismatische Persönlichkeit, eloquent und sehr gut aussehend.“ Antje stockte und fügte belustigt hinzu: „Er war irgendwie die Norderneyer Antwort auf George Clooney.“ Sie lachte laut.
Ich lächelte ein wehmütiges Lächeln, das viele Männer befällt, wenn sie selbst nie mit George Clooney verglichen werden – also fast alle. „Na, dann wird er wohl auch etliche Verehrerinnen gehabt haben ... zumindest heimliche ... so als Priester, meine ich.“
„Es gab tatsächlich solche Gerüchte, aber wie du dir vorstellen kannst, gebe ich darauf nichts.“ Sie lege den Löffel beiseite und nahm einen Schluck.
„Nein, klar. Darauf geben wir ja nichts“, bestätigte ich. Beredtes Schweigen, und nach etwas Bedenkzeit fragte ich wie beiläufig: „Und, was waren das für Gerüchte?“
Als hätte sie auf mein Stichwort gewartet: „Versprich mir, dass du das, was ich dir jetzt sage, unter „Gerüchte“ ablegst!“
„Ich habe einen ganzen Aktenschrank voll davon.“
Antje rollte mit den Augen. „Ein Gerücht, das sich erstaunlich hartnäckig hielt, war die Liaison mit einer verheirateten Frau, hier aus der katholischen Kirchengemeinde.“
„Gibt es Anhaltspunkte? Namen vielleicht?“
Antje schüttelte mit dem Kopf. „Nein, das nicht. Nur dass diese Beziehung wohl ziemlich lange hielt. Es geht um Dinge, die sich vor über zwanzig Jahren ereigneten, und ich bin ja noch nicht lang genug hier.“
„Hm, eine lange Beziehung. Das ist eine weitere Gemeinsamkeit von Doktor Jacobs und Pfarrer Sander, aber bei aller Vorsicht. Nun gut“, sagte ich mehr zu mir selbst, „es sind eben Gerüchte, bleiben wir besser bei den Fakten.“
„Nun gut, Herr Privatermittler. Du wolltest es ja wissen.“ Antje biss in einen Karamellkeks, führte mit dem kleinen Finger einen verirrten Krümel zurück in ihren Mund. Als sie zu Ende gekaut hatte, sagte sie: „Übrigens, für die nächsten Tage ist in der Kirche Stella Maris eine Gemeindeversammlung anberaumt worden. Das genaue Datum weiß ich gerade nicht. Es geht um die seelsorgerische Betreuung der Gemeinde, um die zukünftige Ausrichtung und Aufgabenverteilung. Leider kann ich nicht dabei sein, weil ich für ein paar Tage auf einer Fortbildung in Osnabrück sein werde. Wenn es dich interessiert, kannst du dir das mal anschauen.“
„Na ja. Was könnte so interessant daran sein?“
Antje strich sich eine Strähne aus den Augen. „Ich dachte dabei weniger an die Tagesordnungspunkte als vielmehr daran, dass du auf diese Weise die Gemeinde kennenlernst, in der Doktor Jacobs ehrenamtlich tätig war. Er war eine der Säulen der Gemeinde und im Kirchenvorstand. Und ich glaube, er war sogar Kirchenprovisor. In der Versammlung triffst du auf die Leute, die mehr oder weniger mit ihm zu tun hatten.“
Ich grübelte nach. „Und es ist dieselbe Gemeinde, in der das andere Mordopfer Sander als Pfarrer tätig war?“
„Tja, wenn du nach Gemeinsamkeiten von Doktor Jacobs und Pfarrer Sander suchst, dann wäre dies der richtige Ort, offiziell und ohne Gerüchte, meine ich.“ Sie lächelte mich offen an.
„Ich habe verstanden, liebe Antje. Wäre meine Anwesenheit nicht unangebracht? Dort werden sicherlich Interna beraten ...“
„Nein, wirklich nicht!“ Antjes Brauen hoben sich. „Die Versammlung ist öffentlich. Und sie wird auch gern von einigen Dauergästen Norderneys besucht, die sich mit der Kirchengemeinde verbunden fühlen. Eine gute Freundin von mir, Fenja Groothuis, ist in der St.-Ludgerus-Gemeinde als Pastoralreferentin tätig. Wenn ich ihr erzähle, dass du kommst, wird sie dich unter ihre Fittiche nehmen, da bin ich mir sicher.“ Ein spitzbübisches Lächeln flatterte über ihr Gesicht.
„Bitte gib mir Bescheid, wenn es so weit ist. Ich überlege es mir.“
Es entstand eine Pause. Die Handvoll Leute, die am Fenster saßen, verließen das Café. Es wurde still, wir leerten die Gläser und sahen uns eine Zeit lang schweigend an. In den Blicken lag mehr, als wir zu sagen vermochten. Während der dramatischen Ereignisse vor vier Jahren war zwischen uns wieder etwas aufgeflammt, das an unsere gemeinsamen Jugenderlebnisse anknüpfen wollte. Antje hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie mich nicht vergessen konnte, ja dass ich sogar die Liebe ihres Lebens war. Aber ich vermochte nicht, ihre Liebe vorbehaltlos zu erwidern – ich trug einen Ehering am Finger, obschon sich meine Ehe in einer gehörigen Schieflage befand. Zudem hatte Susanne jemand anderen kennengelernt, aber sie meinte, Stefan sei nur ein guter Freund, nicht mehr, und ich glaubte ihr das. Später aber sah ich ein Leuchten in Susannes Augen. Sie hatten wieder diesen Glanz, den ich zuletzt bei ihr wahrnahm, als wir frisch verliebt waren, und ich hatte es versäumt, diesen Glanz zu pflegen, ihn hin und wieder aufzupolieren. Ich war zu sehr mit mir selbst und meiner Karriere beschäftigt, hatte zu wenig auf Susanne geachtet ...
Von meinen Eheproblemen hatte ich Antje bei unserem Treffen vor vier Jahren erzählt, ein Upgrade wäre natürlich hilfreich, aber ich wollte damit warten. Antje sollte erzählen. Und sie schien nicht überrascht, als ich fragte: „Wie war es bei dir in den letzten Jahren? Gibt es jemanden in deinem Leben, oder haben wir uns schon zu weit voneinander entfernt, als dass ich dir diese Frage stellen darf?“
„Du kannst mich alles fragen, Frank. Ja, es gibt ... nein, es gab ihn – bis vor zwei Jahren. Ich lernte Bernd kennen, als ich taufrisch auf die Insel kam. Ich traf ihn in einer Bar für einsame Herzen. Na ja, es war ein Treffen über ein Datingportal. So etwas hatte ich noch nie gemacht, ich wollte das mal ausprobieren, aber es ging total schief.“ Antje sah mich mit verschatteten Augen an, und ich spürte die Beklemmung, die sie empfand.
Ich versuchte, sie aufzuheitern: „Bernd, der Name steht für Esprit und Kreativität.“
Antje lachte bitter. „Vor allem für Kreativität“, bestätigte sie. „Ich verliebte mich in ihn oder, besser gesagt, in das Bild, das er allen vorgaukelte, denn er war ein Charmeur der übelsten Art. Er machte einen auf Stimmungskanone und den Kultivierten, anfangs. Irgendwann war die Luft raus, und ich merkte, dass sich auch andere Frauen in dieses Bild verknallt hatten. Sein Handy verriet ihn. Mit der Treue hatte er es nicht so, und am Ende hing er wieder an der Theke. Wie eine fleischfressende Pflanze wartet er auf das nächste Opfer. Vielleicht gibt es ja eine Frau, die solche Eskapaden duldet, oder es gibt echt niemanden mehr, der auf ihn reinfällt wie ich dumme Kuh. Es war sehr naiv von mir.“ Für einen Moment schloss sie die Augen. „Jedenfalls bin ich ihm nicht mehr begegnet.“ Es vergingen ein paar Sekunden, ehe sie weitersprach. „Ich wollte mir nicht eingestehen, was das eigentlich war. Ich hätte es mit meiner psychologischen Ausbildung erkennen müssen, aber ich war wie blind. Ich fühlte mich verloren, als ich auf die Insel kam, und Bernd suchte Ablenkung. Heute weiß ich, dass solche Typen, die sich Hals über Kopf in Abenteuer stürzen, regelrechte Plagegeister sein können. Und als ich zufällig ein Foto von der Ex auf seinem Handy sah, wurde mir klar, dass ich genau in sein Beuteschema passte. Die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen. Auf den Partys gab er gern mit mir an, aber es ging ihm gar nicht um mich als Person, sondern als ... Objekt.“
„Wie merkt man das?“
„Es war diese verkrampfte Distanz, die er wie einen Schutzwall um sich herum aufgebaut hatte. Sobald ich von Partnerschaft oder Liebe sprach, erfand er immer irgendwelche Ausreden. Zum Beispiel, für seine Kumpel da zu sein. Während er prächtig vor ihnen glänzte, fühlte ich mich ausgesaugt und benutzt. Ich fühlte mich meiner Gefühle beraubt und war in meiner Selbstwahrnehmung komplett gestört. Warum konnte er mir nicht geben, was er für seine Freunde übrighatte? Oder war das nur ein Vorwand? Bernd manipulierte mich, und wenn er dann fragte, was mit mir los sei, was schon selten genug vorkam, konnte ich meine Bedenken nicht richtig beschreiben. Das legte Bernd als Schwäche aus. Er sagte immer, ich wäre nicht ganz richtig im Kopf.“
Ich sagte: „Ich kenne solche Menschen. Sie verdrehen einem das Wort im Mund und hören nicht wirklich hin, was man sagt. Es fehlt an der Bereitschaft zu verstehen, es fehlt an Empathie.“
Antje nickte. „Er benutzte mich in meiner Sorglosigkeit und in meinem Vertrauen, ließ mich aber fallen, als ich meine Zweifel anmeldete. Erst erzählte er mir, dass er seit Monaten von seiner Ex getrennt war, bis ich durch einen dummen Zufall erfuhr, dass er sich regelmäßig mit ihr traf. Später erzählte er mir, dass er selbst tief verletzt sei, und das machte ihn noch unberechenbarer, fast wie ein verwundetes Raubtier.“ Sie legte ihre Finger an die Stirn und schloss wieder kurz die Lider. „Und ich, ich glaubte ihm das Theater auch noch.“ Die schmerzliche Erinnerung schnitt ihre Stimme in Streifen: „Es ist so ... erniedrigend. Ich wurde zum Opfer gemacht, und das Schlimmste ist, ich begann tatsächlich, diese Opferrolle zu leben. Das war so würdelos.“
Ich glaubte zu wissen, wovon sie sprach. Hin und wieder begegnet man Menschen, die sich selbst für den Mittelpunkt des Universums halten und dabei umliegende Galaxien verschlingen wie ein schwarzes Loch. Der schöne Schein kann täuschen: Jeder Matador hat auch seine irritierende Facette, der Kultivierte hat primitive Phasen, der Alleinunterhalter ignoriert ernsthafte Themen, und ein Romeo versprüht seinen Charme auch an andere Frauen. Dabei geht es immer auch um Kontrolle, Dominanz und Manipulation. Antjes Bedürfnis nach Anerkennung, Wertschätzung und Liebe ist eine gesunde Empfindung, aber in dieser Win-lose-Situation mit einem Narzissten war sie die Verliererin. Antje wollte dieses Nullsummenspiel nicht länger mitmachen, hatte einen Schlussstrich darunter gezogen. Nun – es ist immer leichter, das Leben anderer zu beurteilen als sein eigenes.
Als Nächstes erzählte ich Antje von meinen Narben, die teilweise noch Wunden waren. Ich beschrieb, wie es um meine Ehe stand, dass ich ihr – anders als vor vier Jahren – nun kaum mehr eine Chance einräumen würde. Das Leben ging weiter, unerbittlich – neue Sommer, neue Winter, fast unmerklich. Bis irgendwann etwas passiert, das einen dazu bringt, innezuhalten und sich Gedanken zu machen, oder zu begreifen, dass man nicht mehr mitgehen will. Ich fragte mich: Erkennt man die guten Jahre, wenn man sie gerade erlebt, oder wartet man immer darauf, dass sie besser werden, bis auf einmal klar ist, dass sie vorbei sind? Ich wusste es nicht, und ich belastete Antje nicht damit. Ich schilderte ihr diverse Beispiele sinnlosen Streits und aufreibender, unwürdiger Situationen, die einer Partnerschaft auf Augenhöhe nicht zuträglich waren. Ich zog das traurige Fazit: „Wenn ich daran denke, wie unterschiedlich Susanne und ich die Dinge beurteilen, ist eine Trennung unausweichlich geworden. Die Distanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung wird täglich größer, wir haben uns auseinandergelebt. So abgedroschen das klingt – das ist die Situation.“
Während meiner Schilderungen spiegelte Antjes Gesicht die unterschiedlichsten Gefühle wider. Traurigkeit, Empathie, Unsicherheit, aber auch etwas ganz anderes, eine Form von Zärtlichkeit vielleicht, verschüttet und wieder ausgegraben. Der Ausdruck ihrer Augen war warm, als sie sagte: „Frank, ich bin froh, dich hier zu haben und dass wir so offen und vertraut miteinander reden können. Vielleicht versuchen wir, die dunklen Zeiten einfach auszublenden und an das anzuknüpfen, was wir ganz am Anfang hatten. Einfach und ganz leicht, ohne etwas zu erwarten.“ Eine sanfte Röte erblühte auf ihren Wangen, als sie hinzufügte: „Leichtigkeit ist eine Lebenskunst, die sich nur auf eine Art erlernen lässt: mit Leichtigkeit.“
Ich fragte mich, ob das ein Kalenderspruch war, behielt das aber für mich. Ich wusste, dass sie damit recht hatte. Ich legte meine Hand auf die ihre.
Anje lächelte mich an und sagte: „Es ist ein Kalenderspruch, aber ein kluger.“
„Danke für dich“, sagte ich und schenkte ihr ein vorbehaltloses Lächeln, ohne etwas zu versprechen oder zu erwarten – ganz leicht eben. Sie betrachtete mich mit etwas im Blick, das wirklich an Erleichterung erinnerte, die verwirrenden Gefühle wichen aus ihrem Gesicht. Natürlich, die Tragik um die verlorenen Jahre, die wir nicht miteinander verbringen konnten, machte betroffen. Die Chance auf eine glückliche Zweisamkeit, vielleicht sogar eine Familie mit Kindern war so gut wie dahin. Es ist dieses Gefühl, als wäre dir das Leben durch die Finger gerieselt, als läge das Kommende bereits hinter dir, als wäre es schon immer hinter dir gewesen. So ist es in der verpassten Liebe. Es gibt darüber nicht viel zu sagen, was nicht schon einmal gesagt oder geschrieben wurde, weil die Liebe zwar jedes Mal neu ist, aber genauso alt wie die Zeit selbst. Immer wieder geschieht alles von Neuem – dieselbe Freude, dasselbe Glück, dieselben Verletzungen, dieselbe Trauer. Wir machen ganz ähnliche Fehler wie die Menschen vor ewigen Zeiten, aber das reicht uns nicht. Auch zukünftige Generationen werden sie machen, weil es immer neue Menschen mit eigenen Erfahrungen sind, die ihre eigenen Lebensgeschichten schreiben wollen und müssen. Und wenn wir begriffen haben, wie es läuft, ist es Zeit zu gehen. Alle Hoffnung, alle Sehnsucht, alles Wissen, alles Streben ist dahin. Wenn es da einen Sinn gibt, muss der wohl außerhalb unserer Erfahrung liegen.
Als wir das Surfcafé verließen, standen zwei Streifenwagen auf dem Deich, ungefähr dort, wo der gepflasterte Weg einen Kniefall vor dem Nordstrand machte. Mehrere Beamte waren damit beschäftigt, einen Strandabschnitt und die Stufen, die zum Strand hinunterführten, mit Flatterband abzusperren. Auf dem Strand parkte ein schwarzer T3-Kastenwagen, dem Kennzeichen nach ein Zivilfahrzeug der Auricher Polizei. Vier bis fünf Beamte trugen mehrere prall gefüllte Taschen, die wie Sporttaschen aussahen, zum offen stehenden Transporter und stellten sie hinein. Die Taschen lagen verstreut auf dem abgesperrten Strandabschnitt herum, sie waren vermutlich von der Flut angespült worden und wurden jetzt eingesammelt. Es waren Sporttaschen im Retrostyle in den Farben Hellblau, Weiß und Schwarz mit einem auffälligen, weißen Logo. Aus der Entfernung ähnelte es dem Markenemblem der ehemaligen amerikanischen Fluggesellschaft Pan Am.
Antje sagte: „Da ist wohl wieder ein Container über Bord gegangen.“
„Und das Strandgut wird höchstpersönlich von der Staatsmacht eingesammelt?“, wollte ich wissen. Wir schauten einander skeptisch an, dann wieder zum Strand.
Antje sagte: „Sieht so aus, als wären die Taschen bumsvoll.“
Ich nickte und lieferte die Erklärung: „Mit verschwitzten Aerobic-Suits von Olivia Newton-John.“
Antje fummelte ihren Schal in Position und sagte: „Let’s get physical, und lass uns hier verschwinden.“
Wir setzten uns in Bewegung, folgten aber nicht mehr der Promenade, sondern spazierten nach rechts über den Januskopf in die Knyphausenstraße. Antje wollte mir die örtliche Polizeistation zeigen, von
außen, versteht sich. Als wir uns dem beigefarbenen Ziegelsteinbau näherten, kamen zwei Männer aus der Tür. Sie steuerten auf einen dunklen 5er-BMW zu, der am Straßenrand parkte. In derselben Sekunde, als ich Hauptkommissar Thomas Deeken und seinen Kollegen Oberkommissar Ralf Vaske erkannte, sah Deeken zu uns herüber, während sein jüngerer und größerer Kollege mit einem Telefonat beschäftigt
war. Zunächst erkannte Deeken mich nicht, dann rutschte sein Blick zu mir zurück und krallte sich fest. Seine Stimme dröhnte über die Straße: „Ja, da brat mir doch einer mal ’nen Storch! Was seh’n meine
Adleraugen denn da?“ Deeken wich von seiner Route ab, lenkte direkt auf mich zu. Vaske schaute ihm irritiert hinterher. Ich blieb stehen, konnte nichts erwidern, bewegte mich nicht. Das brauchte ich auch nicht, der Berg kam zum Propheten. Ein Berg mit einer Zigarette im rechten Mundwinkel und sich bewegenden Lippen in einem zu großen Gesicht. Der dünne Haarwuchs war noch spärlicher geworden, die Kauleisten um eine Nuance dunkler, die grauen Augen schienen blasser, die Falten noch tiefer – man konnte Langlauf darin veranstalten, ohne von der Piste abzukommen. Die hochgezogenen Enden der Mundwinkel wären bei einer Leichenpräparation als Lächeln durchgegangen. Deeken reichte mir seine Koteletthand, die ich auf ihren Wassergehalt hin überprüfte und wieder zurückgab. Er war fülliger und kurzatmiger geworden, schnappte nach der Extraportion Luft und posaunte: „Gerdes, bist du es wirklich?! Frank Gerdes, hahaha! Wo kommst du denn auf einmal her?“ Er schlug mir auf den Oberarm. Vaske beendete das Telefonat, kam schlurfenden Schrittes zu uns herüber. An seinen Füßen waren Schuhe wie Torfziegel – denen war er über die Jahre treu geblieben.
Ich öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, aber es langte nicht.
„Halt! Sag nichts!“, fiel er mir schmetternd ins Wort. „Du hast von den Morden hier auf der Insel gehört, und weil dir dein Job als Privatschnüffler sowieso nichts einbringt, hast du dir gesagt: Mensch, ich könnte Hauptkommissar Deeken und dem ganzen Polizeiapparat doch mal unter die Arme greifen, bevor mich in Hamburg die Langeweile packt, oder? Die Polizei auf dem Land schafft das nicht allein, was? Hast du dir so vorgestellt, oder?“ Seine Augen betrachteten mich misstrauisch, das heißt, sofern sie überhaupt einen Ausdruck hatten.
Ich hütete mich, ihm von meinen Absichten zu erzählen, ich sagte nur: „Ich ...“
„Na, lass mal!“ Sein Stummel rollte auf die andere Seite. „Du willst mir jetzt irgend so ein Märchen auftischen. Du bist hier auf Urlaub, und alles ist nur ein blöder Zufall und so ...“ Er sah mich an, als hätte ich etwas Witziges gesagt.
Ich sagte: „Nicht ganz. Von einem Zufall kann keine Rede sein, ich wurde von meiner Freundin Antje hierher eingeladen, wenn du es genau wissen willst. Ihr kennt euch noch?“
Deeken grinste Antje an. „Ja ... natürlich! Wir haben gut zusammengearbeitet damals – die Polizei und die Presse.“ Er blies seine Wangen auf und ließ die Luft wieder ab, während er Antjes Hand schüttelte, als hätte er etwas Heißes angefasst. Er runzelte die Stirn, als er versuchte einzusortieren. „Sie sind doch Journalistin, wenn ich mich nicht irre. Machen Sie Urlaub oder betreiben Sie hier etwa Recherche?“
Antje klärte ihn auf: „Ich lebe und arbeite auf Norderney seit über einem Jahr.“
Er stieß Vaske den Ellenbogen in die Seite, witzelte: „Etwa für den Norderneyer Morgen? Das wäre in der Tat ein Karrieresprung, harhar.“
„Ich habe das Metier gewechselt und bin bei Casa Vitalis als psychologisch-technische Assistentin beschäftigt.“
Deekens Visage ließ für einen Augenblick eine Mischung aus Erstaunen und Bewunderung erkennen. Offensichtlich unbekanntes Terrain für ihn.
Kollege Vaske räusperte sich, er dozierte: „Casa Vitalis ist mir als Tochtergesellschaft des Sankt-Ludgerus-Hospitals bekannt. Neben der ambulanten Tagespflege ist die Gesellschaft für die Disposition der ärztlichen Versorgung, den mobilen Mittagstisch und die Freizeitgestaltung für Senioren zuständig, in Zusammenarbeit mit der Stadt Norden.“
Antje ergänzte: „So ist es. Übrigens, auch in Zusammenarbeit mit dem Landkreis Aurich.“
Deekens Schläfenadern pochten und er bewegte stumm seine Lippen, als wollte er den Stummel aufknabbern. Er wurde zusehends nervös und entzündete eine weitere Zigarette an der alten. Ich sah, wie seine Kiefermuskeln verkrampften, als er um seinen Glimmstängel herum sagte: „Hmhm, nun gut. Und du, Gerdes, warum bist du wirklich hier?“
„Nur so.“
„Nur so, hm?“
„Nur so.“
Deeken nickte übertrieben, zuckte kurz mit den Schultern und sagte: „Nun gut. Wenn du nicht damit rausrücken willst. Ich nehme an, dein plötzliches Erscheinen hat tatsächlich etwas mit den Vorkommnissen der letzten Wochen zu tun.“ Er hob seinen Autoritätszeigefinger und fuchtelte mir damit vor der Nase herum. „Aber ich dulde kein Einmischen in die Ermittlungen. Das weißt du, und ich hoffe, wir verstehen uns.“
„Wir sind hier in Ostfriesland, das ist ein freies Land, oder nicht? Friesische Freiheit. Kennst du sicher“, stellte ich klar.
Deeken sah mich an, als überlegte er, von welchem Planeten ich käme. Er räusperte sich und blickte um sich, als wollte er sich davon überzeugen, dass niemand vom Verein Polizeigeschädigter Privatermittler hinter ihm stand. Mit gespielter Bedachtsamkeit sagte er: „Gerdes, ich kenne dich gut. Du bist einer von diesen Querulanten, die ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten stecken und dabei unsere Ermittlungen behindern.“
Ich ließ seine heiße Luft als Kondensstreifen an mir vorüberziehen und entgegnete: „Du erinnerst dich an unser letztes Zusammentreffen? Ich verhalf dir zu Schlagzeilen, die dir zur Ehre gereichten. Dafür war ich gut genug, und du warst zufrieden.“ Ich rief ihm kurz die Ereignisse von 2014 in Erinnerung – die Version zum Einprägen. Er hörte zu, ohne den Blick von meinem Gesicht zu wenden, nicht einmal ein Wimpernzucken. Sein Körper blieb unbewegt, als bemühe er sich, alles, was ich sagte, von sich abtropfen zu lassen. Ich schloss mit dem Satz: „Es ist durchaus möglich, dass sich unsere Wege hier kreuzen werden. Jedenfalls werde ich mich nicht vor dir verstecken, vielleicht habe ich hin und wieder einen Hinweis für dich, und du für mich. Einigen wir uns auf eine friedliche Koexistenz, Deeken. Probiere es mal mit Leichtigkeit.“ Ich zwinkerte Antje zu, und sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Hm“, war seine Reaktion, unerwartet und knapp. Und ich war mir nicht sicher, was er damit ausdrücken wollte – unterdrückten Ärger oder baffes Erstaunen. Dann wurde der Hauptkommissar zappelig, er wandte sich an seinen Kollegen, abrupt wechselte der Klang seiner Stimme, sie war nun pflichteifrig: „So, Vaske, wir haben zu arbeiten.“ Deeken drehte sich noch einmal zu mir um. „Übrigens, Gerdes, du kannst dich gerne nützlich machen und herausfinden, welche unangemeldeten Köter hier die Insel vollscheißen. Den Auftrag hast du, ganz offiziell!“ Er wandte sich wieder an Vaske: „Was war das gerade für ein Anruf?“
„Ein Hauseinbruch im Hause Jacobs“, gab Vaske preis. Hauptkommissar Deeken warf ihm einen scharfen Blick zu, als habe sein jüngerer Kollege soeben ein Staatsgeheimnis ausposaunt. Beide machten kehrt, sie bewegten sich zum Fahrzeug. Auf dem Dach des BMW begann ein einzelnes Blaulicht zu zucken, der Wagen machte einen Satz und brauste in südlicher Richtung an uns vorbei. Antje und ich blickten uns ratlos an. Jeglicher Kommentar zu Deeken erübrigte sich, aber ich fragte: „Was war das gerade? Einbruch im Hause Jacobs? Ob das Haus der Witwe Gesa Jacobs damit gemeint ist?“
Antjes Mandelaugen wurden walnussrund. „Hoffentlich nicht! Die arme Frau hat ja schon genug durch.“ Eine Pause. Antje sagte weiter: „Und wenn doch? Könnte der Einbruch etwas mit dem Mord an ihrem Mann zu tun haben?“
Ich hob die Schultern und sagte: „Darüber lässt sich nur spekulieren und das bringt jetzt nichts. Wir packen das in unsere Akte zur Wiedervorlage.“
Im selben Moment bog ein T3-Kastenwagen auf das Grundstück der Polizeiwache. Im Schlepptau ein rasender Radfahrer, der dem Transporter unmittelbar folgte. Antje kannte ihn, er war Journalist beim Ostfriesischen Kurier. Wir wandten uns, folgten weiter dem Straßenverlauf am Kaiser-Wilhelm-Denkmal vorbei, das von Einheimischen nur Klamottendenkmal genannt wurde. Ein pyramidenförmiger Flickenteppich aus Steinen unterschiedlichster Herkunft und Beschaffenheit. Wir gingen durch die Friedrichstraße, auf beiden Seiten waren Shops, Bistros, Boutiquen, Cafés, Andenkenläden. Menschen gingen dort ein und aus, ein paar Shops waren über die Wintermonate geschlossen. In Höhe der Karlstraße wies Antje mich mit dezentem Kopfnicken auf einen älteren Herrn mit schwarzem Hut und Mantel hin. Aus seiner Manteltasche lugte ein Garrels-Zollstock hervor, er war bewaffnet mit Bleistift und Notizbuch.
Antje sprach mit leiser Stimme. „Siehst du den da? Das ist Rolf Heymann, pensionierter Verwaltungsbeamter. Vor wenigen Jahren war er noch Leiter des Ordnungsamtes.“ Aus den Augenwinkeln beobachteten wir, wie er den Vorbau eines Hotels inspizierte, den Zollstock aus der Tasche zog, aufklappte und ihn vor sich auf den Boden legte. Abschnittsweise verschob er ihn nach rechts oder links und machte sich Aufschreibungen. Antje erklärte: „Seit der Pensionierung ist er auf einer Art Rachefeldzug. Zumindest sagen das seine Opfer über ihn.“
„Wen oder was rächt er denn? Und wer sind die Opfer?“
Sie hob die Schultern. „Keine Ahnung. Opfer sind jedenfalls diejenigen, die sich nicht haargenau an die Bauvorschriften gehalten haben und darum ganze Teile wieder abreißen müssen, wenn Heymann sie überführt. Ihm entgeht wohl nichts. Angefangen von kleineren Verstößen wie überzogenen Ladenöffnungszeiten, falschen Preisauszeichnungen bis hin zu kleinsten Anbausünden, bringt er alles zur Anzeige, was nicht niet- und nagelfest ist. Man nennt ihn hier den Knöllchen-Rolf. Das Fernsehen hat auch schon über ihn berichtet.“
Amüsiert schaute ich noch einmal hin. Ich sagte: „Auch eine Art, sich im Alter Feinde zu machen. Was treibt einen dazu an, die fehlende Wertschätzung?“
„Ich weiß nicht, was es ist, aber wenn ich es herausgefunden habe, melde ich mich bei dir.“
Wir gingen zwei, drei Schritte, und ich fragte: „Sag mal, wäre es möglich, sich dieses ehemalige Hotel anzuschauen, von dem Sabine Bakker gesprochen hat? Ich meine das Hotel Nordstern, den Unterschlupf für das Liebespaar. Oder ist es zu weit von hier?“
Antje strich sich eine Haarsträhne unter die Wollmütze, sie sagte: „Gut, dass du jetzt danach fragst. Es ist ganz in der Nähe, in der Luisenstraße – das ist die übernächste.“
Von Westen trieb seichte Tintenfärbung auf die Insel zu. Es dämmerte, und es lag Frost in der Luft, wie am Morgen. Die Straßen verwaisten allmählich, Menschen verschwanden in ihren Wohnungen und Häusern, und in den Fenstern gingen die Lichter an. Es standen nur wenige Fahrzeuge in den Straßen. Das Fahren war hier ohnehin nur mit Ausnahmegenehmigung erlaubt. Dann setzte Schneefall ein. Zunächst sanft, dann in dicken Flocken. Im Schein der sprühenden Straßenlaternen bildeten sie einen dichten, weißen Vorhang. Eine Viertelstunde später standen wir vor dem Nordstern, einem mittelgroßen Hotel mit hell verkleideter Front, davor eine geteilte Glasveranda, die bis zum Gehweg reichte. Ein typischer Bau im Stil der Achtzigerjahre. Blinde Fenster, fleckige Rahmen, schmuddelige Fassade. Links verkündete ein großes Schild die strahlende Zukunft dieses Fleckchens Erde – ein Hotelneubau namens New Wave sollte hier entstehen. The eighties never die. Ich ging zum Eingang und rüttelte an der doppelflügligen Tür. Verschlossen. Die Fenster waren unbeschädigt und zu, jedenfalls zur Straßenseite hin. Rechts ein Durchgang. Ich folgte dem schmalen Weg, schob alte Bretter und anderes Gerümpel zur Seite, um zur Rückseite zu gelangen. Antje blieb vor dem Gebäude stehen, sie rief mir hinterher: „Was machst du? Suchst du ein Liebesnest? Und wenn ja, für wen?“ Sie kicherte und hielt sich die Hände an den Mund.
Ich ging unbeirrt weiter, murmelte so etwas wie: „Manchmal ist es ganz gut ... die Örtlichkeiten ...“
Antje bewegte sich, sie kam ein paar Meter hinterhergelaufen und rief bemüht leise: „Erde an Frank?!?“ Ich blieb stehen, drehte mich um. Antje stand da in der Dämmerung, zwischen tanzenden Flocken, im Schein einer Straßenlaterne. Ein zauberhafter Anblick – Narnia auf Norderney.
Ich rief genauso leise zurück: „Entschuldige, bin gleich zurück. Wartest du?“
Ihre Antwort war ein lautes Nicken. Ich kämpfte mich weiter vorwärts. Es gab einen Anbau aus rotem Klinker, die Hotelküche vielleicht. Auch hier waren die Fenster allesamt dicht und unbeschädigt. Der Abstand zum Nachbarhaus dahinter betrug nur wenige Meter. Ich umrundete den Anbau, suchte nebenbei nach einer Möglichkeit für einen problemlosen Einstieg. Dann erspähte ich einen dämmrigen Schein aus einem schmalen Lichtschacht. Ich beugte mich hinunter. Das Fensterglas hinter dem Rost war in große Stücke zersprungen und zum Teil herausgebrochen. Langsam hob ich das Gitter an. Plötzlich ein Räuspern von oben, eine Ansage hinunter in den Knasthof: „Hey, Sie da! Gibt es da was zu sehen!?“ Der aufmerksame, gesichtslose, qualmende Statist auf dem abendlichen Schneekugelbalkon nebenan hatte was zu melden.
Ich fuhr hoch, ließ das Gitter laut scheppernd zurückfallen. „Objektschutz!“, sagte ich laut und trat den Rückzug an.
Vorn wartete Antje geduldig und auf der Stelle stapfend. „Gleich bin ich eine Schneefrau“, sagte sie, „dann musst du mich auftauen.“ Sie schlug die Arme um ihren Körper. „Hast du was entdeckt?“
„Nicht wirklich, aber ich bin um eine Erkenntnis reicher geworden.“ Ich schüttelte mir den Schnee vom Kopf und klopfte ihn mir von den Schultern.
„Um welche denn?“, fragte sie gedämpft durch den Schal hindurch.
„Norderney braucht keine Überwachungskameras.“
Sie lachte. „Bist du etwa bei irgendwas erwischt worden?“
Ich wechselte das Thema. „Es ist Zeit einzuchecken. Kommst du noch mit zum Hotel?“
Sie nahm sich die Zeit. Ich meldete mich bei der Rezeption, bekam den Schlüssel und während Antje auf mich wartete, brachte ich meinen bereitstehenden Koffer hinauf ins Zimmer. Es roch frisch gereinigt und war kalt. Es war ein einfaches Zimmer, fast quadratisch, mit Dusche und Toilette links und einem Kleiderschrank rechts. Ich durchquerte den Raum, zog die Vorhänge und Gardinen zur Seite und schloss das Fenster. Unten war ein Hinterhof mit Mülltonnen und sonstigem Krempel, der fast vollständig mit Schnee bedeckt war. Ich öffnete meinen Koffer, hängte ein paar Kleidungsstücke in den Schrank und verließ das Zimmer wieder. Antje und ich verließen das Haus, zogen plaudernd durch die Straßen und ließen den Abend im Goode Wind bei ein paar Cocktails ausklingen. Die Atmosphäre in der kleinen Seemannskneipe mit dem dunklen Interieur und dem gedämpften Licht war zeitlos. Wenn man dort saß, wusste man nicht, ob es Winter oder Sommer war und ob nicht vielleicht jeden Moment Walfänger in die Kneipe stürzten, um ihre Beute zu feiern. Frau Zaineb Elkhazein, ihres Zeichens Professional Bartender, bediente uns persönlich. Sie stellte zwei Strandläufer vor uns auf die Theke, eine Mixtur aus Sanddorn, Queller aus den Salzwiesen und geheimen Zutaten. Antje und ich sprachen über dies und das und die alten Zeiten, wie zwei Staubsaugervertreter auf einer entlegenen Haltestelle spätabends im November – die Jahre dazwischen waren wie weggesaugt. Als wir gegen Mitternacht die Bar verließen, war die Welt komplett mit Zuckerguss überzogen. Ich begleitete Antje nach Hause, gab ihr einen Kuss, mir einen Ruck und lief zurück zum Hotel am Klamottendenkmal. Auf dem Weg gingen mir die bisherigen spärlichen Fakten meines Auftrags durch den Kopf. Eine vage, aber interessante Spur schienen mir der Verdacht der vertauschten Babys und dessen mögliche Folgen zu sein. Es hatte jedenfalls mit Dr. Jacobs zu tun, und genau deshalb war ich auf die Insel gekommen. Für den nächsten Tag nahm ich mir vor, den ehemaligen Pfleger des St.-Ludgerus-Hospitals aufzusuchen, wenn der hier noch lebte.