Kapitel 7
Der Schneefall hatte aufgehört. Ich saß fast allein in der verglasten Veranda zur Straße hin und nahm ein stilles Frühstück ein, mit Blick auf freigefegte Gehwege. Ein älteres Paar vertrieb sich die Zeit am Büfett. Kunstvoll drapierte es die Teller mit Beilagen aller Art auf eine Weise, die dem Turm zu Babel zur Ehre gereicht hätte. Man konnte nie wissen, wann der Russe vor der Tür steht. Als sie sich endlich setzten, war mein Frühstück beendet. Ich blieb noch sitzen, ging in Gedanken ein paar Tai-Chi-Übungen durch und legte mir den Vormittag zurecht. Dann ging ich zurück aufs Zimmer, warf mir die Jacke über und steckte Kuli und Notizblock ein. Ich verließ das Hotel, ein paar Sonnenstrahlen brachen durch himmlische Winkel. Antje hatte mir noch in der Nacht Namen und Anschrift des ehemaligen Krankenpflegers aufs Smartphone geschickt. Bonno Cornelius lebte tatsächlich auf der Insel, in einem Mehrparteienhaus in der Jann-Berghaus-Straße, Ecke Mühlenstraße. Er sei etwa fünfundfünfzig Jahre alt, meinte Antje. Was Herr Cornelius heute, achtundzwanzig Jahre nach seiner Kündigung, beruflich machte, wusste sie nicht. Gestern auf dem Nachhauseweg bot Antje mir ihr Fahrrad an und für größere Entfernungen sogar ihren Fiat 500, der auf einem Großparkplatz an der Hafenstraße parkte. Sie machte mich allerdings darauf aufmerksam, dass der Fiat in den vergangenen Jahren keinen Zentimeter gewachsen war. Ich bedankte mich für das Angebot und steckte die Ersatzschlüssel beider Fahrzeuge in meine Jackentasche.
Es war ein schöner Tag zum Spazierengehen, ich steckte meine Fäuste in die Taschen und stapfte los. Die Luft war frisch, aber nicht frostig. Ich sah dem Winter nie mit Unwohlsein entgegen, im Gegensatz zu vielen anderen, die die Tage zählten, bis sie wieder länger wurden. Der klare Morgen heute zeigte, wie schön Winter sein kann. Kalte und kürzere Tage drosseln zwar das Tempo, gleichwohl bieten sie Kontemplation und Ruhe. Diese Zeit des Vormittags, zwischen acht und zehn, mag ich, besonders bei mir zu Hause in der Hafencity und der Speicherstadt. Die meisten Berufstätigen sind dann an ihrem Arbeitsplatz, und doch ist es verhältnismäßig still dort. Vereinzelt sind die Fleißigen unterwegs, ohne zu übertreiben – weder in die eine noch in die andere Richtung. Und dann, zwei Kilometer weiter, an der Binnenalster, findet man Rentner, Obdachlose und andere Zeitgenossen, die die Muße haben, stehen zu bleiben, über das ruhige Wasser zu schauen, hineinzuspucken und zu sagen: „Was glaubste, wird’s heute noch was von oben geben?“ Und da findet sich immer jemand, der die richtige Antwort parat hat. Aber hier auf der Insel kann es sein, dass niemand die Antwort kennt und das Meer zurückspuckt.
Nach ungefähr zwanzig Minuten erreichte ich die Wohnsiedlung zwischen Friedhof und Arbeitsagentur. Sie lag in einem gesunden Abstand zum Stadtkern, abseits der Touristenströme. Kaum jemand war auf den verschneiten Straßen unterwegs. Es schien, als wollten die Menschen in den dunkelroten, ehemaligen Luftwaffenhäusern in Ruhe gelassen werden. Zwischen den massiven Backsteinhäusern standen vereinzelt Sträucher und Bäume herum wie Wächter. Ich erinnerte mich daran, wie es hier vor etwa achtunddreißig Jahren aussah, als ich mit meinen Eltern auf der Insel war. Die Straßen waren mit Ziegelsteinen gepflastert, heute lag unter dem Schneematsch Asphalt. Mit unbekümmertem Blick spazierte ich zum Hauseingang und drückte den richtigen Knopf für die Türglocke. Ich warf einen Blick durch matte Scheiben im Eingangsbereich, sie waren einbruchsicher wie Papiertüten.
Links im erhöhten Erdgeschoss öffnete sich ein Fenster, der Kopf eines Mannes kam zum Vorschein. „He! Was is’n?“
„He! Bitte entschuldigen Sie, ich suche Bonno Cornelius“, sagte ich.
Der Mann sah müde aus, etwas zu müde für einen Mittfünfziger. Er hatte tiefe, graue Ringe unter den Augen und einen verhärteten Mund. Mit rostiger Stimme sagte er: „Dat bün ick!“
„Haben Sie vielleicht ein paar Minuten? Ich recherchiere wegen einer alten Sache, die sich vor vielen Jahren im St.-Ludgerus-Hospital abgespielt hat.“
„Wa? Und dann komm’ Se hierher? Warum interessier’n Se sich denn ...“ Bonno Cornelius stockte, machte dicke Backen. Auf einmal schaute er eine Spur interessierter, Bewegung kam in ihn. „Ach, einen Moment mal. Ich komm eben an die Tür. Der Summer ist nämlich kaputt.“ Eine halbe Minute später kamen kurze, schlurfende Schritte die zwei Stufen herunter, und die Tür öffnete sich einen Spalt. Graublaue Augen in einem länglichen, melancholischen Gesicht mit Leberflecken musterten mich von oben bis unten.
„Wer sind Se denn?“ Seine Stimme klang auf einmal, als wäre sie gerade geölt worden.
Ich bot ihm das wenige an, das ich bis jetzt hatte, verpackte es aber so, dass die Tür sich noch weiter öffnete. „Mein Name ist Frank Gerdes. Ich recherchiere Verdachtsfälle von vertauschten Babys in Kliniken. Sie haben vielleicht davon gehört?“
Sein Interesse war auf Anhieb geweckt, er zog die Tür weiter auf. Die Skepsis wich, dafür wurde sein
Gesicht um eine Nuance nachdenklicher. Er sagte: „Jaja, davon habe ich ... gehört.“ Ich betrachtete ihn genauer, er stand ein wenig nach vorn gebeugt, als trage er die Last der Welt auf den Schultern. Sein Gesicht hatte tatsächlich etwas Friesisches, das eher melancholisch als heiter, eher verschlossen als ausgelassen wirkte. Es war weder das Gesicht eines harten Burschen noch das Gesicht eines Mannes, den man triezen konnte. Er hatte buschige, helle Brauen, darunter ausgeprägte Knochen, eine mehr hohe als breite Stirn, einen lichten, angegrauten Wuschelkopf, breite Nase, schmaler Mund, das Kinn lief spitz zu. Und es war das Gesicht eines Mannes, der Wertschätzung witterte. Doch plötzlich veränderte sich sein Ausdruck, er blickte unsicher. „Wie komm’ Se denn grade auf mich?“
„Ich sprach mit jemandem, der beruflich mit dem St.-Ludgerus-Hospital zu tun hat. Man sagt über Sie, dass Ihnen damals übel mitgespielt wurde, nachdem Sie einen Skandal aufgedeckt hatten. Ist diese Information richtig?“
Sein Unterkiefer klappte nach unten und ermöglichte Durchzug. Auch seine Zähne zeigten Leberflecken. Ein schwaches, wissendes Lächeln kräuselte seine Lippen, als ich hinzufügte, wie mutig ich sein couragiertes Verhalten fand. Er grinste schief. Nach zwei, drei Sekunden formten sich seine Lider zu Schlitzen, das Grinsen fiel von seinem Gesicht wie ein luftgetrockneter Wischlappen. Und ich ahnte, dass ich mir den Gesprächsbeginn zu einfach vorgestellt hatte. Er schluckte, sagte kleinlaut: „Na ja, so richtig aufgedeckt ...“
Noch ein wenig Stimulation und er würde gesprächsbereit sein. Ich gab Gas: „Man könnte meinen, in der Öffentlichkeit fand Ihr mutiges Verhalten viel zu wenig Anerkennung.“
Seine Nasenflügel vibrierten wie die Nüstern eines Jagdhundes. Er murmelte: „Ja, ja, da ist natürlich was dran.“ Sein schiefes Grinsen kam wieder zum Vorschein.
Ich legte noch eine Schippe obendrauf. „Herr Cornelius, wären Sie bereit für ein Interview, um diesen fast in Vergessenheit geratenen Skandal ein für alle Mal aufzuklären und um auf diese Weise der Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen? Vielleicht folgt darauf ja die ein oder andere Einladung zu einem TV-Auftritt, wer weiß.“ Während er das Leckerli verdaute, studierte ich sein Gesicht, aber es sagte mir nichts Konkretes.
Er streckte seine Hand aus, rieb mit dem Daumen gegen Mittel- und Zeigefinger und sagte: „Sie meinen, da springt was für mich dabei heraus?“
Ich blieb unverbindlich. „Das kommt auf die Verträge an. Wir sollten aber erst einen Schritt nach dem anderen machen.“
Angestrengt hob er die Augenbrauen als Ausdruck schweren Nachdenkens. Dann legte er die Stirn in Falten, und als sie sich glättete, war sie voll weißer Linien, die rötlich anliefen. „Soso, ein Schreiberling also.“ Nach einer kleinen Pause fügte er mit milder Stimme hinzu: „Na, da komm’ Se mal rein.“ Er wendete und schlurfte die Stufen hoch. „Warum komm’ Se denn erst jetzt, nach so langer Zeit?“, murmelte er vor sich hin, ich folgte ihm schweigend und blickte mich dabei um. Die Briefkästen erzählten, dass in diesem zweistöckigen Altbau ungefähr genauso viele Menschen wohnten wie in einem mittleren Hochhaus, oder es wurden immer neue Briefkästen montiert, wenn die alten überquollen. Es ging zwei Stufen hinauf, anschließend links in die Wohnung. Ich folgte Cornelius durch einen schmalen Flur in eine geräumige Wohnküche. Es war stickig, die Heizung lief auf Hochtouren, Temperatur auf Saunaniveau. Ich öffnete meine Jacke, um nicht ersticken zu müssen. Es war ein Wohnraum, in dem es sich gut leben ließ, solange man nicht übertrieb.
Das Interieur war in die Jahre gekommen. Hätte man die Wohnung Anfang der Achtzigerjahre betreten, wäre einem nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Es gab jede Menge Platz für Bücher, gestapelt in hohen Regalen. Die Buchrücken wirkten alt und verschlissen, als habe Cornelius Bücher gesammelt, um sie wirklich zu lesen, oder er hatte sie aus der Inselbücherei geliehen und nie zurückgebracht. Sie waren wild übereinandergestapelt, ohne System, jederzeit einsturzgefährdet, sobald jemand an das Regal stieß. „Reader’s Digest“-Kunstlederrücken, zerfledderte Leinenbände, vergilbte Romane, Magazine, Zeitungen, Gesundheitsbücher aus der Zeit vor der Hochkonjunktur der Nahrungsmittelunverträglichkeit. Sie machten die Luft so trocken, dass ich Zellulose hüstelte, vielleicht war es aber auch das Nikotin in der Luft. Auf dem Küchentisch lag eine Zigarette im Ascher, die damit beschäftigt war, sich selbst zu rauchen. Der Ascher war voll, die Tischplatte verhunzt, als habe sie eine Zeit lang als Aschenbecher herhalten müssen. Auch ein Smartphone lag darauf. Über der Lehne eines der vier Stühle hing ein rot-weiß kariertes Tuch. Unterm Tisch ein dicker, schmuddeliger Teppich, in dem sich ein Murmeltier eine Woche lang hätte verkriechen können, ohne dass seine Nase zum Vorschein gekommen wäre. Nahrung inklusive. In der linken Ecke stand ein schmaler Schreibtisch, der auf kosmetische Art aufgeräumt war, womöglich um unerwartete Besucher wie mich zufriedenzustellen. Neben dem Fenster ein kleines, abgewetztes Sofa. In der anderen Ecke eine hohe Pflanze mit hängenden Blättern auf einem dunklen Holzgestell. Die wenigen robusten Pflanzen auf der Fensterbank wären vermutlich in der Lage, eine Atomkatastrophe zu überstehen. Daneben eine alte, vergilbte Zeitung, vermutlich ein Keil für den unwahrscheinlichen Fall, dass das Fenster geöffnet wurde. An der Decke eine Lampe mit mehreren niedlichen Schirmchen aus vergilbtem Stoff oder Lederhaut. An der Wand keine Bilder, nur eine Küchenuhr von Oma, darunter eine Küchenzeile, Spüle mit einem Abwasch von Tagen, Herd, Ofen, Kühlschrank.
Bonno Cornelius setzte sich, ohne mir einen Stuhl anzubieten. Ich zog einen zurück und setzte mich, dabei nahm ich Kuli und Notizblock aus der Jackentasche und legte beides auf den Tisch. Von hier aus hatte ich freie Sicht aufs Nachbarhaus. Cornelius fragte, ob ich Kaffee wollte, ich wollte. Er stellte Becher auf den Tisch, dazu Milch, Zucker, Teelöffel. Er schenkte ein, danach setzte er sich wieder. Seine Körperhaltung blieb auch im Sitzen unverändert. Nach vorn gebeugt, wie jemand, auf dem Traurigkeit oder Schuld lastete. Er zog Tabak und Zigarettenpapier aus seiner Hemdtasche und begann umständlich, zwei oder drei Zigaretten zu drehen. Seine Fingerkuppen waren nikotingelb. Er bewegte seinen Kopf nach links, im Nacken knackte es, jetzt war die andere Seite dran, es knackte wieder. Ich sah nach rechts, nichts knackte, aber rechts von der Küchenzeile war eine zweite Tür mit Milchglasscheibe, sie war mir bisher nicht aufgefallen. Im Zimmer nebenan sah ich still einen Schatten hin- und herhuschen.
Im Notizblock schlug ich eine leere Seite auf, drückte auf den Schreiber, schrieb etwas Sinnvolles und zog einen kurzen Strich darunter. Ich nahm einen Schluck schwarzen Kaffees und sagte etwas zu formell: „Herr Cornelius, danke, dass Sie sich für dieses Gespräch bereit erklärt haben. Wir können es so machen, dass ich Ihnen ein paar Fragen stelle, es sei denn, Sie möchten frei erzählen.“ Ich ließ den Satz auf ihn wirken. Bonno Cornelius grinste wieder, er entzündete seinen Glimmstängel, schaufelte drei Löffel Zucker in den Kaffee und nickte knapp. Ich fuhr fort. „Beginnen möchte ich mit Ihrem Werdegang, wenn Sie nichts dagegen haben.“ Er hatte nichts dagegen. „Welche Tätigkeit übten Sie Anfang der Neunzigerjahre im St.-Ludgerus-Hospital aus?“
Er sog tief den Rauch seiner Zigarette ein, der kam nicht wieder heraus – Stoffwechsel vom Feinsten. Nach einer Viertelgedenkminute sagte er: „Ich war 1984 mit der Ausbildung zum Krankenpfleger fertig, da war ich zwanzig Jahre alt. Im April 90 ... ja, genau, da war ich auf der Säuglingsstation.“
„Einen Moment bitte“, unterbrach ich ihn. „Sie waren als Krankenpfleger auf der Säuglingsstation tätig? Ist dafür nicht eine Ausbildung zum Kinderkrankenpfleger erforderlich?“
Er sah mich an, offen und doch ausdruckslos. „Ich weiß ja nich, wie andere Krankenhäuser das machen, bei uns war das pure Not.“ Er drehte eine Handfläche nach oben. „Keine Leute“, sagte er und ergänzte: „Es war ja viel los damals. Ich war nur für ein paar Monate auf der Station, um auszuhelfen. Und die kleinen Bälger schnauzen einen nich so blöd an wie die großen. War eigentlich ganz putzig da, bis mir was auffiel.“ Bonno Cornelius legte sein Lungenbrötchen auf die Kante des Aschenbechers und zog wechselseitig an seinen Händen, dass es in den Gelenken knackte, gleich darauf nahm er die Zigarette wieder zwischen seine Finger.
Ich machte mir Notizen, wie ein Journalist sie machen würde, ein wenig ausführlicher vielleicht. Als Nächstes die Frage: „Und, wie war das? Was war Ihnen damals konkret aufgefallen?“
Seine linke Hand krampfte sich um das Feuerzeug, die Finger waren angespannt und die Knöchel zeigten sich als helle Dünen. Während er erzählte, starrte er trüb vor sich hin: „Ach, das war eher zufällig. Die kleinen Würmer hatten ja immer so Plastikbändchen um ihre Ärmchen, mit den Namen drauf und so. Na, und die hatte ich mir mit der Zeit eingeprägt, is klar. Und immer wenn ich so einen Wurm aus dem Bett genommen hatte, begrüßte ich ihn mit seinem Namen.“
Ich nickte. Seine Geschichte machte den Eindruck, als wäre sie ein Kopfnicken wert.
Er nahm einen Zug und fuhr fort: „Aber irgendwann las ich zufällig wieder, was auf dem Bändchen stand, und das passte nich zum Balg! Wissen Se, jedes Baby hat unverwechselbare Merkmale. Haare, Augen, Ohren und das ganze Zeug, alles etwas anders, und das prägt sich mit der Zeit ein.“ Er sprach aufgeregter weiter: „Und ich hab’s nich kapiert, ich bin nich dahintergekommen, aber aus irgendeinem Grund waren Armbänder vertauscht. Also, ich meine, mit Absicht! Auf einmal standen da ganz andere Namen. Da lief ganz gehörig was schief.“ Cornelius hatte
seine Zigarette aufgeraucht. Er begann, an jedem einzelnen seiner Finger zu ziehen, bis es knackte. Leute machen solche Sachen, die auffallen, um beachtet zu werden.
Ich hoffte, dass meine Gelenke uninteressant für ihn waren, und kam zur nächsten Frage: „Wer war damals der verantwortliche Chefarzt?“
Er steckte sich die nächste Zigarette an, der Rauch trieb in Serpentinen um uns herum und blieb unter
der Decke hängen. Er antwortete nicht direkt, sondern sah auf den Tisch, er wirkte plötzlich müde. Dann strich er sich energisch mit der Hand über die Stirn. „Ach,
das ... weiß ich gar nich mehr.“ Sein Blick stieg wieder herauf, an mir vorbei, und weiter durch den Raum. Cornelius erinnerte mich an einen kleinen Jungen, der sich um eine Antwort drückt.
Aber ich ließ nicht locker. „Und wenn Sie versuchen, sich zu erinnern?“
„Was denn noch alles? Ist das denn so wichtig?“, flog es aus ihm heraus.
Ich verstand seine plötzliche Gereiztheit nicht, behielt meine Stimme aber in einer geduldigen Tonlage, wie um zu unterstreichen, dass ich mich nicht provozieren ließ. Ich schlug ihm den einzigen Namen vor, der mir in diesem Zusammenhang bekannt war: „Könnte das Doktor Jacobs gewesen sein?“
Cornelius zuckte unmerklich, als ich den Namen erwähnte, er druckste herum. „Das könnte ... sein“, antwortete er, und nach einem Zug schob er nach: „Dem können Sie aber nich ans Leder. Am besten, Sie lassen den Doktor da fein raus.“ Er machte eine Seitwärtsbewegung mit der Hand und er grinste schon wieder, ziemlich oft seit ich hier war. Vielleicht war der Tagesvorrat bald erschöpft.
Ich runzelte die Stirn und versuchte auszusehen, als würde ich nachdenken, was ich auch tat, aber für gewöhnlich ohne Stirnrunzeln. Ich fragte: „Wie verhielt sich die Klinikleitung Ihnen gegenüber, als Sie Ihren Verdacht äußerten?“
Er zog wieder an der Fluppe. Die Glut fraß sie so schnell auf, dass man dabei zusehen konnte. Er steckte sich wieder eine an. Etwas von dem Rauch staute sich wohl hinter seinen Augen, denn sie wurden trüb. Er biss sich auf die Lippen, zuckte mit den Schultern und schüttelte stumm den Kopf, bedächtig, aber mit Nachdruck. Das Schweigen senkte sich über uns wie ein Sack Federn. Endlich sagte er: „Die hatten mich ermahnt, ich sollte das auf keinen Fall öffentlich machen, von wegen Schaden von der Klinik abwenden und so. Die Einzelheiten weiß ich nich mehr, ist ja auch schon ein paar Jährchen her.“ Mit dem Ausdruck eines Mannes, dem Einzelheiten nach so langer Zeit nicht wichtig sind, starrte er aus dem Fenster.
„Und, haben Sie sich daran gehalten?“, fragte ich.
„Selbstverständlich“, sagte er mit milder Süffisanz. Vielleicht war ihm nicht klar, dass er soeben dabei war, die ihm auferlegte Verschwiegenheitspflicht aufzuweichen. Ich wandte meinen Blick kurz nach rechts. Hinter der Milchglasscheibe war wieder eine Bewegung auszumachen.
Weiter fragte ich: „Und, haben Sie mit den Eltern der vertauschten Babys sprechen können? Ich frage das wegen etwaiger Zeugen.“
Er strich sich mit seiner sehnigen Hand übers Gesicht und sagte: „Das war mir auch untersagt worden.“
„Und auch das war kein Problem für Sie?“
„Klar. Was sollte ich machen? Meinen Se, ich leg mich mit deren Anwälten an?“
Ich war irritiert. „Ihnen wurde also gekündigt, obwohl Sie sich an die Auflagen gehalten haben?“
„Wer sagt denn so was?“, fragte er in einem herablassenden Tonfall. „Ich bin freiwillig gegangen, hatte keinen Bock mehr auf den Saftladen!“
Irgendetwas stimmte nicht. Entweder tischte mir Cornelius ein Märchen auf oder die Gerüchteküche hatte die falschen Ingredienzien auf dem Zettel. Ich ließ den Blick auf meine Notizen sinken und malte ein Strichmännchen in Luxusausführung hinein, sodass Cornelius es nicht sehen konnte. Vermutlich hatten wir beide uns gewünscht, dass das Gespräch anders verlief. Ich wollte mehr über Dr. Jacobs und sein Verhältnis zu Bonno Cornelius in Erfahrung bringen, während es Cornelius ins Rampenlicht zog, ohne seinen ehemaligen Arbeitgeber zu denunzieren. Und noch
etwas: Bonno Cornelius hatte bis jetzt mit keinem Wort erwähnt, dass Dr. Jacobs vor wenigen Wochen getötet worden war. Das musste nicht zwangsläufig etwas bedeuten, aber ich sollte das im Hinterkopf behalten.
Die Aktivitäten hinter der Milchglastür fingen an, mich zu nerven. Auf einmal verschwand der Schatten und ich hörte eine Tür zuklappen. Unmittelbar darauf sah ich durchs Fenster einen Mann zum Nachbarhaus laufen. Er trug einen grauen Hoodie, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, und über der Schulter eine hellblaue Sporttasche mit dem Aufdruck Pan Am. Die Ahnung, die sich meiner bemächtigte, war ebenso verschwommen wie das Flimmern der Luft über dem Heizkörper. Mir schwindelte, ich ließ mir aber nichts anmerken. Bonno Cornelius griff nach dem Handy und hielt darin Ausschau, vielleicht nach Mitteilungen, die er erwartete.
Ich probierte einen weiteren Anlauf: „Wie hat sich Doktor Jacobs Ihnen gegenüber verhalten, nachdem Sie Ihren Verdacht geäußert hatten?“
Er legte das Handy beiseite, richtete sich gewichtig auf und sagte: „Der wollte mir was einreden, aber damit hatte er auf Kies gefurzt.“
„Was meinen Sie?“
Sein Mund bekam einen grimmigen Winkel. „Na, der meinte doch, dass ich mich getäuscht hätte. Der wollte mir einreden, dass ich nich ganz fit bin in der Birne. Er hat mir sogar angedroht, mich für unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Aber nich mit mir!“ Cornelius schaute durch mich hindurch, als sei ich nicht da. Auf einmal fixierte er mich wieder. „Shit, Mann! Ich weiß doch, was ich gesehen hab!“
„Und wie gingen Sie weiter miteinander um?“
„Wieso? Keine Ahnung“, sagte er verunsichert. „Wir gingen uns aus dem Weg, und ein paar Wochen später war ich sowieso weg.“
Ich stellte die Frage, die mich unerwartet auf die richtige Spur brachte: „Haben Sie für Ihr Schweigen Geld bekommen?“
Er grinste nicht mehr, wurde einsilbig. „Wä?“
Ich räusperte mich, sah ihn nur an, aber das machte keinen besonderen Eindruck, anders als in Filmen.
Er zögerte, sagte gedehnt: „Schweigegeld? So richtiges ... Bestechungsgeld? Und wovon träumen Se nachts?“ Er verzog den Mund zu einem schiefen, verwinkelten Lächeln und schüttelte den Kopf. Dabei drückte er die Fluppe aus und senkte die Stimme. „Hören Se. Wie hoch die Abfindung war, das geht Se nun wirklich nichts an.“ Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Aber das hatte nun wirklich nichts mit den vertauschten Babys zu tun. Das könn’ Se mir glauben! Denn ich bleib bei dem, was ich gesehn hab.“
Mir gefielen die Antworten nicht, sie waren allzu schwammig. Ich hatte das Gefühl, über feuchte, schlüpfrige Salzwiesen zu wandern. Im Nachbarhaus gegenüber erschien eine junge Frau am Fenster, sie nahm eine Babyflasche aus dem Wärmer, prüfte die Temperatur an ihrer Wange und bewegte sich wieder aus dem Blickfeld. Cornelius schaute erneut aufs Mobiltelefon, er wirkte zunehmend nervös.
Ich setzte zu einer weiteren Frage an, behielt aber jede Anspielung auf Dr. Jacobs’ Tod für mich. „Und wie ist das, wenn Sie und Doktor Jacobs sich im Alltag begegnen? Sie müssen sich doch hin und wieder zufällig über den Weg laufen. Wie verhält er sich Ihnen gegenüber?“
Cornelius sah mich spöttisch an, seine Wangen zuckten. Er begann mit den Armen zu gestikulieren. „Was wollen Se mir denn da unterstellen? Da kennen Se uns Norderneyer aber nich! Da ist schon lange Gras drüber gewachsen. Es gibt keine bösen Blicke, oder was wollen Se da andeuten? Wir sind hier nich so nachtragend wie auf dem Festland, sonst würde unser ganzes System kippen. Hier können wir uns aufeinander verlassen, weil wir auf jeden Einzelnen angewiesen sind.“ Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. „Das war hier immer schon so. Frei nach Lessing: Sie mögen sich die Köpfe spalten, auf Norderney, da bleibt’s beim Alten.“ Cornelius hatte nicht nur Goethes „Faust“ gelesen, er konnte auch interpretieren. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er damit ablenken wollte. Sein Mund lächelte, aber es wirkte zunehmend aufgesetzt. Irgendwo war bei mir der Schimmer des Zweifels. Bevor ich zur nächsten Frage kam, klingelte sein Smartphone. Cornelius nahm das Handy in die Hand und schaute aufs Display. „Ein’ Moment eb’n“, sagte er. Ich nickte. Er erhob sich, drückte auf „Annehmen“ und verschwand durch die Milchglastür ins Nebenzimmer. Just in dem Moment, als er die Tür öffnete, sah ich auf dem Fußboden zwei helle Sporttaschen mit Pan-Am-Aufdruck stehen. Es gab nun keinen Zweifel mehr. Ich blickte vor mich hin. Wohin war ich geraten? Ein Keil Sonnenlicht rutschte über die Tischkante und fiel lautlos aufs Laminat. Nach ein bis zwei Minuten kam Cornelius zurück. In seinen Augen war ein schwaches Leuchten, ein Schimmern wie weit hinten in einem schmutzigen Korridor. Er setzte sich, schaute zum Fenster hinaus, langsam drehte er seinen Kopf zur Decke, als müsse er nachdenken, dabei verharrte er kurz. Dann kletterte sein Blick von der Decke herab und hängte sich in meinen. Er atmete schwer durch die Nase, nur zögernd kam die Frage: „Sie sind ... gar kein Schreiberling?“ Dabei kniff er ein Auge zu, mit dem anderen starrte er mich an.
Ich setzte kurz mit dem Atmen aus. Mit dieser Frage hätte ich rechnen müssen, nur nicht so bald. Und ich hatte mir Antworten zurechtgelegt, die in verschiedene Richtungen gingen, falls die erste wirkungslos sein würde – nur, sie waren in diesem Moment alle verschwunden. Ich zog es vor, bei der Wahrheit zu bleiben, ich nickte widerstrebend. „Das ist richtig“, sagte ich überrumpelt. „Das habe ich auch nicht behauptet.“
Cornelius hatte so etwas wie eine Eingebung, er zog die Augenbrauen hoch und legte den Kopf schräg, als wollte er Ach, ahnte ich es doch sagen. Er holte tief Luft und ließ sie fiepend wieder heraus, dann lehnte er sich zurück und fing an, sich den nächsten Nikotinlutscher zu drehen. „Ich rieche Polente“, sagte er, dabei sah er mich an, als sei ich zu weit gegangen.
Ich hob kurz die Schultern. „Ich bin keine.“
Pause.
Er ließ die Zigarette aufglimmen, lachte trocken auf und fragte: „Ist das eine Antwort, Sportsfreund? Was bist du dann?“ Dabei streckte er die andere Hand nach dem Festnetztelefon aus, um mir zu zeigen, dass er irgendwen anrufen würde – vielleicht die Polizei. Er nahm sogar den Hörer ab, aber er rief die Polizei nicht an. Ich wusste, dass er sie nicht anrufen würde, und er wusste, dass ich es wusste. Das machte das Ganze sinnlos.
Ich hob die flache Hand und sagte: „Nun mal langsam! Der Teil mit den Ermittlungen stimmt. Ich bin privater Ermittler.“ Mehr brauchte er nicht zu wissen, aber das Interview war damit wohl hinfällig. „Für weitere Fragen und Antworten stehen Sie jetzt wohl nicht mehr zur Verfügung?“
„Wozu?“ Mit einer Geste, die seine ganze Verärgerung ausdrückte, tippte er die Asche von seiner Zigarette. „Es gibt nichts mehr zu sagen.“ Sein Gesicht wurde zu einem steinernen Monument des Schweigens. Er biss die Zähne so sehr zusammen, dass es knackte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mich loswerden wollte, darum schaute ich demonstrativ auf die Uhr und schickte mich an, zu gehen, als ihm plötzlich bewusst wurde, was ihm entgangen war. Mit unvermittelter Gereiztheit schnauzte er: „Sie blähen sich ziemlich auf mit Ihrer Schnüffelei, Mr. Privatnase. Also, kein Artikel und kein Fernsehauftritt?“ Er hatte kapiert. Man konnte direkt zuschauen, wie Seifenblasen vor seinem Gesicht zerplatzten. Von mir kam nichts mehr, ich ging hinaus, und er knallte die Wohnungstür hinter mir zu, obwohl ich sie auch gerade leise geschlossen hatte. Draußen vor der Tür saugte ich alles ein, was es an frischer Luft gab, und kam ins Grübeln. Was hatte es mit diesen Pan-Am-Taschen auf sich? Drogen? Es waren die gleichen Modelle, die gestern am Strand von der Polizei eingesammelt worden waren. Ich ging weiter, wechselte zum Frischemarkt auf die andere Straßenseite.
Der Schnee war fast weggetaut, Nebel zog auf, aber nicht viel. Auf dem Platz vor dem Einkaufsmarkt stand ein Fischwagen, ich verspürte Appetit auf ein Fischbrötchen, kaufte es, blieb am Wagen stehen und aß es an Ort und Stelle. Wenige Minuten später säuselte ein Tesla heran, stoppte vor jenem Haus, aus dem ich gerade gekommen war. Der Fahrer kletterte aus dem Fahrzeug und ging zum Eingang. Ich schätzte ihn auf etwa fünfzig. Er war groß, schlank, trug einen hellbraunen Wintermantel, blonde, mittellange, an den Seiten glatt gegelte Haare, am linken Ohr baumelte einer dieser prägnanten Norderney-Ohrringe, wenn ich das von hier aus richtig sah, gold und glänzend. Auf seiner Nase saß eine relativ große Sonnenbrille mit Sundowneffekt.
Ich ließ das Kauen, legte das Brötchen auf die Theke, fingerte mein Smartphone aus der Jackentasche und fotografierte, was ich sah. Dasselbe noch mal mit Zoom, leider undeutlicher. Die Haustür mit den Papierfenstern wurde geöffnet, Cornelius stand im Eingang, mit Tabakbäumchen im Gesicht. Der rückte wortlos einen beigefarbenen Aktenordner mit einem grün-braunen Logo heraus. Der Tesla-Pilot nahm ihn in Empfang, im Gegenzug legte er Cornelius einen prall gefüllten Papierumschlag in die Hand. Ich machte ein paar Fotos von dem Tausch. Beide traten den Rückzug an, der Tesla beschleunigte, bog um die nächste Ecke und war weg.
Ich widmete mich wieder dem Brötchen und dachte an Cornelius’ Telefonat, mit dem der Tesla-Fahrer vermutlich seinen Besuch angekündigt hatte. Ich trank eine Coke und betrachtete die eben gemachten Fotos, als der Kerl mit dem grauen Hoodie aus dem Nachbarhaus zurückkam. Er ging quer über die mit Maulwurfshügeln übersäte Rasenfläche, kam direkt auf mich zu. Noch immer die Pan-Am-Sporttasche unterm Arm, überquerte er die Straße und bog unmittelbar vor dem Fischwagen auf den Gehweg, ohne Notiz von mir zu nehmen. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, die obere Hälfte lag tief unter der Kapuze verborgen. An der Bushalte blieb er stehen, die Hände in den Taschen vergraben, er bewegte sich kaum. Keine zwei Minuten später kam Bonno Cornelius aus dem Haus geschossen, er zog sich im Gehen eine Jacke über, verschwand aber in die entgegengesetzte Richtung. Ich musste mich entscheiden, wem ich folgen wollte, und meine Wahl fiel auf den Kapuzinermönch. Pünktlich zur Gebetsstunde um zwölf rollte der Tjaden-Bus an. Ich stellte die leere Coke-Flasche auf den Tresen und ging zur Bushalte. Die graue Eminenz stieg ein, ich sprang hinterher, unmittelbar bevor sich die Türen schlossen. Ich gab dem Fahrer das Geld bis zur Endstation, wo auch immer die sein mochte, und nahm im hinteren Teil des Busses Platz. Kapuzenpulli saß etwa in der Mitte rechts am Fenster. Der Bus war nur etwa zu einem Drittel besetzt. Die Fahrt ging über die Richthofenstraße Richtung Osten, vorbei am Wasserturm. Rechts gab es Kleingartenparzellen, einen Minigolfplatz und ein Gewerbegebiet. Wir passierten das Cumberland-Denkmal am Bahnhof Stelldichein, und ich fragte mich, wohin die Reise wohl gehen sollte. Ich aktivierte den GPS-Ortungsdienst auf meinem Smartphone, um die Fahrt in etwa nachvollziehen zu können. Bis zur Reitschule Junkmann war die Vegetation üppig, darauf folgte Tundra. Hin und wieder stoppte der Bus, Fahrgäste stiegen aus, kaum jemand stieg zu. Mein grauer Freund nahm selbst im Bus die Kapuze nicht ab. Die Fahrt ging den Karl-Rieger-Weg entlang, vorbei an der Zufahrt zum Flugplatz und dem Leuchtturm. Der Bus folgte der Straße bis zum Nordstrand, an dessen Ende sich der flache Holzbau eines Restaurants erstreckte. Auf dem Display beim Fahrer stand „Weisse Düne. Endstation“. Die restlichen fünf Fahrgäste stiegen aus, ich ebenfalls. Während vier den Weg zum Nordstrand wählten, wandte sich der Mönch nach Osten. Ich blieb stehen, tat, als wäre ich mit dem Smartphone beschäftigt. Der Bus vollzog eine Schleife und machte sich auf den Weg zurück in die Stadt. Ich blickte hoch. Die Wolkendecke war so dicht, dass die Sonne keine Chance mehr hatte. Über den mit Schneeflecken bedeckten Braundünen lag eine Dunstschicht wie ausgedehntes Gähnen in offener Landschaft. Von hier aus hörte man das Meer rauschen und in weiter Ferne, auf Südost, pulsierte das Signalfeuer des Leuchtturms durch leichten Nebel.
Der Pan-Am-Vertreter verschwand hinter einer Anhöhe. Ich steckte das Smartphone weg, zog die Cabanjacke zu und nahm die Verfolgung auf. Auf der Anhöhe sah ich den Mönch in einen Kiefernwald verschwinden, ich folgte und merkte bald, dass das kein Wald, sondern nur eine Ansammlung von Kiefern war, auf deren Rückseite die Hügellandschaft über Strecken seicht abfiel. In einiger Entfernung waren die Dächer zweier Häuser auszumachen, vielleicht war es aber auch ein Haus mit Garage. Aus einem Schornstein kam Rauch, gedämpfte Geräusche drangen herüber. Von hier war es unmöglich festzustellen, ob es das Brausen des Meeres oder das Knattern von Motoren war.
Ich achtete auf genügend Abstand, falls der Hoodie-Typ sich umdrehte. Das Brausen verstärkte sich, es kam von der See, die sich hinter den Dünen gegen den Wind stemmte. Nach etwa achthundert Metern endete der Pfad, er ging unvermittelt in einen sumpfigen Wiesenweg über. Das Blinkfeuer des Leuchtturms erreichte mich nicht mehr, die Senke war zu tief, links gaben sich öffnende Dünen den Blick aufs Meer frei. Über mir der Schrei einer Möwe, die knapp über meinen Kopf hinwegsegelte. Erschrocken fuhr ich zusammen. Rechts sturmerprobte Bäume, die der Nordsee ihre gekrümmten Rückenpartien zuwandten. Der Nebel nahm zu. Ich fürchtete schon, Kapuzenpulli aus den Augen zu verlieren. Es ging weiter bis zu einer Reihe knorriger Pfähle, dazwischen waren Drahtzüge gespannt. An einem Pfosten war der Hinweis PRIVAT angebracht. Ich trat bis an den Zaun heran, starrte dem Hoodie nach, der unbeirrt auf die Häuser zuging. Als privater Ermittler war ich in dieser Sache „privat“ unterwegs, also zwängte ich mich privat zwischen den Drähten durch, richtete mich privat wieder auf und setzte meinen privaten Weg fort.
Dumpfig hing Regen in der Luft, der aber nicht fallen wollte. Vor mir zeichneten sich die Konturen eines Backsteinhauses ab, davor ein salzverkrusteter, eingerissener Zaun. Ich stieg darüber und näherte mich in gebückter Haltung der Fassade mit Fenstern, an denen größtenteils die Rollläden heruntergelassen waren. Zahlreiche Schlitze waren erkennbar, und man konnte nie wissen, wer solche Aussichten dahinter genoss. Über mir prangte der Rest eines Firmenschildes mit abgeblätterter Farbe, vielleicht aus den Sechzigerjahren. Nur die Lettern ... NEWO ... waren übrig geblieben.
Ich achtete auf Geräusche, aber da waren keine. Selbst die Brandung war in diesem Dünental kaum noch auszumachen. Vorsichtig bewegte ich meinen Kopf seitwärts über den Mauerrand des Hauses, sah in einen ungepflasterten, unaufgeräumten Hof, mit frei stehender Doppelgarage, versetzt hinter dem Haus und einer Halle mit fleckiger Brandschutztür und Wellblechdach auf der rechten Seite. Zwischen Garagen und Halle war eine Ansammlung kleiner, knorriger, blattloser Bäume und Sträucher, von denen ein schmaler Pfad bis zur Halle führte. Zwei dunkelgrüne Landrover älteren Datums standen auf dem matschigen Hof, dazwischen Pfützen und Schneeflecken. Rechts zwischen Baumgruppe und Halle war ein breiter Schotterweg, der vom Hof wegführte.
Der Hof war wie ausgestorben, es gab keinen Mucks, keine Bewegung. Ich schlich zurück, wollte das Haus lieber auf der Westseite umrunden. Ich stieg über Gräser, durch dichtes Gestrüpp, Planken und anderen Schrott. Auch auf der anderen Seite war die Sicht durch die Fenster mit Rollläden versperrt. Unter meinen Füßen war es feucht und rutschig, beinahe wäre ich auf einer vergammelten Bohle ausgerutscht. An der hinteren Hausecke angelangt, stoppte ich. Die geschlossene Doppelgarage war nur wenige Meter von mir entfernt. Links war eine Holztür, sie stand einen Spalt offen. Ich sah mich um. Niemand da, der Eintritt kassierte, also spurtete ich auf die Tür zu. Unmittelbar davor bremste ich ab, presste mich flach an die Wand. Konzentriert horchte ich in den Spalt, auch hier alles still. Vorsichtig zog ich an der Tür, blickte in einen stockfinsteren Raum. Ich stolperte hinein und zog rasch die Tür hinter mir zu. Dunkelgrau in mehr als fünfzig Schattierungen. Als sich meine Augen daran gewöhnt hatten, bemerkte ich weiter links einen offenen Zugang in die eigentliche Garage. In kleinen Schritten bewegte ich mich durch den Vorraum, ein fahler Lichtschein fiel von den Rändern der großen Tore in die Garage, die mit unzähligen Dingen vollgestellt war. Ansonsten aufregend wie eine Leichenhalle am Sonntagabend. Plötzlich ein Scheppern und ein Schließgeräusch an einem der Tore. Ich sprang in den Verschlag zurück. Das rechte Tor wurde hochgezogen, herein kam ein Tier – ein Bär von Mann. Mit der Frisur einer Billardkugel und einem Gesicht, das, abgesehen von einer Kettensäge, wohl schon mit allem in Berührung gekommen war. Unter dem Kinn baumelte ein Zottelbart. Nackter Oberkörper, darüber schwarze Lederweste, schwarze Lederhose. Die Billardkugel zog an einer Plane, darunter kam ein schnittiges Motorboot auf einem Anhänger zum Vorschein. Der Bär griff nach einem Kanister, zog die Plane noch etwas weiter zurück, schraubte an etwas herum, füllte Benzin in einen Tank. Als das erledigt war, deckte er das Boot wieder ab, trat aus der Garage und schob das Tor zu. Ein paar Minuten hielt ich die Füße still, dann ging ich auf demselben Weg raus, wie ich hineingekommen war, umrundete die Garage auf deren Rückseite, um eine Begegnung mit der Lederweste zu vermeiden. Auf dem Gelände dahinter war ein dunkler Tümpel, umsäumt von Büschen, Rabatten und vertrocknetem Schilf. Weiter hinten eine Baumgruppe und im Wasser mehrere Pfosten, die schräg herausragten. An wenigen Stellen war das Ufer von einem Schneerand umgeben, unter dem das Wasser gluckerte. Ich drehte mich herum, sah von der anderen Seite in den Hof.
Regen fiel jetzt in kleinen Tröpfchen. Ich stand da, atmete Regen und sah zum Dach des Wohnhauses. Gelbliches Licht leuchtete aus einer Luke. Der Kapuzinermönch war mir entwischt, der hockte vermutlich jetzt da oben, zusammen mit mindestens einer weiteren Person. Unter diesen Umständen blieb mir nichts anderes übrig, als mich weiter umzusehen. Ich sah zur fleckigen Tür der mittelgroßen Halle, die jetzt links von mir stand. Zwischen Haus und Halle war der schlammige Hof mit den beiden Fahrzeugen. Nichts rührte sich. In geduckter Haltung pirschte ich zur Halle hinüber, überquerte dabei ein Stück geschotterten Wegs, patschte durch Pfützen und Matsch. Dünne Rinnsale waren an beiden Seiten der Halle, darin gurgelte Regen- und Schmelzwasser. Nah an der linken Wand kam ich zum Stehen, ich sondierte die Umgebung. Das Licht in der Dachluke war erloschen. Plötzlich flog die Haustür auf, drei Männer traten heraus. Ich duckte mich hinter einem Holzstapel. Es waren der Mönch, die Billardkugel und eine Gestalt, die mich auf den ersten Blick an den Weihnachtsmann erinnerte. Langer, hellgrauer Bart, ein Schnauzer wie eine schimmelige Zahnbürste, auf dem Kopf eine spitz zulaufende Mütze mit Norwegermuster, gekleidet in einen dunkelbraunen, gewachsten Mantel mit Schlagseite – Rute oder Schießeisen. Solche Typen kannte ich. Wenn sie Lust verspürten, konnten sie dir zum Spaß und ohne mit der Wimper zu zucken einen über den Schädel ziehen.
Endlich hatte der Mönch die Kapuze abgenommen. Sein Gesicht war breit, die dunklen Haare sehr kurz, fast abrasiert. Er blickte verschlagen mit winzigen Augen, und die Bartstoppeln überzogen seine weiße Gesichtshaut wie Schlagschatten eine Schneefläche. Alle drei redeten aufgeregt durcheinander, als wären sie aufgescheucht worden. Nikolaus bellte Kommandos, mit einer Aussprache, als habe er den Mund voller Bratkartoffeln. Billardkugel und Mönch öffneten die hinteren Klappen der beiden Landrover. Sinterklaas trat an die Fahrzeuge heran, blickte abschätzend hinein, den Kopf zur Seite geneigt wie ein Schaufensterdekorateur. Er vollzog eine Drehung um hundertachtzig Grad und trabte auf die Halle zu, die beiden anderen folgten. Ich blieb in geduckter Haltung, zog mich weiter zurück, dabei stieß mein Fuß gegen eine angelehnte Eisenstange, die seitwärts rutschte und aufschlug. Es war kein lautes Geräusch, eher wie ein dumpfer Hammerschlag in die Erde, aber ich ging auf Nummer sicher, verzog mich hinter die Halle. Ich verharrte dort mucksmäuschenstill, jederzeit zum Sprung bereit, wenn es sein musste. Die Pumpe schlug mir bis zum Hals. Ich atmete lautlos durch den Mund, der sich anfühlte wie im Schnellverfahren gereinigt.
Plötzlich eine Stimme, vermutlich die der Billardkugel: „Nee, is nix! Ich dachte ... na ja, keine Ahnung ...“ Es wurde still, ich wartete ab. Der Regen wurde heftiger, er schlug hart aufs Blechdach und mich verwandelte er in einen Schwamm. Ich lauschte. Mehrmals hörte ich die Hallentür zuschlagen. Irgendwann klappten Autotüren, die Landrover starteten und brausten über den breiten Zufahrtsweg davon. Vorsichtig kam ich aus dem Versteck. Der dunkle Platz zwischen Wohnhaus und Halle war leer wie ein verbranntes Kuchenblech. Die Gelegenheit war da, die Halle zu besichtigen. Ich wandte mich zur Tür und drückte die Klinke, die massive Tür war zu meiner Überraschung nicht verschlossen. Bevor ich eintrat, schaute ich mich nochmals um. Es konnte noch jemand im Haus sein, aber die Luft schien sauber. Ich schlüpfte rein, ein übler Geruch empfing mich. Es war fast dunkel, nur wenig Tageslicht gelangte durch hohe, schmale Fenster. Ich lauschte dem Regen, wie er auf das Dach schlug, sonst kein Laut. Keine Fahrzeuge, keine Stimmen, nur der trommelnde Regen. Ich nutzte die Taschenlampen-App meines Smartphones, um mich in der Halle zurechtzufinden. Sie war mittels halbhoher Leichtbauwände in verschieden große Boxen unterteilt. Es war vielleicht mal eine Halle für Baustoffe, heute ohne, dafür aber mit braunen Päckchen auf einer Palette mit Folie umwickelt, und daneben in einer Gitterboxpalette verschiedenfarbige Sporttaschen. Hinten in der Ecke standen drei blaue, brusthohe Plastiktonnen, abgedeckt mit schwarzen Deckeln. Ein handfestes Kokainlager, ein Großmarkt vielleicht oder ein kleines Verteilerzentrum. Ich trat an eine der Tonnen, öffnete sie. Wieder die gleichen Päckchen gestapelt bis zum Rand. Dann die zweite Tonne, wieder Kokain. Ich zog den Deckel von der dritten Tonne – bestialischer Gestank schlug mir entgegen. Angewidert ließ ich den Deckel fallen, hielt schützend meinen Arm vor Mund und Nase. Nach ein paar Sekunden Überwindung trat ich wieder näher, leuchtete hinein. Ich konnte nicht glauben, was mich da anstarrte. Es waren die toten Augen eines Menschen, es war ein asiatisches Gesicht, mit kurzen, schwarzen Haaren, männlich. Er trug einen schwarzen Strickpullover und eine blaue Arbeitshose, die Träger waren ihm von den Schultern gerutscht. Im Gesicht waren Spuren von Schmiere. Die Leiche war klatschnass und offensichtlich in die Tonne hineingepfercht worden. Ich atmete schwer und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Welche Überraschungen würden mich hier noch erwarten? Zufällig schaute ich durch das hohe Hallenfenster zum Wohnhaus. Das Licht in der Dachluke leuchtete wieder, es war noch jemand im Haus! Sofort löschte ich das Licht meines Smartphones und verstaute es in der Jackentasche. Unvermittelt heulten draußen Motoren auf, die Landrover waren zurück! Sie hielten direkt vor der Hallentür. Autotüren knallten, die Tür wurde aufgerissen: Bescherung! Nikolaus war zurück, mit ihm Knecht Ruprecht und der glatzköpfige Engel in Lack und Leder. Es gab aber kein Ständchen. Billardkugel schlug mit der Faust in die offene Hand, er brüllte: „Siehste, hab’ mich doch nicht geirrt! Überlass ihn mir ...!“ Nikolaus hielt ihn zurück, er griff in seine Mantelinnentasche.
Ich hatte keine Gelegenheit, mir weiter den Kopf zu zerbrechen, das hatte Nikolaus sich bereits vorgenommen. Die Rute hatte er dabei, und die sah wie ein Baseballschläger aus. Der flitzte hoch und donnerte mir auf den Schädel. Erst rieselte leise der Schnee, dann ruhte still der See ... der dunkle See.