Kapitel 11
Gegen Viertel vor acht machte ich mich auf den Weg zur Party, wählte den Umweg über die beleuchtete Promenade und lauschte dem endlosen Rauschen der Weite. An jener Stelle, wo eine schwarze Steinpier seewärts ins Dunkel ragte, blickte ich zurück zur Milchbar. Sie war gerammelt voll. Ich ging weiter, blieb nach ein paar Metern wieder stehen und hörte, wie ein Nachtvogel durchs Dunkel zog. In weiter Ferne sah ich verstreute Lichtpunkte, ähnlich einem Diamantenarmband im Schaufenster bei Nacht. Motoren dröhnten auf und ab wie ein Schwarm wütender Hummeln, vielleicht Monteurkolonnen auf dem Weg ins Offshore-Paradies für Windräder. Die Boote verschwanden draußen in der kalten Dunkelheit der Nacht und des Wassers. Das Dröhnen ließ nach, bis es leiser wurde und schließlich ganz erstarb. Mein Smartphone meldete sich. Antje schrieb, dass sie gut angekommen sei, ich schilderte ihr kurz meine Eindrücke von der Kirchenversammlung und dass ich gerade auf dem Weg zur Geburtstagsparty von Fenja Groothuis war. Antje wünschte mir viel Spaß, und sie ließ Fenja Grüße ausrichten.
Ich ging zurück in die Stadt. Es ging durch leere Straßen, beidseitig mit belebten Häusern gesäumt, und trotzdem fühlte ich mich allein wie auf dem Mond. Wind kam auf, anonymes Pfeifen durch dunkle Gassen und Gänge. Am Ende der Wedelstraße kam gedämpfte Partymusik aus einem der beleuchteten Fenster im dritten Stock. Im Parterre war alles dunkel, dort residierte ein Frisörladen. Ich suchte die richtige Klingel, drückte den Knopf. Und als der Summer kam, drückte ich die Tür auf, stieg die Treppe empor, und oben angekommen öffnete sich die Wohnungstür. Fenja Groothuis stand mit einem umwerfenden Lächeln vor mir. Ich übergab das Geschenk, bedankte mich für die Einladung und richtete Antjes Grüße aus. Der Duft von Gebratenem schlug mir entgegen, dazu ein akustischer Mix aus Musik und heiteren Gesprächen. Fenja Groothuis nahm meine Cabanjacke in Empfang, platzierte sie an der Garderobe und führte mich in das große Wohnzimmer. Es war voll, aber nicht überfüllt. In einer Ecke tanzten zwei Paare den Norderneyer Fruchtbarkeitstanz, jedenfalls sah es von hier so aus. Eine der Frauen hatte etwas Paradiesvogelartiges: silbriger Blazer, lila Federboa, Fascinator in Regenbogenfarben, silberfarbene High Heels. Die anderen Gäste saßen paarweise oder im Kollektiv verteilt im Raum auf bequemen Sesseln, auf anderen Sitzmöbeln in der Nähe eines Buchregals oder bei der Anrichte mit der Musikanlage. Auch die Couches in der Mitte des Raumes waren belegt, ein paar Stühle waren dazugestellt worden, auf denen ebenfalls Leute saßen. Es war relativ dunkel. Indirekte Beleuchtung, bunte Strahler und eine rotierende Mini-Discokugel verschafften entsprechendes Ambiente. In einer Ecke neben der Garderobe stand ein nicht mehr ganz so junges knutschendes Pärchen in heißer Umarmung, es hatte alles um sich herum vergessen. Die Musik war für meinen Geschmack um etwa fünf Dezibel zu laut. Fenja Groothuis zauberte zwei gefüllte Sektgläser hervor, von denen sie mir eines reichte.
„Wollen wir anstoßen?“, fragte sie zwinkernd.
„Auf Ihr Wohl, Frau Groothuis, und alles Gute zum Geburtstag!“, sagte ich in feierlichem Ton.
Sie verneigte sich etwas und sagte: „Genau genommen war mein Geburtstag schon letzte Woche. Ich habe die Party um ein paar Tage verschoben.“ Die Musik zwang Frau Groothuis, lauter zu sprechen. „Ach, wollen wir uns nicht duzen? Was halten Sie davon?“
Ich kam etwas näher, um meine Stimme zu schonen: „Sehr gern, ich bin Frank!“
„Und ich Fenja!“
Wir stießen an und leerten die Gläser bis zur Hälfte. Ihre Wangen hatten bereits einen roten Schimmer, der wohl vom allzu vielen Zuprosten herrühren dürfte. Sie wurden um eine Nuance intensiver.
Fenja sagte: „Ich würde dich gern ein paar Leuten vorstellen, aber zuerst muss ich mich um das Essen kümmern. Das Fleisch ist gleich fertig.“
Ich nickte und machte eine gleichgültige Handbewegung. „Ich komme schon zurecht.“ Dabei ließ ich meine Augen durch den Raum schweifen. Fenja entschwand in die Küche. Ich erspähte Diakon Tjark Risius an der Musikanlage, auf der anderen Seite des Wohnzimmers. Er hielt eine Schallplatte in den Händen. Sein Gesprächspartner war ein hagerer, schwarzhaariger Typ mit langer Mähne und Zopf, Mitte vierzig, mit kräftigen Augenbrauen und einem zauseligen Bart wie Filz. Er hatte ein schlaffes Gesicht, und seine Augen wirkten unnatürlich sensibel, als würde er jeden Moment anfangen zu weinen. Diakon Risius blickte zufällig in meine Richtung, lächelte und winkte mir zu. Ich winkte auch und ging hinüber zu den beiden.
Während die Alice Cooper-Kopie dabei war, eine neue Platte aufzulegen, zeigte Tjark Risius mit einer Ecke des LP-Covers auf mich. Er sagte: „Wir kennen uns von der Infoveranstaltung von heute Nachmittag. Frank! Richtig?“
„So ist es, Tjark“, antwortete ich. Erst gab ich dem Diakon die Hand, dann seinem Gesprächspartner. „Ich bin Frank Gerdes aus Hamburg, ein Freund von Antje Meiners und jetzt auch von Fenja.“ Der andere stellte sich vor als Raik Onnen. Er outete sich als Norderneyer Urgestein, an seinem Ohrläppchen baumelte einer dieser Walfängerohrringe. Er zog eine Schallplatte aus einem Doppelalbum, ich fürchtete Heavy Metal oder etwas in der Art.
„Obacht bei der Musikauswahl“, machte ich auf Schlaumeier.
„Wieso?“, wollte Raik Onnen wissen.
„Man will ja den Gastgeber nicht in Misskredit bringen“, antwortete ich.
Diakon Tjark Risius lachte prustend. Wer hätte gedacht, dass ein Comedian in mir steckte.
Raik Onnen erklärte: „Ich bin der Gastgeber, zusammen mit meiner Frau Fenja.“
„Oh!“ Mir stieg Blut ins Gesicht. „Bitte verzeihen Sie, äh, das wusste ...“
„Mach dir keinen Kopp“, fuhr er dazwischen. „Das passiert uns ständig.“ Er klärte mich auf: „Wir sind ja selbst schuld daran. Wir tragen keine Eheringe, haben unterschiedliche Nachnamen, getrennte Kassen, getrennte Schlafzimmer.“
So genau wollte ich es nicht wissen. Der Diakon lachte wieder, dann lachten wir alle drei und waren sofort beim Du.
„Du bist also ein Freund von Antje?“, fragte Tjark.
Ich nickte, und Raik setzte die Nadel auf dem rotierenden Plattenteller ab. Earth, Wind and Fire motivierte auch den letzten Bewegungsmuffel, wenigstens zum Wippen mit der Fußspitze.
Ich sagte: „Ich besuche Antje und genehmige mir eine Auszeit. Ich genieße die winterliche Ruhe hier.“ Ich wollte nicht jedem meine wahren Absichten auf die Nase binden.
„Da kann ich nur sagen, genieße die Insel, solange es noch geht!“ DJ Raik versuchte sich als Werbe-
prophet für die Touristikbranche. Er nahm drei Flaschen Bier aus einer Kühlbox, öffnete sie und reichte Tjark und mir jeweils eine. Wir stießen an und tranken.
Plötzlich eine Stimme, die alles übertönte: „Liebe Gäste, das Essen ist fertig. Das Büfett ist in der Küche, bitte nehmt euch, was ihr möchtet, und lasst es euch schmecken!“ Es gab Beifall, die Gäste mit den fahlen, ausgehungerten Gesichtern erhoben sich zuerst, Tjark war auch darunter. Raik und ich blieben zurück.
„Ach, ich liebe diese Frau!“, sagte Raik erleichtert. „Organisation ist ihre Stärke, was wäre ich nur ohne sie?“
Ich gab ein neues Stichwort. „Morgen ist die Vernissage?“
„Ja! Du weißt davon? Hat Fenja dich auch eingeladen?“
Nickend antwortete ich: „Die lasse ich mir nicht entgehen. Der Flyer verspricht einiges, sieht sehr professionell aus.“
„Ich bin richtig stolz auf sie, Frank. Und ohne sie wäre ich aufgeschmissen. Für uns ist es von Vorteil, dass wenigstens sie einen richtigen Beruf hat. Weißt du, das mit meiner Band läuft nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Wir spielen eigenen, hausgemachten Rock vom Feinsten, aber ... tja, was soll ich sagen. Die Leute stehen heute mehr auf Coverbands.“
„Das ist natürlich schade“, sagte ich. „Was spielst du? Lass mich raten: Gitarre?“
„Fast, es ist der Bass“, sagte Raik und nahm einen Schluck.
„Und wenn du den Musikstil änderst?“ Ich zeigte auf den Plattenteller. „Disco vielleicht?“ Ich lachte.
Raik verdrehte die Augen. „Wenn ich kurz vorm Verhungern bin. Aber auch dann nur vielleicht!“
Ich warf einen oberflächlichen Blick auf die Plattensammlung, fast nur Glamrock, Heavy Metal und ein paar Sampler aus den Siebzigern.
Raiks Blick folgte meinem, er erklärte: „Musik war immer schon meine Leidenschaft, aber ich mache das erst seit fünf Jahren professionell.“
Ich setzte die Bierflasche an, nahm einen Schluck und fragte: „Und was hast du vorher gemacht?“
„Meine Zeit verplempert, anders kann man es nicht sagen. Ich war CTO in einem Logistikunternehmen
in Bremen. Der Job hat fast mein komplettes Leben in Beschlag genommen. Es fehlte nicht mehr viel,
und unsere Ehe wäre deswegen in die Dutten gegangen.“
Einen Augenblick dachte ich über das Organisationskürzel nach. „CTO, dann warst du an der Schnittstelle von Unternehmensleitung und technischer Umsetzung tätig. Ich dachte immer, wenn man es bis so weit oben geschafft hat, wird nicht mehr gestempelt, und man kann auch mal fünf gerade sein lassen.“
Raik zögerte. „Von welchem Planeten kommst du? Bist du nicht angestellt?“ Seine Augenbrauen schoben sich hoch und rasteten dort ein.
„Ich bin bei mir selbst angestellt, und damit habe ich schon genug um die Ohren“, gab ich zu.
„Rock ’n’ Roll, Baby! Das bin ich jetzt auch, und ich habe mich noch nie so frei gefühlt.“
„Das sagte Mathias Rust auch, als er mit der Cessna auf dem Roten Platz gelandet war.“ Ich nahm einen weiteren Schluck.
Raiks Brauen krachten runter. „Verdammt, ja, aber guck dir die Welt da draußen doch mal an. Die machen einen auf große Familie, und es wird dir alles geboten, was zur Produktionssteigerung gebraucht wird. Mit Kollegen als Freunden, Spaß am Kicker oder mit der Playstation, die gemeinsamen Firmenfrühstücke und die vom Boss gefüllte Bar. Subtile Methoden, um die Stimmung unter der Belegschaft abzuchecken oder die Mitarbeiter zu pushen. Die Arbeit und das Unternehmen sind angeblich die Erfüllung. Wat willste zu Hause? Hier kriegste doch alles! Immer weiterarbeiten ist die Devise!“
Es klang wie ein neuer Song, die dazugehörige Melodie war noch nicht fertig. Ich fragte: „Wer lässt das mit sich machen? Geht der Trend nicht eher zu individuellen Ansprüchen?“
„Was meinst du damit? In Zellen unterteilte Großraumbüros? Dein eigenes Reich bis zur nächsten Stellwand?“
Ich lachte. „Nein, Raik, ich stelle mir so etwas vor wie gleitende Arbeitszeit, Halbtags- oder Dreivierteljob, Familienzeit, Homeoffice und so weiter.“
„Kannste vergessen! Das mag für bestimmte Branchen stimmen, aber ...“ Raik machte eine entsprechende Abwärtsbewegung mit der Hand. „Frag mal ausgelaugte Mitarbeiter eines hippen Start-ups in einer durchlässigen Sekunde. Das Miteinander ist nicht immer so cool, wie es verkauft wird. Wenn deine sozialen Kontakte nur noch Kollegen sind, stürzt du ab, wenn du gefeuert wirst. Ein Shutdown sozusagen, man steht plötzlich ganz alleine da.“
„Bist du gefeuert worden oder hast du selbst das Handtuch geworfen?“
Raik räusperte sich. Er schien nicht zu wissen, wo er anfangen sollte. „Es stand alles auf der Kippe. Ich fühlte mich komplett ausgesaugt. Na klar, es war ein Job, bei dem ich nicht mehr stempeln musste, all inclusive sozusagen. Aber die Firma ist global tätig, also ging ich frühmorgens aus dem Haus, um mit den Kunden in Fernost zu verhandeln. Die sind ja vor uns wach, wenn sie überhaupt irgendwann mal schlafen. Und ich kam ziemlich spät abends nach Hause, weil um diese Zeit die Amis auf Hochtouren rotieren. Abgesehen davon ist man ja mit dem Smartphone sowieso rund um die Uhr erreichbar. Gut für Asien, denn die haben kaum Feiertage und arbeiten oft auch sonntags.“
„Sehnt man sich nach einiger Zeit wieder nach der Stempeluhr?“
Er nickte. „Oder nach einer kompletten Auszeit, aber das saß nicht drin. Ich steckte in einer Tretmühle, aus der ich nicht ohne Weiteres herauskam. Ich telefonierte oft stundenlang und besprach Probleme. Meine Arbeit bestand zuletzt nur noch in der Bewältigung von Problemen, wann und wo immer ich war. Das ging an die Substanz. Fenja merkte mir das natürlich an und meinte, dass ich kaum noch Zeit für Gemeinsames hätte. Ich lachte kaum noch, hatte keine Kraft für einfachste Unterhaltungen, konnte mich schlecht konzentrieren. Ich war ein moderner Arbeitssklave.“ Es war ihm deutlich anzumerken, wie sehr ihn das noch belastete.
Ich fragte: „Und wie bist du aus der Mühle herausgekommen?“
„Irgendwann kam er, der Zusammenbruch. Ich mach’s kurz: Fenja war drauf und dran, mich zu verlassen. Eines Tages drückte sie mir meinen alten E-Bass in die Hand und sagte nur ein Wort.“
„Verkaufen?“
Er grinste. „Nein, sie sagte: Spiel! Ich fing an zu spielen, und es klang grauenhaft, war ja auch Jahre her, aber ich gab nicht auf. Und ich konnte nicht mehr aufhören. Ich spielte Tag und Nacht, ich ging nicht mehr in
die Firma, nahm auch das Smartphone nicht ab. Es war ein ... ein Befreiungsschlag.“
Ich nickte und trank, er trank auch. Ich ließ mir das durch den Kopf gehen. Raik hatte reflektiert, er hatte sein Leben geändert und Fenja war bei ihm geblieben. Er hatte den Absprung geschafft, gerade noch rechtzeitig. Das Problematische an seiner Story ist, dass viele Arbeitsplätze ganz ähnlich tickten, was auch der Globalisierung geschuldet war. Unlängst hat dieser Leistungsgedanke auch in der Freizeitgestaltung Einzug gehalten. Immer aktiv sein, niemals Langeweile aufkommen lassen, und das auf Kosten der Erholung.
Ich wollte ihn auf andere Gedanken bringen: „Raik, was meintest du vorhin mit: Genieße die Insel, solange es noch geht? Das klingt wie ein Achtzigersong.“
Er kicherte und sagte: „Geier Sturzflug? Ja, kenn ich noch.“ Raik machte erst eine Pause, dann einen Vorschlag: „Ich erkläre dir gerne, was ich damit meine. Komm, lass uns mal auf den Balkon gehen, ich will eine rauchen.“
Wir leerten die Flaschen, stellten sie neben die Kühlbox und gingen zur Balkontür. Raik schob sie auf, wir traten hinaus. Draußen leuchtete eine bunte Lichterkette, in der Ecke standen winterfest verpackte Campingmöbel, ein Grill, ein Schirmständer. Links hinter der Balkonbrüstung sah man hinunter auf den erleuchteten Platz des Kurtheaters. Nach hinten raus die Weinlounge Norderney, darüber bläuliches Licht flackernder Fernsehschirme hinter Fenstern und rechts in einiger Entfernung das Restaurant Gosch. Raik zog die Tür hinter sich zu. Es war ziemlich kalt, ich hätte die Jacke anziehen sollen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
Raik hielt mir die Schachtel hin. „Willste auch eine?“
Ich hob die Hand, lehnte dankend ab.
Er schob das Räucherstäbchen zwischen die Lippen und ließ es aufglimmen. „Frank, was wir hier in letzter Zeit erleben, ist der reinste Ausverkauf der Insel.“ Er zog kräftig durch, der Rauch kam mit jedem Wort wieder heraus. „Du glaubst nicht, was hier in den letzten Jahren los ist. Für die Einheimischen wird es immer schwieriger, hier zu überleben, und Neubürger findest du in erster Linie auf Klingelschildern oder in den Papieren auf dem Grundbuchamt, aber nicht im realen Leben. Höchstens an den Wochenenden oder drei, vier Wochen im Jahr.“
„Es sind vor allem Investoren, die hier bauen?“, fragte ich.
Raik zog mit der anderen Hand an seinem Bart. „So sieht das aus. Ältere Häuser und die letzten Grünflächen werden plattgemacht, um die neuen Paläste an diejenigen zu verkaufen, die sie nur an den Wochenenden bewohnen oder an Touristen vermieten wollen. Das wirft Rendite ab.“
Ich sagte: „Das hier ist Norderney, nicht Sylt.“
Raik zeigte hinunter zu Gosch. „Bist du dir da sicher?“ Er machte eine kleine Pause und erzählte weiter: „Sogar Mitarbeiter von Haus- und Reinigungsservices, Verkäufer, Pflegepersonal und vielleicht bald Leute von der Feuerwehr müssen täglich anreisen, weil es hier kaum noch bezahlbaren Wohnraum gibt. Die Preise steigen ins Unermessliche.“
Ich schwieg.
„Frank, wir haben die Bürgerinitiative ,Wir für Norderney‘ ins Leben gerufen. Unser Ziel ist es, mit allen Mitteln den Ausverkauf unserer Insel zu stoppen. Norderney soll nicht zu einer Party- und Protzmeile verkommen. Noch ist der Osten unbebaut, aber wenn erst mal der Fuß in der Tür ist, winkt eines Tages der nächste Investor mit einem Batzen Geld. Der schnappt sich die Filetstücke für ein Fünf-Sterne-Projekt, und das alles auf Kosten der Natur, die unser aller Kapital ist.“
Mir fiel da etwas ein. „Denkst du dabei an den alten Baubetrieb von Gronewold senior, in der Nähe der Weissen Düne?“
Raik stutzte. „Du kennst ihn?“
„Sagen wir, ich habe da Papst gespielt und den Boden geküsst.“
Die Tür wurde aufgezogen. „Wer ist Papst?“, fragte Diakon Tjark, der sich mit einem Berg Essen auf dem Teller zu uns gesellte.
„Wir alle sind Papst“, sagte Raik, und die Männergruppe lachte.
Raik wandte sich an Tjark: „Ich erzähle Frank gerade von unserer Initiative.“ Tjark nickte kauend.
Ich wandte mich wieder an Raik: „Noch mal zu Gronewolds Haus. Wie war es möglich, dass jemand dort ein Haus in die Dünen pflanzen konnte? Ist das nicht ausgewiesenes Naturschutzgebiet?“
Raik und Tjark schauten sich vielsagend an, Raik antwortete: „Es gibt da eine ganz bewährte Methode. Sie fängt vorne mit B an und hört am Ende mit ,stechung‘ auf. Kennt man das bei euch auf dem Festland nicht?“
Ich räusperte mich und rieb mir die Nase. Dass es Teil meines Berufes war, genau solche Machenschaften aufzudecken, wollte ich hier nicht unbedingt ausplappern. „Hat die Bürgerinitiative denn schon etwas erreicht?“, fragte ich, um vom Thema Korruption abzulenken, ich schaute beide abwechselnd an.
Tjark kam Raik zuvor: „Uns wurde ein Beruhigungszäpfchen in den Arsch geschoben.“
„Dieses böse Wort müssen Sie aber beichten, Herr Diakon“, sagte Raik kichernd. Und er fügte hinzu: „Wir werden es merken, wenn das Zäpfchen aufgelöst ist. Die Stadt hat mittlerweile die unabhängige Betreibergesellschaft Domus-Monitor GmbH beauftragt, die Vergabe von Grünflächen, Grundstücken und Immobilien zu überwachen. Damit hat sie uns erst einmal mundtot gemacht. Seitdem ruht unser Projekt, aber wir bleiben am Ball.“
Hinter den Fenstern schliefen die Fernsehschirme ein. Wie dunkle Schwaden bewegten sich dort die Menschen, blickten hinaus oder gingen von Licht zu Licht und tauchten ihre Wohnzimmer ins Dunkel. In wenigen Fenstern blieb es hell. Raiks Zigarette hatte sich längst in Kohlenstoff verwandelt und es entstand Raureif an meinen Lippen. Wir gingen rein, und als mein Blick über die illustre Gästeschar strich, bekam ich weiche Knie. Ich wusste nicht, ob ich meinen Augen trauen konnte. Dort, auf einer Couch, saß Nele Hansen. Wir hatten uns Mitte der Neunzigerjahre während des Studiums kennengelernt, wir waren ein Vierteljahr lang ein Paar und unmittelbar nach meinem Sprung in die Selbstständigkeit waren wir wieder getrennt. Unruhige Jahre mit einer aufregenden Frau, an die ich mit gemischten Gefühlen zurückdachte. Später war Nele der Liebe wegen nach Norderney gezogen. Aber war sie das wirklich? Bei dieser Beleuchtung war ich mir nicht sicher.
Raik und ich bedienten uns am Büfett, danach gingen wir zum Plattenspieler zurück, wo Tjark auf uns wartete. Raik suchte eine weitere Scheibe aus der Sammlung. Tjark und ich nahmen uns ein kühles Bier aus der Box und wir setzten uns in die Sessel vor der Anrichte. Ich sah noch einmal zur Couch hinüber. Und wirklich, es gab keinen Zweifel – sie war es. Sehr heller Teint und braunes, gelocktes Haar. Eine eigentümliche Wärme breitete sich in roten Wellen aus, von meiner Brust bis hinunter in die Leisten. Das blaue Kleid, das sie trug, war aus einem fließenden, schimmernden Stoff. Sie hob ein Glas an ihren Mund und nippte daran. Die Flüssigkeit war klar, vielleicht
Wodka. Ihre Lippen hatten einen seidenmatten Glanz, weich und sanft. Die meiste Zeit schaute sie zur Tanzfläche, hin und wieder sah sie ihren Gesprächspartner an, der auf einem Stuhl im rechten Winkel zu ihr
saß und sich angeregt unterhielt – mit ihr oder mehr mit sich selbst, das bekam ich von hier aus nicht mit. Der Mann war etwa sechzig Jahre, klein und untersetzt, mit eckigen Schultern, gezwängt in ein helles Sakko, der Typ Erdkundelehrer. Sein Gesicht war eines von denen, die ganz oben breit beginnen und weiter unten im Hemdkragen verschwinden. Er hatte dunkle Knopfaugen. Sein Mundwerk mahlte unablässig, dabei drehte er mit höchster Konzentration an einer Zigarette. Ich weiß nicht, ob er für schlechte Zeiten vorsorgte, jedenfalls drehte er immer, wenn ich hinsah.
Nele saßen zwei Frauen gegenüber. Sie saßen eng beieinander und sprachen mit amüsierten Gesichtern, wie zwei Kolleginnen beim Tratschen. Beide zeigten tiefe Ausschnitte. Die Blonde sah mich jedes Mal an, wenn ich in ihre Richtung sah. Um ihren Mund zeigten sich einladende Grübchen. Die andere nahm ein Glas mit einer goldenen Flüssigkeit, vermutlich Whisky. Sie nahm einen so großen Schluck, dass ich das Brennen in meiner Röhre spürte, und ich saß da mit meinem Bier, das immer wärmer wurde.
Raik senkte den Deckel des Plattenspielers hinab und entschwand auf die Tanzfläche, integrierte sich rhythmisch in eine Gruppe Freestyletänzer. Diakon Tjark riss mich mit einer Frage aus meinen Gedanken: „Sag mal, bist du auch in der Kirche?“
Ich schüttelte den Kopf. „Das ist nicht so meine Sache. Ich glaube nur an Dinge, die ich sehen und definieren kann.“ Je länger ich Nele und den Typen beobachtete, desto mehr glaubte ich, sie von dem Erdkundelehrer befreien zu müssen – auch eine Art von Glauben.
„Du glaubst also nicht an die Kraft der Liebe?“, lockte Tjark mich aus der Reserve.
Ich hielt meinen Kopf gerade, nur meine Augen wanderten zu ihm. „Doch, daran glaube ich. Tjark, du willst mich doch nicht etwa in ein Glaubensgespräch verwickeln?“
„Wenn du den Eindruck hast, dass ich dich in etwas verwickle, kannst du die Polizei rufen.“
Ich wandte ihm meinen Kopf zu, lächelte ihn offen an und sagte: „Eins zu null für dich. So schlimm wird es wohl nicht werden.“ Tjark lächelte auch, seine Liebenswürdigkeit kompensierte fast alles.
Er versuchte es erneut. „Okay, dann weiter. Was, denkst du, ist das Wertvollste, was uns Menschen begegnen oder passieren kann?“
„Ist das einer dieser Ankreuztests? Achtzig bis hundert Punkte, herzlichen Glückwunsch, Sie haben eine Gratismitgliedschaft in der Kirche gewonnen?“ Ich nahm einen kräftigen Schluck aus der Pulle.
„Versuche es, Frank“, ermunterte Tjark mich, er nahm ebenfalls einen Schluck.
„Das Wertvollste, meinst du?“ Ich überlegte. „Also gut. Reichtum, auf Dauer wohl nicht, Schönheit und Gesundheit ... vergeht, Glück ist relativ.“ Ich musste an Antje denken und sagte frei heraus: „Es ist wohl die Erfahrung, geliebt zu werden und andere zu lieben.“
„Prima! Dann wären wir also beim Thema Liebe“, sagte Tjark erleichtert.
Ich sah wieder zu Nele hinüber. Ich spürte, dass sie sich in der Gegenwart ihres Gesprächspartners unwohl fühlte. Sie gestikulierte aufgebracht, und ihr Gesicht wirkte angespannt. Der Typ neben ihr hatte das Zigarettendrehen eingestellt, stattdessen konzentrierte er sich jetzt auf ihren Mund, oder vielmehr auf ihre Lippen.
Tjark schoss die nächste Frage ab: „Und, Frank, was denkst du, ist der stärkste Liebesbeweis?“
Ich dachte an alle möglichen Formen der Zuneigung, aber es ging ihm vermutlich um etwas anderes. Nach der kleinen Pause kam mir meine verschüttete Schulbildung in den Sinn. Ich sagte: „Spontan fällt mir da Schillers Bürgschaft ein. Der stärkste Liebesbeweis ist, für andere einzustehen oder sich selbst für andere hinzugeben. So etwas in der Art.“
„Herzlichen Glückwunsch, du hast die Gratismitgliedschaft gewonnen!“, strahlte Tjark. Über seinem Kopf leuchtete ein Ring aus Licht, wie man es aus Heiligendarstellungen kennt. Wenigstens glaubte ich es für einen Moment. Er sagte weiter: „Das ist es! Diese zu allen Zeiten, in allen Sprachen und in allen Regionen der Welt universal gültige Sprache der Liebe, das tiefste und wertvollste menschliche Empfinden, ist der Beweis!“
Ich war ratlos. „Beweis wofür?“
Der Mann neben Nele stand wütend auf, nahm sein Glas und verschwand in Richtung Büfett. Nele zog sich eine Strähne ihres dunkel wallenden Haares hinters Ohr. Sie schaute von links nach rechts, als wollte sie sich überzeugen, dass niemand etwas mitbekommen hatte. Ich hatte es mitbekommen und ich überlegte, mich zu ihr zu setzen.
Tjarks Stimme erreichte mein Ohr, er dozierte: „Nun, es handelt sich dabei um einen auf Erfahrung beruhenden, einen aposteriorischen Gottesbeweis. Deine Antworten treffen ja vor allem auf das Christentum zu. Es geht dabei primär um Agape, Liebe und Hingabe. Wenn du zutiefst von deinen Antworten überzeugt bist, dann kommst du an Jesus Christus nicht vorbei. Es ist übrigens die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens.“ Ich wühlte in meinen Taschen, und Tjark fragte: „Was ist los? Was suchst du?“
„Die Telefonnummer der örtlichen Polizeistation.“
Er machte ein betretenes Gesicht, fuhr aber unbeirrt fort: „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das Christentum die einzig befriedigende Antwort auf die Bedürfnisse der Menschheit ist.“
Ich schaute ihn skeptisch an. „Das glaube ich dir sogar. Zumindest hört es sich schlüssig an, aber warum gibt es dann so viel Unfrieden auf der Welt?“
Jetzt war es Tjark, der eine Bedenkpause einlegte. Er hob einen Finger. „Weil die Zeit noch nicht gekommen ist und viele Menschen nicht im Reinen mit sich sind, nicht mit sich und nicht mit anderen, glaube ich.“
„Und weißt du, was ich glaube? Dass ich jetzt einen Drink brauche. Bis später!“
Tjark zeigte mir die flache Hand als Gruß. Ich stand auf und ging zu Nele hinüber. Bei der Couch angekommen fragte ich: „Verzeihen Sie, ist hier noch Platz für einen alten Bekannten?“
Sie schaute mich mit großen Augen an. „Frank? Frank ... was ...? Das ist ja eine Überraschung!“
„Die Überraschung ist ganz auf meiner Seite.“ Wir gaben uns die Hand, sie ließ sie nicht los und ich machte ihr Spiel mit. Nele rückte ein Stück zur Seite, ich setzte mich neben sie. Jetzt ließ sie meine Hand fliegen.
„Frank, was machst du hier?“ Nele war ganz von den Socken. Sie biss sich auf die Unterlippe, ihr Blick heftete sich auf mein Gesicht.
„Ich verbringe hier ein paar Tage, ein bisschen Luftveränderung tut mir ganz gut. Das Meer und die Umgebung bei ausgiebigen Spaziergängen genießen, einfach mal runterkommen.“ Ich deutete auf sie. „Du kennst das bestimmt.“
„Oh ja, selbstverständlich!“ Sie lachte. „Mensch, Frank, ich kann’s noch gar nicht fassen. Wie lange ist das jetzt her?“
Ich überschlug die Chronologie unserer gemeinsamen Zeit. „Warst du nicht 1998 der Liebe wegen hierhergezogen? Es ist also mindestens zwanzig Jahre her.“
Nele hielt sich die Hand an den Kopf, als wollte sie ihre Temperatur prüfen. „So lange schon. Wo ist die Zeit geblieben? Und wie kommst du auf diese Party?“
„Über Freunde und Bekannte, die kennen wieder andere Leute, und so weiter.“ Ich vermied wieder die Details. Mit einem kurzen Blick zur Bar fragte ich: „Trinken wir was zusammen? Ich hole uns die Drinks.“
„Sehr gern!“ Sie nickte eifrig mit zusammengepressten Lippen. „Einen Wodka mit Eis.“
„Mit Frucht?“
„Gern!“
Ich ging an die Bar. Auf dem Weg betrachtete sie mich, und ich sie in einer knappen Drehung. Alles an ihr war zeitlos schön. Das Gesicht mit den hohen Wangenknochen, die Laetitia-Casta-Lippen, das dunkel wallende Haar. Ich brachte uns zwei Gläser Lemon Skyy mit, reichte ihr ein Glas und als ich mich wieder setzte, stieg mir ihr ganz eigener Duft in die Nase. Die schlanken Arme, und im Dekolleté der obere Rand ihrer Brüste, so weich, dass sie sich bei jedem Atemzug bewegten. Sie zog ihre Schultern leicht nach hinten, wie um sich zu entspannen. Ich disziplinierte meine Augen und sagte: „Lass mich raten, du denkst gerade an alles, was vor Norderney war, und wie es dazu kam, dass wir uns getrennt haben?“
Das Lächeln erstarb fast, ihre Lider sanken bis zur Hälfte, und für einen kurzen Moment waren die Augen feucht. Sie nahm wieder die Unterlippe zwischen die Zähne und verharrte so für zwei Sekunden. Dann nickte sie, zuckte zugleich mit den Schultern und ließ ihre Lippe los. „Du hast recht, ich habe wirklich daran gedacht. Es war fast alles weg, wie eingerostet oder besser wie eingesperrt, aber nun ist vieles wieder da.“ Ihr ganz schwaches, wiedererwachtes Lächeln erreichte mehr ihre Augen als die Lippen. „Ach, was spielt das noch für eine Rolle?“ Sie machte eine abwertende Handbewegung. „Wir sind jetzt hier, und was kümmert uns, was morgen ist?“
Nele war sich in ihrem Wesen treu geblieben, aber das hatte nichts mit Treue zu tun – eher das Gegenteil. Ohne besondere Betonung sagte ich: „So ganz ohne die Bürde der Verantwortung, wie damals?“
Die Augen, die mich anschauten, waren dunkler als die Nacht. „Du hörst dich an wie ein Landpfarrer, Frank. Was geht es dich an?“
Sie hatte recht. Der Satz hatte schon idiotisch geklungen, als ich ihn mir in Gedanken zurechtgelegt hatte, und als er raus war, klang er kein bisschen besser. „Entschuldige bitte, ich wollte nicht ...“
Ganz seicht schüttelte Nele den Kopf und hob ihre Hand. „Ist schon gut.“ Wieder das kaum merkliche Lächeln.
„Ich habe da einen wunden Punkt angesprochen, oder?“, fragte ich ruhig.
Sie neigte ihren Kopf zur Seite, lächelte mich schuldbewusst an, als hätte ich sie beim Flunkern erwischt. „Ja, es läuft halt nicht so gut bei mir“, sagte sie und bewegte das Glas, dass die Eiswürfel klirrten.
Ich nahm einen Schluck und blickte durch den Raum. „Ist dein Mann nicht hier?“
„Nein, der hat zu tun“, sagte sie in einem sarkastischen Ton. „Er ist nicht gern auf Partys, es sei denn,
es geht um ihn. Zu den anderen gehe ich meistens allein.“
„Party kann man auch alleine haben“, versuchte ich sie aufzuheitern.
Sie lachte, ein freudloses, ungläubiges Lachen. „Ach ja?“, fragte sie zurück und zwinkerte mir zu. „Ich
sag dir, auf Dauer ist der Lack ab, und dann kommt
der Rost durch. Wenn es nur um so etwas wie Partys ginge ...“ Sie ließ den Satz stehen und verzog das Gesicht.
„Vermisst du Hamburg?“, fragte ich, um Nele auf andere Gedanken zu bringen.
Ihr Gesicht drückte nun eine subtile Bewegtheit aus und ihr Lächeln wurde eine Idee steifer. „Nein, ich habe dich vermisst“, sagte sie abrupt.
Ich nahm das so hin, schob das auf ihre melancholische Verfassung, und auf die Drinks. „Nele, das Einzige, was uns am Ende noch verband, war die gemeinsame Waschmaschine und ein Dampfbügeleisen. Wir hatten das tausendmal durchdekliniert, da war nichts mehr zu retten.“
„Das weiß ich“, sagte sie in einem Tonfall, als habe sie kein anderes Statement von mir erwartet. „Das eine ist der Verstand und das andere ist das Herz. Wenn es so schlecht läuft wie gerade bei mir, ist das, was vorher mies war, auf einmal ganz okay.“ Sie schüttelte wehmütig den Kopf und sah mich mit einem abwesenden Lächeln an. „Lass mich doch ein bisschen schwelgen, Frank. Bitte!“ Da streckte sie die Hand aus, umfasste meine Finger und lächelte ein bemühtes Lächeln.
Ich ahnte zwar, wovon sie sprach, sah das aber mit anderen Augen. Neles Nervenbahnen waren geschmiert und ihre Empfindungen rutschten mühelos heraus, aber das sagte ich ihr nicht.
Auf einmal lag etwas Trauriges in ihrem Gesicht, das einem unwillkürlich Empathie einflößte. Vielleicht war das ihre Masche, oder sie war traurig. Nele nahm einen weiteren Schluck, Leere trat in ihre Augen. Sie leckte sich langsam über die Lippen und sagte fast abwesend: „Ob wir heute wohl Kinder gehabt hätten?“
„Nele, was soll das.“
Sie errötete im Halbdunkel und sah mich voll an. „Dein Gesicht ist für mich wie ein offenes Buch, Frank. Leute beobachten gehört zu meinen Stärken. Du bist jetzt ein verheirateter Mann?“ Sie musterte mich, als würde ihr nichts entgehen, wahrscheinlich nicht einmal das Muttermal an meiner Leiste.
Ich leerte mein Glas. „Merkt man mir das an?“
Sie sah hinab, zunächst auf ihre, dann auf meine Hände. „Du trägst zwar keinen Ring, aber ... an der Art, wie du mich ansiehst.“
„Wie sehe ich dich denn an?“
„Begehrend und im selben Augenblick schüchtern, neugierig und relaxt zugleich. Da ist Verlangen in deinen Augen, aber du scheust das Spiel mit dem Feuer.“
„Es stimmt, ich bin verheiratet“, sagte ich. Nele atmete mit einem schwachen Geräusch aus, ihre Enttäuschung war kaum zu vernehmen. Oder doch, sonst hätte ich es vermutlich nicht registriert, schwerhörig, wie ich für manche Zwischentöne bin. Ihre nächste Frage kündigte sich schon an, deshalb fügte ich ungefragt hinzu: „Und meine Ehe ist kinderlos geblieben.“
Ein seltsamer Ausdruck von Rührung huschte über ihr Gesicht, fast unmerklich. Sie legte ihre Hand auf meinen Handrücken, klopfte mit dem Fingernagel an ihr leeres Glas und sagte: „Ich hole uns noch zwei, okay?“ Ich nickte und gab ihr mein Glas für ein Upgrade. Geschmeidig und mit langen, weichen Schritten ging sie zur Wohnzimmerbar. Sie bewegte sich mit dem gewissen Etwas. Der Stoff ihres Kleides umspielte bei jedem Schritt ihren Körper. Eindruck machen konnte sie schon damals. Irgendwann war mir klar geworden, dass Nele zu jenen Frauen gehörte, die Männer vom Schlag eines Industriellen oder eines Arztes zum Vorzeigen benötigten. Ich hätte da nicht reingepasst. Möglicherweise war ihr inzwischen aufgegangen, dass dies allein keine befriedigende Basis sein konnte. Aber was wusste ich schon? Ich hatte selbst Probleme genug.
Fenja kam zu mir, wir wechselten ein paar Worte, und ich sagte ihr, dass ich eine Freundin aus Hamburg wiedergetroffen hätte. Fenja zeigte sich erfreut, sie wollte mich mit ihrem Mann bekannt machen. Ich erzählte ihr, dass Raik und ich bereits Blutsbrüder waren und wir uns prima unterhalten hatten. Als Nele zurückkehrte, war Fenja bereits bei ihrem Mann auf der Tanzfläche. Nele lächelte. Ihre lose fallenden Locken umrahmten das schöne Gesicht mit tiefen Lachgrübchen und zielbewusstem Ausdruck in den Augen. Ihr Duft war schon vor ihr da, ich sog ihn ein. Sie hatte ihren ganz eigenen Duft von etwas Frischem, Natürlichem, mit einem Hauch von Frost. Er betäubte mich und schärfte gleichzeitig meine Sinne. Nachdem sie mir mein Glas gegeben und sich gesetzt hatte, nahm ich den Faden wieder auf. „Nach deinem Umzug nach Norderney dauerte es nicht lange, da lernte ich Susanne kennen.“
„Also schon ein halbes Jahr nach unserer Trennung?“
Ich überhörte das „schon“. „So ist es“, bestätigte ich ihr. „Susanne half mir über vieles hinweg.“ Jeder hat persönliche Weggabelungen, die das Leben zerteilen, und es gibt ein Vorher und ein Nachher. Das war in den frühen Jahren auch bei Antje und mir der Fall gewesen, nicht aber bei Susanne und mir – noch nicht. Nichts war endgültig, nichts in Stein gemeißelt. Es mochte daran liegen, dass wir noch verheiratet waren. War das Liebe oder ein Festhalten an Tradition? Wann weiß man so etwas?
„Hast du dir je Kinder gewünscht?“, fragte Nele.
„Susanne und ich waren uns darin einig, keine Kinder haben zu wollen. Wir waren sehr auf unsere Karrieren fixiert und wollten nicht davon abrücken. Vielleicht lagen wir mit dieser Einschätzung falsch, vielleicht hätten wir das Wagnis eingehen sollen. Kinder verändern sicherlich die Vorstellung vom Leben, aber wir sahen keine Veranlassung dazu. Es war alles gut, aber es blieb leider nicht gut“, räumte ich ein. Als ich es erzählt hatte, überkam mich ein Gefühl der Erleichterung.
Nele ging nicht auf meine Worte ein, ihr Blick war umherschweifend und ohne Ziel, als sie sagte: „Hier auf Norderney bekam ich Lust auf Familie, als ich im Sommer die kleinen Süßen am Strand sah. Und obwohl Jan einverstanden war, blieb mein Wunsch unerfüllt.“ Ihre kleine Kunstpause gab mir die Gelegenheit nachzufragen, aber ich nutzte sie nicht, weil auch das mich nichts anging. Sie erzählte es von selbst: „Jan nannte es Thrombose im Erektionskanal. Aber er war nicht impotent, sondern es war eine ... Unverträglichkeit. Und von
da an ging es abwärts mit uns beiden. Ich vermisste etwas ...“ Ihre Augen streiften meine, wie um zu überprüfen, ob ich ihr auch zuhörte, dann flackerte ihr Blick wieder durch den Raum, als sei sie auf der Suche nach etwas oder jemandem. Auf der Tanzfläche tanzte ein Paar, wie es unterschiedlicher nicht sein könnte. Es tanzte wie zwei unvereinbare Silhouetten, jede in ihrem Rhythmus, als folge eine dem Mars und die andere der Venus. Er, klein in grauem Anzug, weiß wie ein toter Kaplan, und sie, groß und bunt wie ein Paradiesvogel, braun gebrannt, als wäre sie unter der Sonnenbank ins Koma gefallen. Ich konnte sehen, wie Nele um die richtigen Worte rang, Worte, mit denen sie sich selbst erklärte, was für andere kaum nachvollziehbar war. Ich tippte auf ein schlechtes Gewissen. Ich hatte schon früher Menschen in solchen Situationen erlebt und ich wusste,
dass es gut ist, jemanden zu haben, mit dem man reden kann – und wenn es der Depp Frank Gerdes ist.
„Nele, was belastet dich? Gibt es jemanden in deinem Leben, der dir sehr wichtig geworden ist? Wichtiger als dein Mann?“
„Was?“ Halb den Kopf zur Seite gedreht, erstarrte sie in ihrer Bewegung. Sie schluckte schwer. „Nein. Was? Wie kommst du darauf?“
Ich wartete ab und trank. Ich hatte Zeit.
Nele kam damit raus. „Also, ich nicht für ihn, aber er für mich.“ Sie legte ihre flache Hand aufs Herz. „Hier drinnen.“
„Eine unerfüllte Liebe, sozusagen?“
Sie sah mir plötzlich direkt in die Augen. „Ich hab kein Etikett da draufgeklebt. Ich bin einfach glücklich mit ihm, ohne dass wir intim sind.“
„Da staut sich auf Dauer was an.“
„Was weißt du schon?“, fragte sie wütend und nahm einen gehörigen Schluck.
„Du kennst mich nicht, Nele. Was du über mich zu glauben meinst, stammt aus deiner Erinnerung. Es fehlen ein paar wichtige Kapitel.“ Ich wusste nicht, ob sie mir überhaupt zugehört hatte. Sie war sofort wieder bei ihrem Thema.
Sie beugte sich etwas nach vorn, sprach fast ins Glas hinein. „Was ich durchmache, kannst du nur erahnen, wenn du selber liebst. Und wer ehrlich liebt, bleibt immer allein.“
Fast hätte ich sie an den Diakon verwiesen – der brauchte noch Mitstreiter. Ihren Satz ließ ich stehen, für ihre Situation mochte der stimmen, wer wollte ihr das ausreden? An ihrem Blick sah ich, dass es genug Wodka für den Abend war. Aber das sagte ich ihr auch nicht, machte einen Umweg. Ich versuchte, meine Stimme auf einem entspannten Niveau zu halten, als ich sagte: „Lassen wir Erinnerung Erinnerung sein.“ Ich wünschte nur, ich hätte eine, an die zu denken es sich wirklich lohnte – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Ich fügte hinzu: „Es wird langsam Zeit für mich, es war ein langer Tag.“ Ich schaute sie fest an.
Sie nahm noch einen Schluck, schaltete blitzschnell um und sagte: „Das meinst du doch nicht im Ernst, dafür verdienst du eine Ohrfeige.“ Sie prustete los und sah mich über den Rand ihres Glases hinweg an. Sie senkte die Lider, bis die Iris halb verdeckt war. Eine Weile sah sie mich so an, bis sie lächelte. Ihr Lächeln war verführerisch, es ging aber auch noch als liebenswürdig durch.
Ich stellte mein Glas auf den Tisch, nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es ebenfalls auf den Tisch und sagte: „Wollen wir ...?“
Sie legte ihren schmalen Finger auf meine Lippen. Der blieb da einen Augenblick, der Wirkung wegen. Ihr Finger glitt an meinem Kinn hinunter, folgte
der Linie meines Halses. Dann strich sie mir mit der ganzen Hand leicht übers Gesicht, verweilte einen
Augenblick am Kinn, bevor sie die Hand wieder sinken ließ. Nele sah mich flehend an. Ihr Gesicht war nah und in dieser Sekunde ehrlich, wir blickten einander in die Augen. Ein paar lange, endlose Sekunden sahen wir einander an, aber es hatte nichts zu bedeuten.
„Ich will dich“, sagte sie mit ihrem Mund an meinem. Ich wich zurück und sagte: „Nele, es gibt da eine Frau, der ich etwas bedeute.“
Nele schaute leicht zur Seite. „Welcher denn? Deiner Susanne doch wohl nicht.“ Unsere Blicke trafen sich wieder. „Oder ist da noch eine, irgendwo?“ Eine lange, inhaltsschwere Pause. Ihr Mund war halb geöffnet und feucht. Ihre Lippen zuckten und hinter ihren Augen lauerten Tränen. Ich beantwortete ihre Frage nicht, ich spürte nur, wir waren einander fremd.
Nele besann sich und sagte: „Ich will auch los. Wollen wir ein Stück zusammen gehen? Ich glaube, ich finde den Weg ... gar nicht mehr.“
„Gut, ich bringe dich nach Hause, damit du mir unterwegs nicht verloren gehst.“
„Wie damals?“
„Nicht wie damals.“
Sie schenkte mir ein dünnes Lächeln und guckte geheimnisvoll. Ich lächelte noch schmaler zurück. Wir verabschiedeten uns von Fenja und ihrem Mann Raik, und ich winkte Tjark zu, der seinen Missionseifer inzwischen an jemand anderem ausprobierte.
An der Garderobe schwankte Nele etwas, sie stieß gegen das Pärchen, das entweder immer noch oder erneut in der Ecke herumknutschte. Die Frau erkannte ich, es war die mit den frostig-blauen Augen, ihn kannte ich nicht. Ich half Nele in ihren Mantel, sie hakte sich bei mir unter. Im Treppenhaus gingen wir langsam die Stufen hinab, dabei schaute ich sie an. Ihre geschwungene Nase, die vollen Lippen, der Hals, lang und weiß, umhüllt vom Kastanienbraun der gelockten Haare. Sie hatte sich in den Jahren fast nicht verändert.
„Müssen ... Sie mich denn immer ... so bekloppt anglotzen ... Herr Detektiv?“ Sie hatte gehörig einen im Kahn, aber das beeinträchtigte offensichtlich nicht ihr Erinnerungsvermögen. Meinen Beruf hatte sie also nicht vergessen.
Unten an der Haustür angekommen antwortete ich: „Ich nehme meinen Beruf sehr ernst, verehrte Dame.“
„Na dann, mein großer Detektiv“, hauchte sie mir geheimnisvoll zu, „bring mich mal schön nach Hause und pass gut auf mich auf!“ Sie kicherte. Aus ihrem Kichern perlten die Promille, und ihre Augen waren groß und hungrig.