Kapitel 10

Nach dem Schlaf gab es ein verspätetes Mittagessen, das mir Kraft gab. Ich fühlte mich, als könnte ich Baugerüste verschieben. War der Kletterparcour ein Traum gewesen? Ich fasste unter das Kopfkissen und zog die Akte heraus – kein Traum. Auf dem Tablett stand noch das Dessert. Während ich es in mich hineinlöffelte, studierte ich die Eintragungen in der Akte Julia Heymann. Es klopfte, ich sagte „Herein“, bereit, die Akte zu verstecken. Antje stand in der Tür.

„Störe ich?“, fragte sie mit einem Lächeln.

„Du störst nie“, war meine Antwort, und ich ließ die Akte zufallen. „Ich bin froh, dass du da bist.“

Antje kam näher. „Wie geht es dir heute?“

„Gut. Ich spüre meine Kraft zurückkehren, und eigentlich möchte ich so schnell wie möglich hier raus. Es nervt mich, bis nach dem Wochenende hier liegen zu müssen.“

Antje erklärte: „Genesung ist ein Prozess, dein Körper ist nicht untätig. Gönne dir die Auszeit, lass dich verwöhnen, während ich weg bin.“

„Während du weg bist?“

Antje legte ihre Hand auf meine. „Ich hatte dir doch von der Fortbildung in Osnabrück erzählt. Ab morgen geht’s los. In den nächsten zwei Tagen werde ich auf den aktuellen Stand der psychologischen Forschung gebracht.“

„Ja, natürlich, du hattest davon erzählt. Wie spät fährst du?“

„Morgen Vormittag, die Fähre geht um zehn. Und am Nachmittag ist hier die Gemeindeversammlung
in der Stella Maris-Kirche – ich sollte dir Bescheid
geben.“

Trotzig sagte ich: „Noch ein Grund, die Klinik eher zu verlassen!“

Antje schaute mich mitleidig an, schüttelte leicht den Kopf und sagte: „Kettet mir dieses Tier an!“

Am nächsten Tag entfernte ich das Pflaster nach dem Frühstück, packte meine Sachen zusammen, hinterlegte Frau Bakkers Schlüssel in einem Umschlag bei der Stationsschwester, unterschrieb einen Wisch, bedankte mich und war ruckzuck draußen, mit dem Gefühl, einer Art Gefangenschaft entkommen zu sein. Ich schaute noch einmal zum Baugerüst hinauf. Und mir wurde klar, wer dort in Bademantel und Flipflops herumkletterte, war reif für die Geschlossene.

Es war hell, obwohl die Sonne nicht wirklich schien, sie verbarg sich hinter einer Milchglasscheibe. Ich trat den Weg durch die Stadt an, kalte Luft durchströmte meine Lungen. Die heimischen Spediteure waren mit Elektrokarren auf gestreuten und geräumten Straßen unterwegs, belieferten Hotels und Shops. In Cafés und Bäckereien herrschte Hochbetrieb, Hunde wurden Gassi geführt, die Insel reckte sich.

Antje war reisefertig, sie bot mir dennoch ein schnelles Frühstück an, das ich dankend ablehnte. Sie bot mir auch ihre Wohnung an, die ich dankend annahm. Letzte Instruktionen für den Wohnungsgebrauch, dann gingen wir gemeinsam zum Hafen, mit einem kurzen Abstecher zum Jachthafen. Antje zeigte mir den Ort, an dem Dr. Jacobs samt Mercedes ins Hafenbecken gestürzt war. Die Kante war an der betreffenden Stelle deutlich abgeschürft und auch eine Dalbe gleich daneben. Ich registrierte, dass die Zufahrt zum Hafenbecken frei zugänglich war und es keine Wohnhäuser in unmittelbarer Nähe gab. Von Statisten, die am Abend bei einer Zigarette auf einem Balkon zufällig das Geschehen hätten beobachten können, war hier leider nicht auszugehen. Wir gingen zum Anleger und in der Wartehalle sagte ich Antje zu, sie hin und wieder über den aktuellen Stand meiner Ermittlungen zu informieren. Als der Moment der Abfahrt kam, tauschten wir einen Kuss, der die Beschreibung verdiente.

Auf dem Rückweg über den Westdeich machte ich mir Gedanken, was es war, das mich mit Antje verband, aber auch, was Susanne und mich scheitern ließ. Ich begann, das eine gegen das andere abzuwägen, aber solche Gedanken führten zu nichts. Unmittelbar vor der Giftbude ging ich hinunter an den Strand und spazierte am Saum der ansteigenden Flut entlang. Ebbe und Flut im Abstand von sechs Stunden und zwölf Minuten, Gezeiten als Symbol für das Auf und Ab des Lebens, Liebe kommt – Liebe geht, dazwischen das Leben, das bitter sein kann, und am Ende der Tod, der manchmal erlösend daherkommt. Der Blick zum Horizont lässt mich still werden vor den Fragen des Lebens. Was mochte dahinter liegen? Ein Nautiker kennt die Antwort, aber ein Philosoph? Ich dachte über Julia Heymann nach, die allzu früh schwanger geworden war. Warum fand sich in der Akte kein Eintrag zu ihrem Kind? Was war damals geschehen? Es lag nahe, Julia Heymann selbst danach zu befragen. Ich wollte sie aufsuchen.

Die Sonne tropfte durch Wolkenlücken wie klecksende Farbe auf die Häuser der Inselstadt. Der aufklarende Himmel ermunterte mich, meinen Weg über den Nordstrand fortzusetzen. Ich ging vorbei an niedrigen sich wallenden Hügeln von gefrorenem Sand, verwehtem Schnee und Dünengras. Die salzige Luft, die vom offenen Meer hereinströmte, ließ mich tief durchatmen. Wind und Gezeitenwechsel prägten seit jeher das Wattenmeer, das zum UNESCO-Weltnaturerbe gehörte. Neben den Hochalpen war es die einzige noch weitgehend naturbelassene Großlandschaft Mitteleuropas. Das hatte ich auf einer Infotafel gelesen. In extremen Wintern konnte es vorkommen, dass das Wasser gefror und die Flut Eisschollen aufs Land schob. Bei Ebbe gab die Nordsee das von Rinnen und Prielen durchzogene Watt frei, Robben sammelten sich auf trockengefallenen Sandbänken, die der Insel vorgelagert waren. Jede Flut formte die Landschaft immer wieder neu. Auch wenn die Sandrippen im Sand fest gegossen erschienen, glättete und verwischte die nächste Flut solche Wellenprofile. Die Veränderung blieb beständig – wie das Leben. Der feine Sandstrand auf der Insel, aufgespült schon vor Jahrtausenden, Dünen fortwährend umgestaltet vom Westwind. Norderney war ein natürlicher Schutzschild für das Festland gegen die stürmische Nordsee, wie auch die anderen ostfriesischen Inseln. Wind, Sand und Wellen, der Himmel über der Nordsee, ein sich minütlich veränderndes Kunstwerk, auf dem das Licht die Palette fast aller Farben durchlief. Eindrücke, die demütig machten, vor der Anmut und Kraft der Schöpfung.

Ich wandte mich inselwärts, machte einen Bogen über den Ostheller Platz zum Grohdepolder, jenes Gebiet, das 1928 dem Meer abgetrotzt wurde, wie mir ein anderes Hinweisschild verriet. In der Ferne die pyramidenförmige Peilbake auf der Möwendüne, im Frühjahr angestammter Brutplatz für Silber- und Sturmmöwen. Über die Dünen fegte kontinuierlich kühler Nordostwind. Zitternde Gräser, tiefziehende Wolken, in einiger Entfernung das dunkelgraue Festland. Keine Menschenseele, Natur pur. In den Böen richteten die Bäume ihre Strubbelhaare auf, streckten dem Himmel ihre kahlen, gefrorenen Äste entgegen. Etwas weiter die Postbake von 1879 als Wattzielzeichen für damalige Postpferdewagen vom Festland, sie wies mir den Weg zurück zum belebten Teil der Insel. Entfernungsmäßig hatte ich mir etwas zu viel zugemutet, trotzdem machte ich noch den Abstecher zum Hotel am Denkmal, um die ausstehende Rechnung zu begleichen und meine Sachen abzuholen. Antjes behagliche Wohnung bat mir alles, was ich jetzt brauchte. Ich fand einen vollen Kühlschrank vor, stellte mir daraus ein schnelles Mittagessen zusammen und legte mich für ein paar Minuten aufs Ohr, bevor es zur Kirche Stella Maris ging, einer Filialkirche der St.-Ludgerus-Kirche.

Der Himmel war wieder grauweiß geworden, nur hier und da schimmerte er wie mattes Glas. Im Norden wölbte sich der Himmel, bedingt durch unterschiedliche Wolkenschichten, und ein frostiger Wind blies scharf in die Stadt. Ich schlug den Kragen hoch, stapfte durch die Friedrich- und die Knyphausenstraße und bog nach dem Klamottendenkmal links in die Goebenstraße ein. Der Kirchenbau aus der Weimarer Republik überraschte durch eine moderne, schnörkellose Form mit großen weißen Flächen und kleinen Fensteröffnungen. Durch einen bis zur Straße vorgezogenen Eingangsbereich gelangten die Besucher in das Innere. Ich reihte mich da ein, folgte ihnen durchs Portal und wurde unmittelbar darauf von einer Frau begrüßt, die ich bereits im Krankenhaus gesehen hatte. Es war die rothaarige Pastoralreferentin.

„Herr Gerdes?“, fragte sie mit melodischer Stimme.

Ich nickte und sagte: „Genau der bin ich.“

Sie strich sich eine rote Welle aus den Augen. „Ich bin Fenja Groothuis, Pastoralreferentin der St.-Ludgerus-Gemeinde.“ Sie streckte mir ihre Hand entgegen, die ich ergriff.

„Angenehm. Antje hatte Sie mir bereits angekündigt“, sagte ich lächelnd.

„Ja, und sie hat Sie sehr gut beschrieben, Herr Gerdes!“ Frau Groothuis schenkte mir auch ein Lächeln, es war offen und herzlich. Sie war etwa Mitte vierzig, hatte feine intelligente Gesichtszüge mit einem dichten Muster von Sommersprossen. Ihre Lippen waren voll, sinnlich und ungeschminkt. Sie trug enge Jeans, darüber eine bordeauxfarbene Bluse mit dezenter Brosche. Es sah aus, als fiele es ihr leicht zu lächeln, aber in ihren Augen war eine Portion Bedachtsamkeit, als wäre es ihre Natur, sorgsam abzuwägen.

Fenja Groothuis sagte: „Antje hat mich darüber informiert, was Sie herführt. Es ist alles so furchtbar. Die ganze Gemeinde ist zutiefst erschüttert. Erst unser Pastor Sander, dann der Herr Doktor“, sie führte eine Hand an den Mund, während sie weitersprach. „Das ist ja alles so schrecklich!“ Sie schüttelte leicht den Kopf und ließ die Hand wieder sinken. Frau Groothuis sagte jetzt leiser: „Ich werde mir alle Mühe geben, Ihnen behilflich zu sein. Den ein oder anderen aus der Gemeinde kann ich Ihnen vorstellen. Und wenn Sie Fragen haben, können Sie sich gern an mich wenden. Das gilt natürlich auch für später. Wenn Sie möchten, können wir gern unsere Handynummern austauschen.“

„Ähm, später. Vielleicht.“

Frau Groothuis hob wedelnd die Hand. „Na ja, ich rede mal wieder zu viel. Bitte kommen Sie hier entlang. Ich führe Sie zu einem Sitzplatz, von dem Sie alles gut mitverfolgen können.“

„Vielen Dank. Und ich möchte Sie bitten, Frau Groothuis, den Grund für meinen Besuch nicht weiterzuerzählen. Sie verstehen?“

Sie machte eine Bewegung, als könne sie ihren Mund wie einen Reißverschluss verschließen. Dann führte
sie mich ins Hauptschiff, im rechten Winkel zur Orgel­empore. Dieser Bereich war schon mit etwa hundertfünfzig Besuchern gefüllt. Die Bänke links unter der Orgel waren frei geblieben. Gemurmel und Geflüster erfüllten die Kirche. Frau Groothuis hatte in der dritten Reihe einen Platz für mich reserviert. Jeder andere Platz wäre ebenso geeignet gewesen, um „alles gut mitverfolgen zu können“. Ich setzte mich, und Frau Groothuis nahm in der Reihe vor mir Platz. Ihr kupferrotes Haar bildete einen hübschen Kontrast zu den gedeckten Farben des Altarraums, dessen Grundfläche um zwei Stufen erhöht war. Fenja Groothuis drehte sich langsam zu ihrer Banknachbarin, sprach ein paar Worte mit ihr und bewegte sich wieder nach vorn. Die Drehung vollzog sie langsam und selbstsicher, als fühlte sie sich kontinuierlich beobachtet. Durch die kleinen Fenster fiel wenig Tageslicht, und um die Buchstaben im Gotteslob erkennen zu können, war Licht eingeschaltet worden. Ich betrachtete das Bild hinter dem Altar. Das großflächige Ölgemälde stellte Maria, die Patronin der Kirche, dar, die mit dem Jesuskind auf dem Arm vom Meer her kommend über der stilisierten Insel Norderney dem Betrachter entgegenging, dazu links und rechts ein paar Segelboote.

Unmittelbar vor dem Altar standen eine Reihe Stühle und Tische, darauf Namensschilder. Aus dem Hintergrund traten schwarz gekleidete Herren und eine Dame in den Kirchraum, sie nahmen hinter den Tischen Platz. Der Dechant des Dekanats Ostfriesland Johann Willenbrink setzte sich noch nicht, er stellte die geladenen Sprecher von der Pfarrgemeinschaft Küste und dem Generalvikariat Osnabrück vor. Darunter der Offizial Pater Hans Zink von der Abteilung Kirchenrecht, Stabsabteilung Recht und Revision, in einer besonderen Mission. Auch eine Vertreterin der Bistumspresse, des Kirchenboten, war zugegen. Dechant Willenbrink zeigte sich tief betroffen vom plötzlichen, gewaltsamen Tod des Glaubensbruders Pfarrer Martin Sander, der vielen in der Gemeinde eine unkonventionelle Stütze, ein liebevoller Seelsorger, eine unvergleichliche Vertrauensperson und nicht zuletzt ein persönlicher Freund gewesen war, der bis weit über die Grenzen der Gemeinde höchste Wertschätzung erlangte.

Ich blickte mich diskret um. Vor allem sah ich Frauen, wie sie still in ihre Papiertaschentücher weinten, vereinzelt hörte man es schluchzen. Die ältere Dame neben mir jammerte: „Oh, der arme, arme Martin ...“ Andere Frauen saßen kummervoll und gekrümmt da, sie erinnerten an entkräftete Vögel, die an einer schroffen Klippe gestrandet waren. Jede einzelne Kirchenbank war ein schützendes Refugium.

Der Dechant holte aus: Pfarrer Sander sei es mehrfach gelungen, den Gemeindehaushalt mit einem nicht unerheblichen Habenbetrag abzuschließen, trotz mannigfaltiger Probleme in der Diözesen- und Dekanatsarbeit, deren Mittel für die Ortsgemeinden sukzessive gekürzt wurden. Es ging um den allseits bekannten Priestermangel, den geregelten Austausch und die Präsenz der Pastorale und das Schreckgespenst der Zusammenlegung von Gemeinden. Der Ausbau des Wortgottesdienstes sowie unumgängliche Einsparpotenziale kamen ebenfalls zur Sprache, gleichwohl wurden die daraus resultierenden Chancen benannt. Mitunter kämen immer mehr Priester aus Afrika und Indien zum Einsatz, um die flächendeckende Versorgung der Gemeinden sicherzustellen, einen festen Gemeindepfarrer könne die Kirchengemeinde nicht mehr erwarten. Buhrufe aus dem Publikum, unheilige Unmutsäußerungen, gedämpfter Tumult als Reaktion. Dechant Willenbrink beschwichtigte, er zog ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und betupfte sich die Stirn. Ein Wort gab das andere, Tränen flossen, der Diakon mit schiefem Schlipsknoten erhob sich, wedelte synchron mit beiden Handflächen auf und ab, um der Menge Einhalt zu gebieten oder eine Boeing 737 in den Hangar zu lotsen. Er beugte sich zum Mikrofon hinab und sagte, dass dies eine reine Informationsveranstaltung sei. Etwaige Beschlüsse würden erst nach erfolgter Beratung mit Pfarrgemeinderat und Kirchenvorstand gefasst. Die Zuhörer beruhigten sich. In der zweiten Runde kamen Freunde und Weggefährten des getöteten Pfarrers zu Wort. Gewürdigt wurden seine herausragenden Leistungen um die seelsorgerische Betreuung von Krankenhauspatienten, dann ließ Offizial Pater Hans Zink vom Bistum Osnabrück die eigentliche Bombe platzen. Schwer erhob er sich von seinem Stuhl, ob seiner Körperfülle oder seines Amtes wegen, war nicht erkennbar. Er blickte mit traurigen Augen in die Gesichter der versammelten Gemeinde, seine Schäfchen wurden mucksmäuschenstill. Der Offizial behielt den Nacken gebeugt, tiefe Falten erschienen auf der Stirn, seine Gesichtshaut war blass, abgesehen von einem rötlichen Muster über der Nase und unter den Augen. Sein Haar war silbrig und nach hinten gekämmt. Ich schätzte sein Alter auf sechzig oder ein wenig darüber.

Zunächst räusperte er sich. „Glauben Sie mir, ich teile Ihren Schmerz um den Verlust des beliebten und geliebten Pfarrers und Glaubensbruders Martin Sander. Es ist durchaus nicht üblich, dass ich mich persönlich auf den Weg mache, um Ihnen mitzuteilen, was leider unumgänglich ist, bevor es an die große Glocke gehängt wird und Sie es aus der Presse erfahren. Es ist meine Pflicht, Ihnen persönlich mitzuteilen, dass Pfarrer Sander nicht nur Menschenseelen, sondern überdies einen nicht unerheblichen Betrag monetären Vermögens gefischt hat. Wir von der Diözese waren Hinweisen über Unregelmäßigkeiten nachgegangen, denen zufolge wir uns gezwungen sahen, die Vermögensverhältnisse des Verstorbenen näher unter die Lupe zu nehmen. Bei der Überprüfung von Konten, Wertpapieren und Unterlagen zu Beteiligungen, Liegenschaften, Stiftungen und testamentarischen Verfügungen wurde erkennbar, dass unsere Möglichkeiten, die Quellen dieses Vermögens ausfindig zu machen, an ihre Grenzen stoßen. Wir haben deshalb die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Pfarrer Martin Sander ...“ Pater Zink wurde unterbrochen.

„Hören Sie auf! Hören Sie auf! Der arme Pastor Sander hat nichts Ungehöriges getan!“, rief die Frau neben mir, sie sprang von ihrem Platz auf, ihre Sitznachbarn redeten beruhigend auf sie ein. Es nützte nichts. Zeternd und wild gestikulierend schob sie sich durch die Reihe, trat in den Mittelgang, drehte auf dem Absatz und stapfte dem Ausgang entgegen.

„Lügen! Alles Lügen!“, tönte es auf einmal von den hinteren Bänken, aufgeregtes Stimmengemurmel folgte. Der Diakon wedelte wieder mit den Armen.

Offizial Pater Hans Zink ergriff erneut das Wort, wobei sich die Falten strafften, seinem Gesicht einen energischeren Ausdruck verpassten: „Bitte, ich habe größtes Verständnis für Ihren Schmerz! Glauben Sie mir, ich würde solch einen unangenehmen Vorgang hier nicht ungeprüft vorbringen. Es geht um die Wahrheit, so schmerzvoll sie auch sein mag.“

„Sie haben doch eben gesagt, dass Sie die Wahrheit noch gar nicht kennen!“, schallte es von hinten.

„Ein erheblicher Teil der unangenehmen Wahrheit ist bekannt“, gab der Offizial zurück. „Die anstehenden Ermittlungen werden die Details offenlegen. Wir haben den Behörden die Papiere übergeben, nun müssen wir den ermittelnden Institutionen vertrauen und die Ergebnisse abwarten. Mehr lässt sich derzeit nicht sagen. Ich kann Ihnen aber versichern, dass, sobald wir Näheres wissen, wir uns umgehend mit Ihrer Gemeinde in Verbindung setzen werden.“

„Das ist doch der pure Neid!“, rief eine andere Stimme. „Das soll wohl die Begründung dafür sein, dass wir keinen neuen Pfarrer mehr bekommen, was?“

Der Offizial schüttelte mit dem Kopf. „Das ist unsachlich ...“, stammelte er und setzte sich.

Fenja Groothuis drehte sich zu mir herum. Sie war blass um die Nase. Ihrem Blick war zu entnehmen, dass sie vom desaströsen Verlauf der Veranstaltung mehr als überrascht war. „Äh ... tja, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, sagte sie peinlich berührt, sie wechselte das Thema: „Darf ich nachträglich bekannt machen: Die Dame, die gerade die Kirche verlassen hat, war unsere langjährige Küsterin Bärbel Saathoff. Im Dezember fand sie die Leiche des ermordeten Pfarrer Sander in unserer Hauptkirche Sankt Ludgerus.“

Ich machte eine beschwichtigende Geste. „Wir sind alle ein bisschen perplex, glaube ich. Die Gemeinde ist bis ins Mark erschüttert. Es ist schwer, so etwas zu bewältigen.“

Fenja Groothuis nickte dankbar, überraschenderweise ganz ohne Worte.

Der Diakon, jetzt mit tadellosem Schlipsknoten, bedankte sich bei den Gästen, lud zu einer Kaffeetafel nebenan in den Gemeinschaftsraum ein und beendete den offiziellen Teil. Die Kirchengemeinde kam jedoch nicht zur Ruhe, es folgten aufgeregte Gespräche, die mit verständnislosem Kopfschütteln und anderen Gesten der Uneinsichtigkeit quittiert wurden. Die Besucher teilten sich auf. Während sich nur wenige an der Tortenschlacht beteiligten, strömte der überwiegende Teil dem Ausgang entgegen. Ein paar Besucher blieben einfach sitzen oder formierten sich zu Grüppchen. Ich stand auf und wartete auf eine Idee von Frau Groothuis. Kurz darauf wandte sie sich mir zu, lud mich zu Kaffee und selbst gebackenem Kuchen ein. Ihrer Einladung folgend, wechselten wir in einen Konferenzraum, der sich im hinteren Bereich des Gebäudes befand. Kleine Gruppen standen herum, andere saßen an den Tischen mit Kaffeegedecken. An der Fensterseite stand ein Büfett mit Sahnetorten, Obst- und Topfkuchen, daneben Isolierkannen und Geschirr. Sowohl der Dechant als auch der Offizial waren mit Gästen im Gespräch, unterdessen war die Dame von der Presse damit beschäftigt, Fotos zu machen. Aufnahmen für den zwölfteiligen Kirchenboten-Starschnitt vielleicht.

An der Stirnwand des kleinen Saals hing das Porträt eines gut aussehenden Mannes in Priesterkluft. Pfarrer Martin Sander, folgerte ich, was Frau Groothuis mit betroffener Miene bestätigte. Die Ausstrahlung des Pfarrers beeindruckte. Hätte er eine Schauspielkarriere angestrebt, so mutmaßte ich, wäre er die erste Wahl für die Rolle des Pater Ralph in „Dornenvögel“ gewesen. Rechts neben dem Porträt hing eine Fotoserie, die Pfarrer Sander bei verschiedenen Anlässen und in unterschiedlichen Posen zeigte. Einige Frauen standen vor den Bildern und weinten. Es heißt, Fotos seien Honig für die Seele – angesichts des heraufziehenden Skandals waren sie hier wohl Lebertran.

Fenja Groothuis nahm mich mit ins Getümmel, sie stellte mir Menschen aus der Pfarrgemeinde vor. Small Talk gestaltete sich schwierig, angesichts der vo­rangegangenen Hiobsbotschaften. Man war allenthalben bemüht, die Stimmung nicht kippen zu lassen. Eine ältere Frau mit abgeklärtem Gesicht, einer vor langer Zeit einstudierten Körperhaltung und streng duftendem Kölnisch Wasser nahm den Offizial ganz für sich in Beschlag.

„Was halten Sie von einer Tasse Kaffee und einem Stück Torte, Herr Gerdes?“, fragte Frau Groothuis. Ein dezentes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, wie um zu unterstreichen, sie wisse genau, was ich benötigte, und dieses Wissen sollte mich beeindrucken.

„Das kommt jetzt gerade recht. Danke für die Einladung!“ Wir bedienten uns am Kuchenbüfett, dazu eine Tasse mit Kaffee. Damit pilgerten wir zu einem der Tische und setzten uns. Gegenüber saßen vermutlich Mutter und Tochter einträchtig beieinander, wie in einem stillen Gebet versunken, Kaffee und Sahnetorte vor ihnen. Als ich grüßte, zuckten beide zusammen. Sie musterten mich mit ganz unterschiedlichen Mienen. Die Jüngere offen und interessiert, die Ältere unterkühlt und argwöhnisch. Fenja Groothuis’ Lippen waren unablässig im Einsatz, sie erzählten mir irgendetwas von früheren Aktionen und Gemeindefesten, von Jubiläen und Grillabenden. Hin und wieder wagte ich es, meinen Blick durch den Raum schweifen zu lassen. Weitere Besucher kamen in den Konferenzraum, auch sie bedienten sich am Büfett. Frau Groothuis bemerkte mein Interesse, sie flüsterte mir Namen zu, und gegebenenfalls die entsprechenden Funktionen und Aufgaben in der Gemeinde. Bei einer rundlichen Frau um die siebzig handelte es sich um die ehemalige Inselhebamme Meina Sigges. Frau Groothuis meinte, dass gefühlt jeder heute lebende Norderneyer von ihr „auf die Welt geholt“ worden sei. Das fand ich interessant, und das entging Fenja Groothuis nicht.

Ich stellte fest: „Also war sie auch in den Achtziger- und Neunzigerjahren hier tätig.“

„Ja, das war sie. Darf ich sie Ihnen vorstellen?“

„Nach dem Kuchen gerne. Die Dame sollte sich auch erst stärken dürfen, meine ich.“

„Oh, ja ... selbstverständlich. Entschuldigung.“ Frau Groothuis’ Wangen bekamen frisches Rot.

Ich schüttelte gelassen den Kopf, zeigte mit der Gabel auf die Schwarzwälder Kirsch und sagte mit halb vollem Mund: „Die ist übrigens ausgezeichnet!“

„Vielen Dank! Die hat Frau Bünting gebacken. Sie wird sich über das Kompliment freuen.“

Ich fragte mich, ob es diese Person wirklich gab oder ob damit die norddeutsche Handelsgruppe Bünting
gemeint war – Torte aus dem Eisfach, sozusagen. Unmittelbar bevor ich mir ein weiteres Stück in den Mund schob, fragte ich Frau Groothuis unvermittelt: „Sagen Sie, kennen Sie eine Julia Heymann?“

Ihr Gesicht bekam plötzlich einen beklommenen Ausdruck. „Julia ...“, stieß sie halblaut hervor, und wieder mit fester Stimme: „... Julia Heymann?“

Ich merkte, dass es Frau Groothuis nicht gut ging, nachdem ich diesen Namen erwähnt hatte. Ich ließ das Kauen. „Es tut mir leid, dass ich so unvorbereitet gefragt habe. Ist sie Ihnen bekannt?“, wiederholte ich die Frage nun viel vorsichtiger.

Fenja Groothuis nickte mit todernster Miene. „Wir gingen zusammen zur Schule, sogar in dieselbe Klasse.“

Ich ahnte, dass das nicht alles war, darum wartete ich ab.

„Julia hatte ... Suizid begangen ...“ Fenjas Stimme brach.

Nach einer Pause sagte ich, es tue mir sehr leid. Ich wartete einen Moment, bevor ich fortfuhr: „War das erst vor Kurzem oder schon länger her?“

Frau Groothuis schien es nachzurechnen. „Das war vor ... achtundzwanzig Jahren, im November 1990. Damals ... es war eine dunkle Zeit ... ja, das war es. Julia ging ins Meer, ins eiskalte Wasser.“ Ihr Blick wanderte in die Ferne, und ich wollte sie dort nicht stören.

Jemand sprach sie an. Fenja Groothuis erhob sich langsam wie in Trance. Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich zu fangen und sich weiter zu unterhalten. Ich beobachtete Frau Groothuis und ihre Gesprächspartnerin aus den Augenwinkeln. Es ging um etwas Organisatorisches für die Buchhaltung, die Stundenabrechnung oder Ähnliches. Die Stimme der anderen, jüngeren Frau klang wie eine rostige Kette. In ihren harten Gesichtszügen lag etwas Verbissenes. Ihre Augen waren klar, die Augenbrauen mit fester Hand nachgezogen, der Mund mit knallig rotem Lippenstift bemalt, das Kinn entschlossen. Sie trug ein nachtblaues Businesskostüm mit heller Bluse und rote Schuhe mit hohen Absätzen, die Farbe passend zum Lippenstift. Als ich den Eindruck hatte, das Gespräch neige sich dem Ende zu, schaute ich noch einmal hoch zu den beiden. In diesem Moment schaute auch die Frau mich mit frostig-blauen Augen an. Sie beendete das Gespräch und ging.

Der Diakon gesellte sich zu uns, er stellte sich selbst vor, wir gaben einander die Hand. Tjark Risius war ein mittelgroßer, blonder Mann von großer Liebenswürdigkeit, so viel Liebenswürdigkeit, dass man sie als Teil seiner Berufung akzeptierte, und er hatte ein gewinnendes Wesen, so gewinnend, dass er vermutlich den Rest seines Lebens bei uns bleiben würde. Und er offenbarte eine heitere Gelassenheit, jene Art Gelassenheit, die von niemandem unbemerkt bleiben sollte. Ich hatte genug, entschuldigte mich und wandte mich den Fotos an der rechten Wand zu. Nur wenige Sekunden später stand Frau Groothuis neben mir, mühelos ordnete sie die Bilder jenen Erlebnisberichten zu, die sie vorhin zum Besten gegeben hatte. Die Fotos zeigten diverse Kirchengruppen bei ihren sozialen Aktivitäten, manche Bilder waren schon etwas älter. Zum Beispiel das Sechsunddreißig-Stunden-Projekt für soziale Gerechtigkeit in einer Kleiderkammer 2011, dasselbe in der Kooperativen Gesamtschule Norderney 2016, die Entrümpelungsgruppe für Wohnungsauflösungen 2012, das Vorleseteam in Kindergärten, in Seniorenwohnungen und beim Flurflohmarkt in der Grundschule 2013, 2016 und 2017, die Sternsinger und Messdiener 1999, 2003 und 2011, der Kirchenchor bei diversen Auftritten und ganz aktuell die Hygge-Gruppe für Wohn-, Back- und Kochwellness 2018.

Frau Groothuis wurde vom Dechanten angesprochen, und im nächsten Moment waren sie in ein Gespräch vertieft. Währenddessen schaute ich mir die Gesichter auf den Fotos genauer an, blieb bei der Entrümpelungsgruppe hängen. Junge Kerle im Alter von siebzehn bis fünfundzwanzig standen um ein altes Sofa herum, drei dahinter, zwei saßen, einer lag quer auf den Beinen derer, die es sich gemütlich gemacht hatten, er stützte seinen Kopf mit angewinkeltem Arm. Je links und rechts des Sofas bogen sich zwei weitere Burschen ins Bild. Alle trugen T-Shirt und Bluejeans. Breites Lachen oder Grimassen, die Stimmung war gut. Manche hielten halb volle Bierflaschen ins Bild. Im Hintergrund ein paar Schränke mit offenen Schubladen. Den etwa zehn Jahre jüngeren Diakon erkannte ich wieder, und auch ein anderes Gesicht. Ich war mir aber nicht sicher. Rechts daneben ein Foto, das auf einem Flugplatz aufgenommen wurde, vermutlich auch auf Norderney. Wieder dieselben Gesichter, aber alle ein paar Jahre älter. Manche trugen bunte Nylonanzüge, auf dem Rücken gepackte Fallschirme. Am Fenster der einmotorigen Cessna die Frau mit den frostig-blauen Augen. Ihre Gesichtszüge wirkten angespannt, sie hielt den Daumen hoch. Ready for take-off.

Ich wandte mich um und sah eine Frau in Kriegsbemalung, die sich soeben von Pater Hans Zink verabschiedete. Diese Möglichkeit nutzend stellte ich mich vor: „Herr Offizial, mein Name ist Frank Gerdes.“ Wir gaben uns die Hand, und ich spürte, dass seine Handflächen feucht waren.

Er unterbrach mich. „Ach bitte, nennen Sie mich Pater Hans. Herr Offizial klingt so fürchterlich förmlich.“ Seine buschigen Augenbrauen waren weiß wie sein Haar, und die Nase bog sich aristokratisch, wenn er das M aussprach.

„Sehr gern, Pater. Danke.“ Ich räusperte mich. „Ich bin privater Ermittler aus Hamburg und untersuche im Auftrag meiner Mandantin den Todesfall eines Norderneyer Arztes.“

Er zog die Augenbrauen in die Höhe. „Ich habe davon gehört. Das war im Januar, nicht? Eine ebenso tragische Geschichte wie die unseres Pfarrers.“ Sein Gesicht verdüsterte sich.

„Ganz genau.“ Ich strich mir mit Daumen und Zeigefinger über den Dreitagebart. „Darf ich Ihnen in Bezug auf Pfarrer Sander ein paar Fragen stellen?“

„Sie dürfen.“ Er stutzte. „Aber gibt es zwischen diesen beiden Morden denn eine Verbindung? Das wäre mir neu.“

Ich zuckte leicht mit den Achseln. „Gemeinsam ist beiden Fällen, dass sie binnen eines Monats geschahen und beide Mordopfer im Dienst sowohl der Kirche als auch der Sankt-Ludgerus-Klinik standen.“ Ich sagte eine Spur leiser: „Und genau darum geht es mir, Pater Hans. Ich möchte Ihnen Fragen zu Pfarrer Sander und seinem Engagement für die Klinik stellen.“

Eine Pause, ein prüfender Blick. „Nun, da gibt es keine Geheimnisse.“ Er überlegte und sagte dann: „Bitte kommen Sie. Wir gehen in das Büro nach nebenan, dort ist es ruhiger.“ Pater Hans nahm einen Schlüsselbund vom Tisch und wandte sich um. Gemeinsam gingen wir zu einem Durchgang mit einer Glastür, die Pater Hans aufzog, weiter ging es durch einen Flur mit mehreren Bürotüren. Auf halbem Weg blieb er stehen, schloss links eine Tür auf, schaltete das Licht ein und bat mich herein. In dem kleinen Raum mit hellen Wänden und sakralen Motiven unter Glas bot Pater Hans mir einen Platz an einem kleinen, runden Tisch an, auf dem Flyer von Adveniat lagen. Wir setzten uns auf gepolsterte Stühle, gegenüber ein Fenster mit immergrünen Pflanzen auf der Fensterbank, davor ein weißer Schreibtisch mit PC und Büroutensilien, an der Wand rechts ein Aktenschrank.

Er schaute mich ratlos an. „Können Sie sich ausweisen, Herr Gerdes?“, fragte er geschäftsmäßig. Seine Stimme wurde um eine Nuance kühler. „Ich muss sicher sein, dass Sie nicht von der Presse sind oder etwas anderes im Schilde führen.“

Ich zeigte ihm meinen Personalausweis, die Gewerbeanmeldung und einen Ausweis des Bundes der Privatdetektive. Papiere, die ich stets bei mir trage, genau für solche Fälle. „Wenn die Papiere nicht ausreichen sollten, erteilt Hauptkommissar Thomas Deeken entsprechende Auskünfte“, sagte ich und hoffte, dass er diesen Vorschlag nicht in die Tat umsetzte. Deeken brächte es fertig, mich kalt zu verleugnen.

„Na, lassen Sie mal.“ Er gab mir die Papiere zurück. „Wir stehen mit der Kriminalpolizei in engem Kontakt, doch die Informationen fließen nur spärlich, darum ist es erfreulich, dass auch aus anderer Richtung ermittelt wird. Ich wünsche Ihnen jedenfalls Erfolg damit. Sie können sich nicht vorstellen, wie verunsichert die Gemeindemitglieder sind. Als wäre ihnen der Boden entzogen worden ...“ Es schien, als habe Pater Hans Probleme, sich zu konzentrieren. „Ach, entschuldigen Sie bitte. Was wollen Sie eigentlich wissen?“

„Mir geht es ebenso wie Ihnen, es gibt kaum Verlautbarungen zu den Ermittlungsergebnissen, falls es die gibt. Da ich aber mit der hiesigen Polizei in direktem Kontakt stehe, kann ich bestätigen, dass weiterhin ermittelt wird. Nun aber zu meiner Frage: Sie sprachen vorhin vom Engagement Pfarrer Sanders für
das Sankt-Ludgerus-Hospital. Bezog sich das lediglich auf die Seelsorge oder gab es auch monetäre Transaktionen zwischen Krankenhaus und der Kirchen­gemeinde?“

„Die Kirche müssen Sie fairerweise da heraushalten, das war allein Pfarrer Sanders Werk.“

Ich konkretisierte meine Frage. „Nun gut, zwischen Krankenhaus und Pfarrer Sander?“

„Von solchen Transaktionen ist mir offiziell noch nichts bekannt. Allerdings erzählte Dechant Willenbrink mir unmittelbar vor der heutigen Veranstaltung, dass es über einen Zeitraum von zehn bis fünfzehn Jahren tatsächlich finanzielle Verflechtungen mit dem Krankenhaus gab, die heute allerdings nicht mehr nachvollziehbar sind. Das soll schon eine ganze Weile her sein und es gibt nichts Schriftliches darüber.“

„Woher weiß Dechant Willenbrink davon?“

„Sein Vorgänger war Kuratoriumsvorsitzender der Klinik, und als solcher wurde ihm mündlich zugesichert, dass Pfarrer Sander für seine seelsorgerischen Tätigkeiten eine besondere Vergütung zustünde.“

„Und die Klinik hat gezahlt?“

„Soweit ich weiß, ja. Pfarrer Sander machte sich für den Fortbestand der Klinik stark, ermöglichte die Finanzierung sowohl der hauseigenen Kapelle als auch eines neuen OP-Traktes.“

Ich dachte über das Gehörte nach, und mir kam der Satz „Eine Hand wäscht die andere“ in den Sinn. Ich fragte: „Wozu benötigte Pfarrer Sander diese Extravergütung? Sein Gehalt war doch bestimmt kein Hungerlohn.“

Pater Hans lächelte. „Weiß Gott nicht. Sie haben recht.“ Dann schüttelte er in einem Anflug von Selbstzweifel den Kopf. „Der Zwischenruf vorhin in der
Versammlung hat mich regelrecht aus dem Konzept gebracht. Eigentlich wollte ich noch von dem Umstand berichten, dass Pfarrer Sander sich in der Schweiz
eine zweite Existenz aufgebaut hatte, mit Villa im
Tessin am Lago Maggiore, Privatkapelle, Kunstgalerie und exklusivem Fuhrpark. Es ist mir schleierhaft,
wie man das alles mit nur einem Leben meistern kann.“

„Zusätzliche seelsorgerische Tätigkeiten werfen so viel ab?“, fragte ich.

Pater Hans hob die Schultern. „Wohl kaum.“

Die nächste Frage flog mir einfach so heraus: „War dabei auch eine Frau im Spiel?“

Er bewegte seine müden Augen und die Beine schlug er bedächtig übereinander. Seine Stimme nahm einen bedauernden Klang an, als habe er immer öfter mit dem Zölibatsproblem zu tun. Er fragte: „Beschäftigen Sie sich in der Regel mit solchen Dingen? Hören Sie so etwas gern?“

„In meiner freien Zeit bin ich Mönch.“

Sein Mund verzog sich zu einem schmerzlichen Grinsen. „Ja, es war eine Frau mit im Spiel. Aber wegen der laufenden Ermittlungen und wegen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes kann ich Ihnen ... nicht sagen, um wen es sich dabei handelt.“

„Jemand von dieser Insel?“

„Dazu kann ich keine Angaben machen. Ich bitte um Verständnis.“

Ein Kopfnicken meinerseits. Ich sagte: „Sicher.“

Er sagte: „Ich habe mich ohnehin schon weit aus dem Fenster gelehnt. Ich hoffe, dass Sie das entsprechend würdigen und meine Informationen vertraulich behandeln.“ Er schickte sich an, aufzustehen. „Wir sollten nun wieder zurück ...“

„Eine Frage bitte noch, wenn Sie erlauben. Glauben Sie, dass Pfarrer Sander sich dieses Doppelleben allein aufgebaut hat, oder steckt eine Art Netzwerk dahinter?“

Der Pater drehte seine rechte Handfläche nach oben. „Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Im Moment sieht es so aus, als habe er die Fäden allein in der Hand gehabt. Zusammen mit dieser Frau natürlich.“

Wir gingen zurück in den Konferenzraum. Die Stimmung war bedrückt, gedämpfte Gespräche, kein Lachen, das ein oder andere Gesicht war gerötet, manche Träne wurde getrocknet. Ich sah Fenja Groothuis und die ehemalige Inselhebamme Meina Sigges beisammensitzen. Frau Sigges sah mit ausweichendem Blick zu mir herüber, dann wieder nicht, immer im Wechsel. Ich blickte sie offen an, kam näher und fragte mich, warum ihr Blick so unruhig war. Sie hatte ein rundes Gesicht mit Säckchen unter den Augen und verbitterten Linien um den Mund. Die dunkelgrünen Augen lagen tief in ihrem Gesicht, ihre Nase war klein und spitz, die Lippen schmal. Es war ein Gesicht, an das man sich nur schwer würde erinnern können, wenn man sich abwendet, und nach längerer Zeit vergisst man es ganz. Ihr Haar war grau, es lag fest an, hinten straff in einem Dutt zusammengehalten. Sie trug einen dunkelbraunen Mantel, darunter lugte ein brauner Rock hervor. Frau Groothuis nickte mir zu, als stilles Einverständnis, mich zu ihnen setzen zu dürfen.

Frau Sigges blickte auf ihren Kuchenteller, und als ich mich setzte, stieg ihr Blick wieder empor. „Guten Tag“, sagte sie. Es war diesem Gruß nichts weiter zu entnehmen. Ich erhob mich und wollte ihr die Hand geben, sie hob ihre Hand ebenfalls, aber nur, um nach ihrer Kaffeetasse zu greifen. Ich ließ meine Hand sinken und setzte mich wieder. Hinter mir tauchte Pater Hans auf, legte seine Hand väterlich auf meine Schulter und sagte: „Ich bin nebenan in der Kirche, falls Sie mich suchen. Ansonsten alles Gute für Sie!“

„Danke schön! Für Sie ebenfalls“, gab ich zurück. Pater Hans entschwand durch die Tür in den Kirchenraum. Frau Sigges schaute ihm nach, in ihren Gesichtszügen lag etwas Verwundertes. Als sie mich anvisierte, verkniff sich ihr Mund zur formalen Sachlichkeit. Ich spürte, dass es an mir war, das Eis zum Schmelzen zu bringen: „Es ist ein gutes Zeichen, wenn nach dieser emotionalen Debatte auch wieder Ruhe einkehrt.“

Der Anflug eines Lächelns erschien auf Meina Sigges blassem Gesicht. Ich sah ihre runden Zähne, die an den Rändern fast durchsichtig waren. Sie nickte knapp. „Solange sie hält“, sagte sie. Ihre Stimme war dunkel, ein angenehm sonorer Ton. Fenja Groothuis entschuldigte und erhob sich, sie folgte Pater Hans ins Kirchenschiff. Bei Frau Sigges gab es kein Lächeln mehr, Augen kühl bis eisig. Ihr ganzer Körper schien jetzt angespannt. Sie sagte: „Ich habe gerade mit Fenja über Sie gesprochen. Fenja hat mir erzählt, dass Sie ein ... privater Ermittler sind?“

Anscheinend ließ sich diese Tatsache doch nicht so leicht verbergen. Ich nickte, ging in die Offensive und sagte bedächtig: „Das ist richtig. Ich wurde beauftragt, private Ermittlungen zum Tod von Doktor Jacobs anzustellen. Und ich sehe es als meine Aufgabe an, mit möglichst vielen Menschen zu sprechen, die sowohl in privater als auch in beruflicher Beziehung zu Doktor Jacobs standen.“

Frau Sigges machte große Augen und verschluckte sich fast an einem Schokoladenmuffin. Sie hustete, und als sie sich beruhigt hatte, sagte sie: „Es ist schon ein paar Jahre her, aber ich hatte manchmal beruflich mit ihm zu tun. Er war Gynäkologe und ich Hebamme, und immer wenn es bei der Geburt Komplikationen gab, kam es vor, dass ich ihn oder einen anderen Arzt hinzurufen musste.“

Ich sagte: „Ich verstehe. Frau Groothuis erzählte mir, dass Sie in den Achtziger- und Neunzigerjahren im Sankt-Ludgerus-Hospital tätig waren. Und in diesem Zusammenhang ...“

„... und in den den Sechziger- und Siebzigerjahren auch!“, warf sie mit erhobener Kuchengabel ein.

Ich hob meine Brauen. „Das sind annähernd vierzig Jahre! Eine ganz schön lange Zeit, Frau Sigges. Und wenn man sich vergegenwärtigt, wie vielen Menschen Sie auf die Welt verholfen haben ...“ Ich schüttelte leicht den Kopf. „Das übersteigt meine Vorstellungskraft.“ Dann nickte ich und ließ die Anerkennung einen Augenblick zwischen uns in der Luft hängen, bevor ich zu meinem eigentlichen Anliegen kam. „Wenn Sie gestatten, möchte ich etwas über die Zeit erfahren, als Julia Heymann entbunden hatte. Erinnern Sie sich an sie?“

Meina Sigges war gerade damit beschäftigt, mit einem Schluck Kaffee den letzten Happen ihres Muffins hinunterzuspülen. Die Tasse war leer, sie schepperte, als sie auf der Untertasse landete. Ihre Augen zeigten lebloses Grün, wie gefrorenes Plankton. „Julia ... Julia Heymann“, wiederholte sie den Namen so leise, als sei die Erinnerung an Julia längst beerdigt gewesen, und ich hatte sie allzu leichtfertig zum Kaffeeklatsch exhumiert. Meina Sigges überlegte, sie überlegte lange. Ich merkte, wie schwer sie sich tat. Auf einmal sagte sie: „Lassen Sie uns hier weggehen, ich möchte hinüber in die Kirche.“ Ihre Stimmbänder waren auf einmal belegt, als ob ein Kloß dagegendrückte. Ich brachte unser Geschirr zurück, wir wanderten gemeinsam in den Kirchenraum und setzten uns weit hinten in die leeren Bänke. Frau Sigges hüstelte. Ihre Augen wurden eine Spur wachsamer und die Stimme wurde energischer, als sie fragte: „Wenn ich Sie mal was fragen darf: Sie ermitteln doch wegen des Mordes an Doktor Jacobs. Warum sind Sie dann hier? Hängen die beiden Morde etwa doch zusammen? Wir in der Kirche vermuten das schon lange, aber die Polizei hat das bis heute nicht bestätigt.“

„Es besteht selbstverständlich eine Zusammenarbeit zwischen der Klinik in kirchlicher Trägerschaft und der Kirche, das liegt auf der Hand. Aber es wäre unseriös, einen Zusammenhang zwischen den Morden anzunehmen, solange die Beweise dafür fehlen. Primär untersuche ich die Umstände, die zum Mord an Doktor Jacobs geführt haben, und dazu gehört auch, dass Pfarrer Sander einen Monat vorher getötet wurde. Ich behalte mir vor, in alle Richtungen zu ermitteln.“

„In alle Richtungen ... na, dann“, ihre Stimme verlor sich im großen Raum. Vereinzelt saßen in einiger Entfernung noch kleine Gruppen beieinander, die ihre Köpfe zusammengesteckt hatten. Man hörte es zischeln, hin und wieder schaute jemand zu uns herüber.

Meine Stimme klang jetzt zuvorkommend und liebenswürdig, ich wiederholte meine Frage: „Frau Sigges, wie war das damals mit Julia Heymann?“

Was in ihr vorging, war an ihrem Gesicht nicht abzulesen, und als sie mich anschaute, war ihr Blick unscharf und ohne Fokus, als habe sie Schwierigkeiten, mich zu erkennen. Sie dämpfte die Stimme, der eindringliche Unterton war verschwunden. „An Julia Heymann erinnere ich mich ...“ Dann Schweigen. Belastende Gedanken formten ihren Mund wieder zu einer Linie.

„Wollen Sie mir erzählen, was damals passiert war, im Jahr 1990?“, fragte ich ruhig.

Einen Moment lang saß sie ganz still da und sah mich an, als überlegte sie, ob sie vielleicht einen Fehler machte, wenn sie mir davon erzählte. Sie sagte: „Es war sehr traurig, und es ist immer noch traurig ...“ Meina Sigges schaute mich kurz prüfend an, sie legte ihre Stirn in Sorgenfalten und schüttelte leicht den Kopf. „Und am Ende hat Julia sich das Leben genommen ... Es ist unbegreiflich.“ Die Augen wurden feucht, sie nahm sich ein Papiertaschentuch aus der Manteltasche, trocknete die Tränen und schnäuzte sich. Für einen Moment schwankte ich zwischen Tröstung und Nachfrage, Frau Sigges nahm mir die Entscheidung ab. „Sie wollen wissen, was so traurig war?“ Ich nickte stumm. Für einen Augenblick sah sie mich mit bedauernswertem Blick an, als sollte ich dieses Geheimnis besser nicht mit ihr teilen, doch dann sagte sie: „Das mit Julia ... belastet mich so sehr, ich kann ... seit vielen Jahren nicht mehr ruhig schlafen. Immer wieder kommen diese Albträume. Sie quälen mich immer und immer wieder.“ Frau Sigges atmete schwer, sie sprach lauter. „Jede Nacht kommt Julia an mein Bett ... und dann höre ich das Baby schreien, ich höre Julia schreien, und dann schreie ich selber und wache schweißgebadet auf.“

Plötzlich stand Frau Groothuis neben uns, zwischen zwei Kirchenbänken. Ihre Stimme überschlug sich fast. „Ach, hier sind Sie, Herr Gerdes. Ich habe Sie schon gesucht! Bitte nicht einfach so weggehen, ja? Ich habe noch etwas für Sie. Falls Sie mich suchen, Sie finden mich im Konferenzraum oder in der Küche.“

Ich nickte dankend und bestätigte ihr, dass ich gleich zu ihr käme. Frau Groothuis schien zufrieden, sie drehte sich um und ging weg. Ich wandte mich wieder an Frau Sigges, ihre Augen blieben feucht. Sie schnäuzte sich wieder. „Ich ... ich kann Ihnen hier nicht sagen, was damals passiert war ... die Leute. Das ganze Gewusel ...“

Ich intervenierte sanft: „Möchten Sie, dass ich zu Ihnen nach Hause komme?“

Sie wurde still, legte ihre Hand auf meine. „Würden Sie das wirklich tun?“

„Selbstverständlich, ich komme gern. Sagen Sie mir, wann es Ihnen am besten passt.“

Sie zog ihre Hand wieder zurück und überlegte. „Morgen besucht mich meine Tochter, zusammen mit meiner Enkelin. Wäre Ihnen der Dienstag recht? Gegen zehn?“

Ich überschlug die Termine, es lag nichts an. „Das passt“, bestätigte ich. „Darf ich erfahren, wo Sie wohnen?“

„Mein Haus steht am Ende der Lippestraße, es hat die Hausnummer hundertneununddreißig.“

Ich hörte genau hin. „Ist notiert.“ Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ich stand auf, gab ihr die Hand zur Verabschiedung und ging in den Konferenzraum zurück. Frau Sigges blieb regungslos sitzen. Frau Groothuis war damit beschäftigt, Geschirr auf ein Tablett zu stapeln, sie wollte es gerade wegtragen, als sie mich kommen sah. Sie stellte das Tablett wieder ab und kam mir entgegen, so, als gefiele es ihr, zu gehen, während man dabei zusah. „Wollen Sie schon gehen?“, fragte sie mit erstauntem Gesicht.

„Wenn ich etwas helfen kann, bleibe ich noch ein wenig.“

Sie lachte. „Sie brauchen hier nicht zu helfen. Aber einen Augenblick!“ Frau Groothuis zog einen Flyer aus ihrer Gesäßtasche. „Der ist für Sie! Ich möchte Sie gern zu meiner Vernissage morgen Nachmittag einladen. Der Sektempfang ist um fünfzehn Uhr, in der Galerie Jacobs.“

„Oh, herzlichen Dank für die Einladung!“, sagte ich, schlug den gefalteten Flyer auf und sah auf prächtige Naturaufnahmen. „Fotografie?“

„Naturfotografie, ja. Das ist ein schöner Ausgleich zu meiner Arbeit. Ich betreibe Hobbyfotografie, ausschließlich mit Motiven von der Insel. Dabei lasse ich mir frischen Wind um die Nase wehen.“ Ihr bezauberndes Lächeln erschien, dabei strich sie sich wieder eine kupferne Welle aus den Augen. Ihr Mund blieb leicht geöffnet, und die weißen Zähne strahlten. Etwas in ihrem Blick berührte eine Saite in mir, und sie begann zu schwingen.

Ich sagte: „Das wird sich einrichten lassen, ich komme gerne.“ Dankend hob ich den Flyer, dann endlich läutete es bei mir. Ich fragte: „Frau Groothuis, sagten Sie gerade Galerie Jacobs?“

Sie nickte eifrig. „Witwe Jacobs ist die Galeristin, ja. Wir hatten die Ausstellung schon vor einem Jahr geplant, und als dann ihr Mann getötet wurde, war mir klar, dass die Ausstellung nicht stattfinden konnte. Aber Frau Jacobs meinte, dass sie gerade jetzt Ablenkung benötige und etwas zu tun haben müsse. Und so entschieden wir uns, die Ausstellung doch stattfinden zu lassen.“

„Wird Frau Jacobs selbst auch anwesend sein?“

„Das hatte sie sich fest vorgenommen, ja.“

„Gut, wir sehen uns morgen.“ Zum Abschied reichten wir einander die Hand. „Danke für Ihre Gastfreundschaft, für Kaffee und Kuchen und die zuvorkommende, informative Betreuung.“ Ich lächelte sie offen an.

Frau Groothuis hielt meine Hand fest und legte noch eins drauf: „Herr Gerdes, haben Sie vielleicht Lust, heute Abend zu meiner Geburtstagsparty zu kommen? Es ist eigentlich keine richtige Party, also, keine große, aber ein nettes Beisammensein mit ein paar Freunden.“

Ich blätterte wieder meinen internen Kalender durch, es sprach nichts dagegen, also sagte ich zu. Sie ließ meine Hand los und nannte mir ihre Adresse in der Wedelstraße, nahe dem Kurtheater. Mit einem letzten Blick auf das Porträt von Pfarrer Sander verließ ich den Konferenzraum und ging noch einmal in die Kirche. Frau Sigges saß nicht mehr auf ihrem Platz, sie war gegangen. Draußen knüpfte ich die Jacke zu. Der Himmel veränderte sich, er wurde zu goldenem Champagner. Vom Meer kam eisiger Wind. Ein Blick auf die Uhr. Es war noch Zeit, ein Geburtstagsgeschenk für Fenja Groothuis zu besorgen. Es wurde ein trockener Barrique, ein Spätburgunder aus der Vinothek Dettweiler, die gerade ein Winetasting veranstaltete. Auf dem Rückweg zu Antjes Wohnung schaute ich noch kurz über den Deich. In der Ferne ein starker Kontrast von Himmel und Meer, ein paar grauorange Abendwolken schwebten über dem Wasser. Über mir die starke, unbeschreibliche Indigofarbe, die nach Osten hin zu einem Blaugrün verblasst, um am Ende in die Nacht zu kippen. Nicht mehr lange, dann würde die Insel in blauschwarzes Seidenpapier verpackt und per Express an den nächsten Tag geschickt.