Kapitel 9
Die Diagnose der Ärzte ließ sich in zwei Wörtern zusammenfassen: Glück gehabt. Mein Schädel war ganz geblieben, ich hatte eine Platzwunde, die lediglich einen Verbandswechsel erforderte. Zum Fädenziehen sollte ich nach einer Woche vorstellig werden, bis dahin verordneten sie mir Ruhe. Wenn nichts dazwischenkam, wäre ich in drei Tagen draußen. Ich rechnete mit weniger. Und wenn ich nun schon mal hier war, sollte mein Aufenthalt nicht ergebnislos sein, eine analoge Recherche bot sich an. Digital blieb mir der Weg ins Hospital versperrt. Bis auf die üblichen Informationsseiten im Internet gab es keinen digitalen
Zugang zu internen Daten – das wäre wohl auch unüblich. Patientendaten waren in den Achtziger- und Neunzigerjahren in real existierenden Akten erfasst worden, die man mit den Händen durchblättern konnte – ein Bewegungsablauf, der im Tablet-Zeitalter womöglich in Vergessenheit gerät. Die Frage, die mich beschäftigte, war, wo diese Akten aufbewahrt wurden. Ich stellte Antje diese Frage mittels Smartphone, sie antwortete umgehend und kündigte mir Sabine Bakkers Besuch am Krankenbett an – sie würde die Antwort kennen.
Die Tür öffnete sich, ein Pfleger und die Stationsschwester mit dem irren Blick kamen ins Zimmer. Zwecks OP wurde mein Bettnachbar Janto samt Bett herausgeschoben. Ich war allein, und mir fiel die Decke auf den Kopf. Also stand ich auf und ging zum Fenster. Draußen fiel der Schnee in dicken Flocken. Es klopfte, ich sagte: „Herein“, die Tür öffnete sich, Schwester Sabine Bakker war da. Sie erkundigte sich nach meinem Befinden. Ich gab ihr einen knappen Lagebericht und gestand ihr ein, dass es meine Leichtfertigkeit war, die mich ins Krankenhaus befördert hatte. Mit ihrem Auftrag hätte es nichts zu tun gehabt. Anschließend erzählte ich ihr von dem Gespräch mit dem ehemaligen Pfleger Bonno Cornelius. Frau Bakker war überrascht, dass ich von den alten Klinikgeschichten wusste, und ich gab preis, dass Antje mir davon erzählt hatte. Ich weihte Sabine Bakker in meinen Plan ein, alte Klinikunterlagen nach Anhaltspunkten zu durchforsten, um die Aussagen von Bonno Cornelius zu überprüfen. Meine konkrete Frage war, ob es ein hauseigenes Archiv gab. Sabine Bakker schien zunächst irritiert, gab aber bereitwillig Auskunft. Die Ablage war in einem separaten Bau auf dem Dach des Krankenhauses untergebracht. Sie fragte, ob die Verwaltungsleitung denn ihr Okay dazu gegeben hätte, was ich verneinte. „Ungewöhnliche Aufgaben erfordern ungewöhnliche Maßnahmen“, war meine Devise. Sie zeigte sich kooperativ, legte mir einen Zentralschlüssel in die Hand und empfahl, das Archiv besser nach Büroschluss aufzusuchen. Eine mündliche Wegbeschreibung zum Dachaufgang gab es als Bonus obendrauf. Ich dankte für ihr Vertrauen und versprach, gut auf den Schlüssel aufzupassen. Sie räumte aber ein, dass dieser eventuell nicht zum Türschloss des Archivraums passte.
Der darauffolgende Tag war ein Samstag. Aus den Büros würde mir niemand über den Weg laufen. Ich saß aufrecht in meinem Bett und überlegte, wie ich es anstellen sollte, unverdächtig durchs Haus und auf das Dach zu gelangen. Die Tarnung als Patient erschien mir die sinnvollste. Ich warf mir Antjes Bademantel über, stieg in die Schlappen und schlurfte aus dem Zimmer. Im Flur und im Treppenhaus begegneten mir die üblichen Verdächtigen, bestehend aus Pflegepersonal und herumlungernden Patienten. Im dritten Stockwerk wechselte ich in den Fahrstuhl. Dort wurde ich Ohrenzeuge eines Gesprächs zwischen einer Patientin und einer Pastoralreferentin mit teuflisch rotem Haar, für die sogar der Weihbischof eigenhändig einen separaten Zugang ins Offizialat geflext hätte. Die Patientin brachte ihre Besorgnis wegen der aktuellen Inselmorde zum Ausdruck. Mehr bekam ich nicht mit, weil ich den Fahrstuhl verließ. Weiter ging es gemäß Sabine Bakkers Beschreibung durch einen breiten Korridor mit Linoleumboden. Über die letzten Treppenstufen gelangte ich bis zu jener Tür, zu der ich hoffentlich den passenden Schlüssel hatte. Der passte. Ich schob die schwere Brandschutztür auf, frostiger Wind schlug mir entgegen. Der Schneefall hatte aufgehört, aber auf der
gesamten Fläche des Daches lag ein Teppich aus Schnee. Ein paar Sonnenstrahlen bahnten sich den Weg durch bleifarbene Wolken. Sie tauchten die Häuser, die sich im Westen aus dem Nebel erhoben, in silbriges Licht.
Ich schlug das Revers des Bademantels hoch und hielt mir den Kragen zu. Die Tür fiel krachend ins Schloss. In etwa zehn Metern Entfernung stand der kastenförmige Archivbau, der etwa so groß war wie vier zusammengewürfelte Container. Seltsam war der freie, ungeschützte Zugang bis dahin. An den Betonelementen auf dem Dach war erkennbar, dass hier wohl ursprünglich ein weiteres Stockwerk geplant gewesen war. Ich schlitterte die Meter über einen verschneiten Plattenweg bis zum Eingang. Ich drückte die Klinke, die Tür war wie erwartet verschlossen. Statt eines Zylinderschlosses war hier ein herkömmliches Bartschlüsselschloss. Mist! Mit
dem Schlüssel von Sabine Bakker kam ich hier nicht weiter. Ich vergrub die Hände in den Bademanteltaschen und sah nach einer anderen Möglichkeit, ins Archiv zu gelangen. Meine Finger spielten derweil in den Manteltaschen mit etwas, das ich nicht einordnen konnte, ich zog es raus. Antje sei Dank – es war eine große Haarklammer. Mit spitzen Fingern bog ich sie zurecht und versuchte mein Glück. Nach wenigen Sekunden guten Zuredens und Bearbeitens kitzelte ich das Schloss auf.
Vorsichtig zog ich an der Tür, schaute durch den Spalt in einen finsteren, miefigen Raum. Allein das matte Licht der Vormittagssonne, das durch den Spalt in den Raum fiel, ließ einzelne Umrisse erkennen. Links war ein Lichtschalter, den ich drückte. Leuchtstoffröhren flackerten auf. Ich schlüpfte hinein und zog die Tür hinter mir zu. Stille in dem fensterlosen Raum mit Gängen aus Linoleum, die wohl zu Willy Brandts Amtsantritt das letzte Mal gebohnert worden waren. Der rechte Bereich war sauberer und heller, was aber nicht heißt, dass er sauber und hell war, die Lichtröhre darüber hatte vermutlich mehr Watt. Kalt und feucht war die Luft, hier hauste der Geruch jahrelanger Routine. Rechts an der Wand ein Schreibtisch, klobig wie ein Altar, darüber die Monstranz der Registratur. Ich öffnete sie und zog ein paar Kästen mit Karteikarten heraus. Fein säuberlich und alphabetisch sortiert waren hier die Namen von Patienten und deren Behandlungszeiträume notiert und einsortiert worden, zudem Angaben, wo die Akten in der Ablage zu finden waren. Hinter mir die Patientenakten gestapelt auf Regalen, und auch ein paar Hängeordner, sortiert nach Jahren und Monaten. Wahllos zog ich einen heraus. EKG-Zickzacklinien, ärztliche und pflegerische Notizen, Krankenkassenabrechnungen, Ultraschallbilder. Ich legte sie zurück und ging durch die Reihen. Für jede einzelne Akteneinsicht wäre ein Gerichtsbeschluss vonnöten gewesen. Heute war ich – meiner Kleidung entsprechend – auf dem kleinen Dienstweg. Weiter hinten an der Wand gab es ein paar leere Regalfächer wie verwaiste Kammern eines Bienenstocks, die noch darauf warteten, gefüllt zu werden.
Nun ging ich es systematisch an, suchte nach jenen Akten, die in die Zeit von Bonno Cornelius reichten, unmittelbar bevor er die Klinik verließ. Das war Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre. Ich schlug Akten auf, blätterte darin herum, schloss sie wieder. Ein ums andere Mal las ich intime Details und Befindlichkeiten über Patienten, von denen viele schon nicht mehr am Leben waren. Mir fiel auf, dass die einzelnen Dokumente wie EKG, EEG, Röntgenbilder in jeder Akte stets in derselben Reihenfolge einsortiert waren. In wenigen Akten fehlten Abteilungen, die laut Inhaltsverzeichnis eigentlich vorhanden sein müssten. Ich nahm mir die Entbindungen vor. Davon gab es eine ganze Reihe. Es waren unverhältnismäßig viele Geburten für eine Inselklinik dieser Größe. Viele Schwangere kamen vom Festland auf die Insel, aus dem gesamten norddeutschen Raum. Und, wenn ich die Dokumentationen richtig deutete, waren sie nur zum Entbinden auf die Insel gekommen. Nachweise von Voruntersuchungen lagen nicht vor. Entweder waren sie nicht durchgeführt worden, oder man pfuschte bei der Anamnese. Was hatte das zu bedeuten? Der Akte Heymann widmete ich besondere Aufmerksamkeit. Heymann ... wo war mir dieser Name begegnet? Ich erinnerte mich. Antje erzählte mir von dem Pensionär Rolf Heymann, der die Norderneyer Kaufleute mit Paragrafen und Zollstock um ihren Geschäftsfrieden brachte. Hier in der Krankenakte ging es aber um Julia Heymann, geboren am 25. Mai 1973 auf Norderney. Sie entband im jungen Alter von siebzehn, am 5. April 1990. Über das Kind gab es keine Angaben, rein gar nichts. Vielleicht handelte es sich um eine Totgeburt, aber auch dieser traurige Umstand hätte irgendwo vermerkt sein müssen.
Ich entschied mich, die Akte Heymann mitzunehmen, steckte sie ins Revers des Bademantels, zog ihn straff und band den Gürtel fester. Alle anderen Akten kamen zurück an ihren Platz, das Licht schaltete ich aus, zog die Tür hinter mir zu. Mit eisigen Füßen in den Latschen stakste ich zurück über den Frostteppich zur Dachgeschosstür. Als ich am Knauf rüttelte, ließ sich die Tür nicht mehr öffnen. Ich nahm den Zentralschlüssel aus der Tasche und schob ihn hinein, der blockierte auf halbem Weg. Schlüssel noch einmal raus, dann wieder rein, die Prozedur ließ sich unendlich wiederholen, aber es änderte nichts daran, dass das Schloss eingefroren oder verdreckt war. Ich betrachtete es näher. Ein kleines, bewegliches Abdeckplättchen, das dem Schloss als Schutz dienen sollte, war abgebrochen. Hier war kein Weiterkommen. Ich ging auf Wanderschaft, streifte wie ein Eremit in mintgrüner Ordenskutte über die Weite des Daches, hielt Ausschau nach Alternativen oder einer winterlichen Fata Morgana in der Gestalt eines beheizten, auf mich wartenden Fahrstuhls. Nach Norden hin war das Meer zum Greifen nah. Möwen stiegen auf und ab, wie an einem zu groß geratenen Mobile. Gefrostete Dünengräser und Rabatten lugten aus frischen Schneeverwehungen, über Meer und Strand hingen Nebelbänke und unter den Dunststreifen rollten Schaumkronen lautlos über den Strand. Einige Unerschrockene spazierten am Meeressaum entlang, andere auf der Promenade, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen oder Wollmützen auf dem Kopf, umwickelt mit dicken Schals, die Kragen hochgeschlagen. Ein Passant hob den Kopf, zeigte mit langem Arm zum Krankenhaus. Ein paar Spaziergänger blieben stehen, sie blickten zu mir herauf. Ich stand unsicher an der Dachkante und wusste nicht, wie ich reagieren sollte.
Von unten kamen aufgeregte Stimmen: „Nicht!“
Was meinten die?!
„Nein, nein, nicht ...!“ Immer mehr Leute wedelten mit den Armen, sie liefen los, näherten sich dem St.-Ludgerus-Hospital. Sie riefen so etwas wie: „Tun Sie das nicht!“
Ah, ich kapierte. Als Antwort auf ihre besorgten Zurufe wedelte ich mit gekreuzten Armen, als hätte ich mein vermeintliches Vorhaben, vom Dach zu springen, aufgegeben – alles abgeblasen für heute. Die Leute ließen sich nicht davon abbringen, mich retten zu wollen. Der ein oder andere zückte sein Handy. Ich trat unverzüglich den Rückzug an, verschwand vom Rand und suchte nach einer Möglichkeit, schnell vom Dach hinunterzusteigen. Ich schaute auf der Westseite des Flachdachs nach und erspähte hinter einem Aufbau mit mehreren Schornsteinrohren eine Feuerleiter, die aber wegen eines Baugerüstes nicht bis zum Boden reichte. Sie war mittendrin gekappt worden, ungefähr in Höhe des dritten Stockwerks. Von dort würde ich, wohl oder übel, aufs Baugerüst springen müssen. Vorsichtig setzte ich einen Fuß auf die oberste Sprosse. Die Leiter wackelte, sie quietschte auch. Der zweite Fuß folgte unter größter Konzentration, um die Schlappen nicht zu verlieren. Die Verschraubung in der Wand hatte schon bessere Tage gesehen, sie war schwarz und rostig. Sprosse für Sprosse begann ich den Abstieg, an der hellen Fassade wirkte ich unscheinbar wie eine Blattwanze auf Sahnetorte. Von unten drangen Rufe herauf, die ich ignorierte. Von weit her trug der Wind den durchdringenden Klang sich nähernder Martinshörner zu mir herauf.
Nach einer gefühlten Ewigkeit war ich am unteren Ende der Leiter angelangt, das Baugerüst befand sich einen Meter von mir entfernt. Ich kratzte allen Mut zusammen, machte aus dem Stand einen Sprung und bekam das eiskalte Gerüst mit beiden Händen zu packen. Die Füße kamen nicht ganz mit, sie rutschten ab von dem gefrorenen Metall. Panik ergriff mich, meine Beine pendelten über dem Abgrund. Ich strampelte wild, die Badelatschen waren nicht mehr zu halten, sie segelten abwärts wie Schmetterlinge auf Dope. Mit aller Kraft zog ich mich hoch. Ein Bein erreichte das Gerüstbrett, mit der rechten Hand packte ich die nächsthöhere Stange und zog mich ein weiteres Stück empor, das andere Bein folgte. In meinem Kopf pochte es, die Wirkung der Schmerzmittel war verpufft. Nicht nur der Kopf dröhnte, sondern auch die Feuerwehrsirene, die unten im Hof angekommen war. Das Fahrzeug rangierte herum, Männer sprangen heraus, öffneten die Seitentüren. Ich fühlte mich wie ein Eisblock beim Extrem-Yoga, und beinahe wäre mir in dieser Position die Patientenakte aus dem Bademantel gerutscht. Unten entfaltete das Feuerwehrteam das Sprungtuch, ein Megafon quietschte.
„Behalten Sie Ruhe!“, tönte es von unten herauf. „Machen Sie nichts Unbedachtes! Wir werden Sie da heile herunterholen!“
Gewünscht hätte ich mir: „Frank möchte aus dem Kletterparadies abgeholt werden.“ Es half nichts, ich musste da selbst rauf. Endlich fanden meine Füße festen Halt, ich kam auf die Beine und gelangte über das Gerüst zu einer Reihe Fenster, von denen eins angelehnt war. Ich drückte es auf, stieg über die Fensterbank in ein Patientenzimmer mit vier älteren Damen, die halb laute, spitze Schreie ausstießen, sich gespielt empörten und dabei die Bettdecken bis zum Kinn hochzogen. Erst ein paar Anzüglichkeiten, dann johlendes Gelächter und anerkennende Pfiffe.
„Na, Jungchen, hat se dich rausgeworfen? Haha, hohoho, hihihi.“
Ich beeilte mich, durchs Zimmer zu kommen, dann durch die Tür in den Stationsflur und weiter hinten rechts ins Treppenhaus. Es ging eine Etage tiefer, in die Männerstation und zurück in mein Zimmer. Völlig entkräftet steckte ich die Krankenakte unter das Kopfkissen, warf den Bademantel ans Fußende des Bettes und legte mich rein. Ich drehte mich auf die Seite, stellte mich schlafend. Wenige Sekunden später öffnete sich die Tür, es war die Stimme von Schwester Andrea Berg: „Sehen Sie? Das kann gar nicht sein, Herr Gerdes schläft nämlich.“
Ich hörte eine männliche Stimme antworten: „Tatsächlich, es stimmt.“ Die Tür wurde geschlossen, und ich kletterte jetzt noch tiefer hinab, in das Reich der Träume. Das Letzte, was ich dachte, war, Gleich morgen bin ich hier weg, dann hüllte mich die Wärme in ihren wohligen Mantel.