Kapitel 14

Das Smartphone meldete sich. Deeken war dran. Er klang gestresst: „Ich muss mit dir reden, bevor das LKA hier aufschlägt. Wie schnell kannst du hier sein?“

„Na ja, ich bin mitten in einer Besprechung ...“

„Besprechung?“, fuhr er dazwischen. „Ich hör doch, dass du draußen bist. Sind das nicht Möwen im Hintergrund?“

„Was du da hörst, ist ein Häcksler.“

„Himmel! Was machst du denn mit den Viechern?“

Bevor ich antworten konnte, hatte Deeken bereits aufgelegt. Ich nahm das Rad von der Kette und radelte über die Beneke- und die Frisiastraße zur Polizeistation. Auf dem Weg dorthin zerbrach ich mir den Kopf darüber, was ich Deeken erzählen konnte, ohne aus der Deckung und damit in die Schusslinie zu geraten. Der Wind aus Ost frischte auf und fegte die wenigen Wolken beiseite. Sonne und Frost in einem lautlosen Duell, Väterchen Frost behielt die Oberhand. Ich radelte gegen die Kälte an, die mir seit der Garage in die Knochen gekrochen war. Unterwegs kaufte ich mir den Ostfriesischen Kurier, schaute nach, ob es nähere Erkenntnisse zu den beiden Mordfällen gab – aber auch hier nichts Neues.

Ich fragte mich, ob man vor einer Polizeiwache sein Fahrrad abschließen musste, ließ es nicht darauf ankommen und sicherte es mit dem Kettenschloss. Mit wenigen Schritten gelangte ich in den Eingangsbereich, in einen Raum mit Anmeldung auf der linken Seite. Hinter der Glasfront standen Schreibtische, zwei Beamte liefen aufgeregt hin und her. Einer kam direkt auf mich zu und sah mich an, wie man einen ansieht, nachdem man freundlich gefragt hat, womit man helfen kann, nämlich abwartend. Dem Namensschild auf der Brust entnahm ich, dass sein Name Schröder war. Sein schwarzes Hemd hatte mehrere ungleichmäßige Falten, als sei es gerade auf dem Kopierer gebügelt worden. Aber was wusste ich schon, was in den hinteren Räumen los war. Jedenfalls erklärte ich Herrn Schröder durch eine Öffnung in der Scheibe, dass Hauptkommissar Deeken mich erwartete. Die Antwort kam prompt: „Da müssen Sie sich einen Moment gedulden. Hauptkommissar Deeken ist gerade in einer Besprechung. Bitte nehmen Sie dort so lange Platz.“ Er zeigte auf eine kleine Stuhlreihe hinter mir. Gleichzeitig vernahm ich durch eine angelehnte Tür Deekens aufgebrachte Stimme und eine andere, die beruhigend auf ihn einredete.

Mit einer Armbewegung zur Tür fragte ich: „Sagen Sie, ist das LKA schon da?“

Schröder schaute verdutzt, und als auch er den tumultartigen Lärm hörte, schlug er vor: „Vielleicht ist es besser, wenn Sie später wiederkommen.“

Ich nickte den beiden zu, ging nach draußen und sah, wie sich in diesem Moment jemand an Antjes Fahrrad zu schaffen machte. Mit dem Bolzenschneider war der Mann damit beschäftigt, das Kettenschloss zu durchtrennen. Ich lief auf ihn zu. „Schluss damit!“ Mit Wucht drückte ich seinen Arm runter, das Werkzeug schepperte auf den Boden. Er versuchte zu türmen, ich hielt ihn am Arm fest und sagte laut: „Hiergeblieben! Ich glaub, es hackt!“

Er trat nach mir, ich drehte ihm den Arm auf den Rücken. Der etwa Dreißigjährige in Armyjacke und kurzem Haar schrie auf, spuckte wüste Beschimpfungen aus. Ich bog seinen Arm noch höher, er krümmte sich unter dem Schmerz. Ich hatte Glück – zur Polizei war es nicht weit. Zusammen gingen wir die wenigen Stufen empor zurück in die Wache. Die Beamten schauten verwirrt. Ich erklärte knapp, warum ich so schnell wieder da war. Der Sachverhalt wurde aufgenommen, ich hinterließ meine Personalien. Der Mann durfte bleiben. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Büroflur. Drei Männer und eine Frau traten in den Eingangsbereich, alle vier grüßten die Beamten hinter der Scheibe und gingen schnellen Schrittes dem Ausgang entgegen. Die junge Frau trug eine enge, schwarze Jacke, schwarze Jeans, die blonden Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden, und ich kannte sie. Auf die Schnelle blätterte ich meine interne Personenkartei durch und wurde fündig: Ich lernte die Polizeianwärterin vor vier Jahren im Hamburger Hafen kennen, nach Abschluss eines besonders schweren Falls von Plagiatimporten.

Ich sprach sie an: „Inga? Inga Bergholz?“

Sie stoppte und sah mich an. „Ja? Und wer sind ... nein, warten Sie, ich kenne Sie! Frank Gerdes, der Hamburger Ermittler für Wirtschaftskriminalität!“

Ich lächelte. „Ganz genau. Sie haben ein gutes Gedächtnis!“

„Beruflich bedingt. Was machen Sie hier? Wollen Sie Ihren ehemaligen Studienkollegen besuchen oder ihm auch gleich auf die Sprünge helfen?“

„Hat er das nötig?“, antwortete ich mit einer Gegenfrage.

Sie guckte kritisch.

Ich beantwortete die Frage selbst: „Hat er.“

Inga sagte: „Ganz im Vertrauen. Uns beim LKA in Hannover reißt langsam der Geduldsfaden.“

Ich hob die Augenbrauen. „Sie sind jetzt beim LKA – das ist ja ein enormer Karrieresprung.“

„Nicht ganz. Ich bin derzeit noch Kommissaranwärterin.“ Sie hob zwei Finger. „Duales Studium.“

Einer ihrer Kollegen kam zurück. „Inga, kommst du?“, fragte er.

„Bin gleich da“, antwortete sie ihm, und wieder an mich gerichtet: „Erst die Polizeiakademie, jetzt das Studium in Hannover, ich bin eine dieser ewig Studierenden.“

„Wichtig ist, was hinten dabei herauskommt“, ermutigte ich sie.

„Ja, das sage ich mir auch immer wieder. Und das gilt auch für den Hauptkommissar hier auf Norderney.“ Frau Bergholz lachte glockenklar, und ich stimmte mit ein, was den Glockenklang allerdings verdarb. Sie schaute auf ihre Uhr und sagte: „Ich muss weiter, der Helikopter startet gleich. Machen Sie’s gut!“ Wir gaben uns die Hand. „Vielleicht sieht man sich irgendwann wieder, es würde mich freuen.“

„Mich auch. Alles Gute für Sie und viel Erfolg fürs Studium!“

„Danke!“

Inga ging weiter durch nach draußen, ich warf den Beamten einen fragenden Blick zu und zeigte in den Flur. „Darf ich jetzt zu ihm?“

Schröder nickte, er sagte: „Die vierte Tür rechts.“

Ich ging geradeaus durch den Flur. Auf dem Fußboden reflektierte mattes Licht. Es roch nach einer Mischung aus Putzmitteln und Nikotin. Die Türen zu den Büros standen offen, die zu Deekens Büro auch. Ich blieb stehen, sah hinein. Es war ein kühler, großer Raum, angefüllt mit Schwaden von Nikotin, ein Raum mit hellen Wänden und einem Fenster mit halb heruntergelassenen Jalousien. Darunter flache Büroschränke mit unzähligen Aktenordnern. Links hohe, geschlossene Aktenschränke, rechts Büroküche mit Boiler, Kühlschrank, Mikrowelle, darüber ein Suchtpräventionsposter aus den Achtzigerjahren mit nackter Heroinspritze und lasziv dreinblickender, welker Rose. Dieses Arbeitszimmer war nicht unbedingt eine Verbesserung zu seinem Cloppenburger Büro, aber es gab weniger Staub, was vielleicht daran liegen konnte, dass Deeken gern Staub aufwirbelte. Deeken saß in der Mitte des Raumes an einem klobigen Schreibtisch mit Stapeln von Papier, Drucker, Laptop und einem Reiseprospekt. Er hockte da wie der Sachbearbeiter einer kleinen
Inselbank, wo kaum größere Umsätze zu erwarten waren als die Auszahlung eines Kredits für den Kauf eines gebrauchten Kutters. Vor seinem Tisch im Halbkreis ein paar Stühle, auf denen vermutlich vorhin die Leute vom LKA gesessen hatten. Oberkommissar Ralf
Vaske war auch zugegen, wegen des Qualms hatte
ich ihn erst nicht bemerkt. Er war gerade dabei, das Fenster zu öffnen, um frische Luft hereinzulassen, und Deeken beobachtete ihn dabei. Ich wartete das Schauspiel ab. Deeken schwenkte seinen Bürostuhl herum, rieb sich mit seinen Maurerhänden das Gesicht
und blickte mich an. Die Überraschung war ihm anzusehen.

Als er sich gefasst hatte, sagte er: „Junge, was stehst du da herum? Komm, setz dich!“ Deeken zeigte auf die Stühle. „Such dir einen aus!“ Er legte seine Hände flach auf den Tisch. Es glitzerte in seinen Augen, er schien in strahlender Laune zu sein, oder aber er mimte den gut gelaunten Inselpolizisten. „Wie lange wolltest du mich denn noch schmoren lassen?“, fragte er.

„Bis du durch bist“, antwortete ich und setzte mich auf einen der Stühle zwischen Schreibtisch und Tür. Er grinste gequält. Ich schaute demonstrativ um mich herum. „Das LKA war also schon da? Es tut mir leid, dass ich es nicht eher geschafft habe.“

Deeken hob beschwichtigend die Hände. „Jaja, ist schon gut! Um rechtzeitig hier zu sein, hättest du wohl mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sein müssen.
Wer konnte denn ahnen, dass die mit dem Heli anreisen.“

Ein Windstoß zog durch den Raum, der Reiseprospekt flog mir entgegen, ich fing ihn auf. Deeken wandte sich mit einer Pranke am Nacken seinem Kollegen zu. „Mach das Fenster zu, Vaske! Es zieht wie Hechtsuppe.“ Und zu mir sagte er: „Vaske bereitet sich auf seine Barentssee-Expedition vor. Nächsten Monat soll’s losgehen. Für heute steht Abhärtung auf dem Programm.“

Vaske räusperte sich, er sagte: „Es ist kein gutes Zeichen, wenn von Anwesenden in der dritten Person gesprochen wird“, und während er das Fenster zumachte, stellte er klar: „Außerdem handelt es sich dabei um meinen Urlaub auf Island, den ich mir redlich verdient habe!“ Daraufhin verließ Vaske das Büro, ohne die Tür zu schließen. Deeken sah resigniert zur Decke.

„Tür zu!“, bellte er ihm übellaunig hinterher, und er hatte beste Chancen, noch heute einen Herzinfarkt zu bekommen. Vaske legte den Rückwärtsgang ein, er zog die Bürotür zu. Wir waren unter uns. Über meine Schulter hinweg schaute Deeken in weite Fernen, er sagte: „Eigentlich wäre Vaske jetzt schon weg, aber geht ja nicht. Urlaubssperre.“ Er wechselte unvermittelt das Thema. „Du erinnerst dich an unsere Abmachung?“ Bei dieser Frage hob er das Kinn, als wäre er soeben zum Polizeipräsidenten ernannt worden.

Ich lächelte mild, in dem Wissen, dass die Abmachung darin bestand, dass wir uns gegenseitig mit Infos versorgen würden. Ich fragte: „Brennt dein Stuhl schon oder sind die aus Hannover gekommen, um die Lunte anzuzünden?“

Wir saßen da und sahen uns über den Schreibtisch hinweg eine lange, stille Sekunde an. Endlich bewegte Deeken sich, schob ein paar Papiere zusammen und stapelte sie, als sei er unschlüssig, wie er den Besuch des LKA rechtfertigen sollte. Er verdrängte das einfach. Zähneknirschend kam er damit heraus, was er auf dem Herzen hatte: „Die Kokainbande ist uns entwischt, die Fahndung lief ins Leere.“

„Das stand schon in der Zeitung. Ich vermute, die sind mit dem Motorboot auf eine Nachbarinsel abgehauen?“

Deeken nickte. „Nach Baltrum und weiter. Wir wissen noch nicht, wohin.“

„Muss ich nett sein oder geht es auch mit Direktheit?“

„Ich habe nicht bemerkt, dass du unter Schüchternheit leidest, Gerdes. Überspring einfach den Refrain.“

„Du hast es verbockt! Ich habe dir einen handfesten Tipp gegeben, und du hast es vermasselt!“

Er hüstelte. „Nee, wir ...“

„Wir ...?“, grätschte ich dazwischen.

Er befingerte das Papier auf seinem Tisch und sagte nach einer Bedenksekunde: „Ich ... ich hab da was unterschätzt, das gebe ich zu, aber verbockt? Nee ...“

„Mensch, Deeken! Ihr hättet sofort die Handynummern in der entsprechenden Funkzelle identifizieren und mit dem IMSI-Catcher verfolgen können. Simples Einmaleins der Polizeiarbeit! Muss ich dir das erzählen?“

„Die Nummern sind uns jetzt bekannt und wenn sie ihre Handys wieder einschalten“, er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, „gehen sie uns ins Netz!“

„Wenn!“, sagte ich. „Falls“, sagte die Befürchtung in meinem Bauch. Wenn sie Prepaidhandys nutzten und diese abgeschaltet wurden, gäbe es keine Möglichkeit, die Täter zu verfolgen.

Der Hauptkommissar drückte einen Knopf seiner Telefonanlage. Wenige Sekunden später öffnete sich die Tür, eine Polizistin steckte ihren Kopf hindurch.

Deeken sagte in freundlichem Ton: „Die Auflistung mit den SIM-Karten-Nummern, bitte!“ Das Wörtchen „bitte“ war neu in seinem Wortschatz. Die Beamtin ließ die Tür offen und verschwand. Deeken erzählte: „Die Identifizierung der Handynummern brachte uns ein ganzes Stück weiter.“ Pause. „Da staunste, was?“ Wir warteten auf die Liste und ich blickte in sein gespanntes Gesicht. Die Kollegin kam wieder herein und legte einen grauen Ordner auf Deekens Schreibtisch – und das im digitalen Zeitalter. Er nickte sie heraus, schlug den Ordner auf und blätterte Seite für Seite durch Computerlisten. Mit der linken Hand zog er sich eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie sich zwischen die Lippen und brachte sie zum Glühen. „Weißt du eigentlich, wie der Schutzpatron der Raucher heißt?“, fragte er.

„Eyjafjallajökull?“, schlug ich vor.

„Nein – Helmut Schmidt!“ Er klopfte auf den Tisch. „Haha! Gut, was?“

Ich sagte nichts.

Deeken hielt plötzlich in der Bewegung inne. „Hier ist es! Die Handys dieser Bande sind allesamt auf eine Firma zugelassen. Die Firma heißt Domus-Monitor GmbH. Sagt dir das was? Wohl kaum, woher denn auch.“

Es war tatsächlich eine kleine Überraschung, aber mein Staunen hielt sich in Grenzen. „Der Name sagt mir etwas. Und weißt du, wer Vizegeschäftsführer dieser Gesellschaft ist?“

Er behielt die Zigarette zwischen den Lippen und knallte mit der flachen Hand auf den Ordner. „Hör mal, Sportsfreund. Ich frage etwas, und du stellst eine Gegenfrage. So kommen wir nicht weiter!“ Er regte sich ab. „Du weißt, was die Firma hier treibt?“

„Die Domus verwaltet Kauf und Verkauf von Immobilien und Grundstücken auf Norderney, als unabhängige Instanz sozusagen“, gab ich mein kürzlich gesammeltes Wissen zum Besten.

„Bravo, Gerdes! Und jetzt kommt es: Gronewolds Anwesen am Nordstrand steht bei denen auf der Liste! Das geht jetzt auch über den Ladentisch.“

„Für ein aufgeblasenes Hotelprojekt, ich weiß.“

„Hm.“ Ein kurzes Paffen. „Aber weißt du auch, wer auf sein Vorkaufsrecht besteht?“

„Vorkaufsrecht? Davon weiß ich nichts, aber du wirst es mir gleich erklären.“

„Es gibt da so eine alte Grundstücksurkunde aus dem neunzehnten Jahrhundert, darin ist das Vorkaufsrecht der St.-Ludgerus-Kirche verbrieft. Wenn die Kirche den Zuschlag erhält, ist der Profit für den Grundstückseigner verschwindend gering, denn die Kirche zahlt nur den aktuellen Verkehrswert. Und weißt du, wer legitimer Vertreter der Kirche während der Grundstücksverhandlungen war?“

Ich machte ein begriffsstutziges Gesicht. „Lass mich raten: Pfarrer Martin Sander?“

In Deekens Gesicht ging die Sonne auf. „Treffer! Also ist Sanders Mörder in der Kokainbande zu finden, weil die mit der Domus-Monitor gemeinsame Sache machen. Liegt das nicht ganz klar auf der Hand? Es ist jetzt nur eine Frage der Zeit, bis wir die einkassiert haben.“

„Und was ist mit dem Mord an Doktor Jacobs?“

„Nun, wir haben eine weitere Spur, aber die Beweislage ist noch recht dürftig. Es gibt hier eine sehr rege Bürgerinitiative. „Wir für Norderney“ heißen die, und die sind nicht zimperlich, wenn es um die Durchsetzung von Interessen geht. Vielleicht gibt es da den ein oder anderen, der selbst gerne Richter spielt.“ Er zog tief an seiner Zigarette und ließ den Dampf zur Decke ab. „Vielleicht gehören die Mordfälle gar nicht zusammen! Zwei unabhängige Morde, die nur zufällig zur gleichen Zeit passierten. Du musst nicht immer nur linear denken, Gerdes, sondern auch diagonal!“ Deeken zeichnete mit dem Finger eine schräge Linie in die Luft, dabei blickte er zufrieden. Ich versuchte seine Selbstzufriedenheit mit skeptischen Blicken niederzuringen, aber da war nichts zu machen.

„Na dann viel Spaß bei der Suche.“ Ich klatschte mit beiden Händen auf meine Oberschenkel und erhob mich.

Deekens Miene spielte Entrüstung, sein dicker Zeigefinger kam wieder hervor und peilte mich an. „Nun werd mal nicht zynisch, Gerdes. Bleib sitzen!“

Ich ließ mich wieder fallen und begründete meinen Zynismus: „Das LKA war also hier, um dir zu gratulieren? Die teilen deinen Enthusiasmus, oder ist es nicht vielmehr so, dass sie dir auf die Füße treten, weil du nicht wirklich vorankommst?“

Ich sah den Hauptkommissar an, aber der sah ins Leere. Nie würde er das zugeben, und das erwartete ich auch nicht. Er tat einen Zug und dampfte aus allen Poren. Stirnrunzelnd sagte er: „Siehst du, das ist der Unterschied zwischen euch Amateuren und uns Profis. Du bist einfach nicht in der Lage, das Große und Ganze zu sehen. Aber, na ja, darum bist du ja auch Privatermittler geworden.“ Ich ließ die Herabwürdigung wie Schwefelwolken an mir vorüberziehen. Er fügte hinzu: „Das LKA war hier, um mir Rückendeckung zu signalisieren. Ende der Durchsage.“

Ich drehte meine Handflächen nach oben. „Vier Leute zum Signalisieren? Die Probleme müssen gewichtig sein. Hätte da nicht ein Anruf aus Hannover gereicht? Stattdessen hast du die angebotene Verstärkung sofort wieder nach Hause zurückgeschickt. Die waren doch höchstens eine Viertelstunde hier.“

Er wollte vom Thema weg, ihm war etwas eingefallen. „Gerdes, du fragtest mich vorhin, ob ich wüsste, wer der zweite Geschäftsführer der Domus-Monitor ist? Ich will es wissen!“

„Es ist Jan Gronewold persönlich.“

Beinahe wäre ihm der kleine Stummel in den Hals gerutscht. Er erhob seine leeren Pranken und sagte: „Das ist doch bestimmt eine deiner Mutmaßungen. Kannst du das beweisen?“ Er ließ die Pranken wieder sinken.

Ich erzählte ihm so gut wie alles. Diese Situation war ja nicht ganz neu für mich. Manchmal hatte ich etwas ausgelassen, es für mich behalten, weil ich wusste, dass Deeken nichts damit anfangen konnte. Jetzt war ich an einem Punkt angelangt, wo das nicht reichte. Ich erzählte ihm von Bonno Cornelius, ich erzählte ihm von der Krankenakte Julia Heymann und ihrem Suizid. Ich erzählte vom mutmaßlichen Babyhandel und von der Verbindung zwischen Pfarrer Sander und der Klinik. Deeken hatte sich während meiner Aufzählung nicht bewegt, aber er räusperte sich und brummte auf eine Weise, die mir zu verstehen gab, dass er von dem, was er hörte, verblüfft war. Weiter erzählte ich von meiner Bekanntschaft mit Nele Hansen und dem unglaublichen Zufall, dass Nele heute die Frau von Jan Gronewold war. Unverändert verharrte er in der Bewegungslosigkeit mürrischen Duldens. Um ihn aus seiner Schockstarre zu befreien, zeigte ich ihm die Fotos, die ich in Gronewolds Homeoffice gemacht hatte. Auf einmal kam Leben in ihn.

„Wo hast du die her?“, fragte er, wieder ohne eine Miene zu verziehen.

„Die habe ich in Gronewolds Büro gemacht.“ Ich verzog genauso wenig eine Miene wie er.

Er war kurz davor, aufzuspringen. „Das ist illegal! Was zum Henker hast du da bloß getrieben?“

„Der ist mir zwar nicht begegnet, aber dafür einige interessante Geschäftspapiere und eine Auflistung, die sowohl Geburten als auch die Übergabe von Babys an fremde Paare dokumentiert.“ Ich zeigte auf die letzte Spalte. „Und hier ist ein Haken für die erfolgte Zahlung. Ich konnte die Tabelle nicht da zurücklassen, ohne sie wenigstens fotografiert zu haben.“

Deeken kratzte sich an der Stirn. „Warum sollten sich Paare Babys kaufen, wenn sie sie doch adoptieren könnten?“

„Ganz so einfach ist das nicht“, wandte ich ein. „Es gibt Regeln, und wer bestimmte Kriterien nicht erfüllt, darf keine Kinder adoptieren.“

„Und welche Kriterien sind das? Kein Vortrag, Gerdes, die Version für Schnelldenker!“

Ich gab die Zusammenfassung: „Gründe für eine Ablehnung wären ein dickes Strafregister zum Beispiel oder psychische Probleme eines Elternpaares,
das noch zu sehr an einem verstorbenen, leiblichen Kind hängt. Oder bei Krankheit, Eheproblemen, oder ein ungeregeltes Einkommen. Charakterliche Untauglichkeit und Suchterkrankung wären weitere Hinderungsgründe. Entscheidend ist letztlich das Urteil des Jugendamtes.“

„Zu hohes Alter?“, warf Deeken ein.

„Ein Höchstalter für Adoptiveltern besteht formal nicht, aber es gibt interne Regelungen, damit es zum Alter des Kindes passt.“

„Du kennst dich aber gut mit solchen Dingen aus, Gerdes!“ Seine Augen blickten forschend.

„Susanne und ich hatten uns erkundigt“, sagte ich
in mattem Ton, damit er merkte, dass es ihn nichts anging.

„Soso. Tja, dann ...“ Er rieb die Hände aneinander mit einem knirschenden Geräusch wie von Schmirgelpapier. „Es geht jedenfalls voran. Mehrere neue Aspekte und ein Skelett voller Verflechtungen. Und gegen Gronewold haben wir mehr als genug in der Hand, um wenigstens eine Hausdurchsuchung bei ihm zu veranlassen. Ich werde mal mit dem Staatsanwalt reden.“

Er hielt einen Moment inne, und ich nutzte die Pause, um ihm in die Seite zu fahren: „Was versprichst du dir von diesem Aktionismus? Glaubst du wirklich, Gronewold lässt Niedrigbieter mit Vorkaufsrecht um die Ecke bringen, nur weil er sich von anderen Investoren mehr Gewinn verspricht? Ist die These nicht etwas gewagt? Und was ist mit dem Babyhandel, wo ist die Verbindung zu Doktor Jacobs? Was fehlt, sind Indizien und Motive.“

Er beugte sich angestrengt über den Schreibtisch und fixierte mich mit seinem Blick. „Das erzählst ausgerechnet du mir? Vielleicht war der liebe Onkel Doktor auch einer dieser Niedrigpreisbieter, im Namen der Klinik in katholischer Trägerschaft. Schon mal darüber nachgedacht? Begreifst du nicht, Gerdes, dass das alles zusammenhängt?“

„Das ist mir zu schwammig.“ Mein Einwand passte ihm nicht, aber das war mir egal. Ich wechselte das Thema: „Deeken, ich habe dir einiges zugesteckt, jetzt bist du an der Reihe, für mich etwas zu tun.“

Er nickte stumm. Widerwillig drückte er seine Zigarette aus und nahm einen Kugelschreiber zur Hand. Es klopfte an der Tür. „Ja?“, rief Deeken. Kollege Vaske kam herein. „Raus!“, kläffte sein Vorgesetzter, Vaske trat den Rückzug an und schloss die Tür hinter sich. Deeken beugte sich schreibbereit vor. Er stellte klar: „Aber alles im Rahmen der Gesetze, Gerdes!“

„Selbstverständlich.“

„Schieß los, was kommt drauf auf deine Pizza?“ Er bediente sich wieder an seiner Glimmstängelsammlung, er brachte die Tabaksäule zum Qualmen.

„Es geht um eine Alibiüberprüfung.“

Er legte das Feuerzeug weg und machte eine vage Handbewegung. „Wenn das man nicht meine Regelarbeitszeit überschreitet.“

Ich legte los: „Es geht um Keno Schnieder. Ich weiß nicht, wo er heute lebt, jedenfalls ist er gebürtiger Norderneyer. In den Achtzigerjahren lernte er in der Nähe von Stuttgart den Beruf des Schlossers. Heute müsste er um die fünfundvierzig Jahre alt sein. Es wird für dich kein Problem sein, ihn zu finden, vielleicht über seine Eltern. Und eine Zusatzinfo: Am 22. April vergangenen Jahres stürzte Margarete Heymann, die Mutter von Julia, während einer Klettertour in den Schweizer Alpen in die Tiefe. Wo war Keno zu diesem Zeitpunkt, und war es tatsächlich ein Unfall? Vielleicht kannst du etwas darüber in Erfahrung bringen. Kontaktiere die Schweizer Behörden, das ganz große Besteck.“

Deeken protestierte. „Das geht nicht unbemerkt, damit übertreibe ich es mit der Kompetenz.“

„Ein Tipp von mir, gehe damit zu Inga Bergholz vom LKA.“

Er machte dicke Backen. „War die nicht eben noch hier?“

Ich nickte und fuhr unbeirrt fort: „Kommen wir nun zum Todeszeitpunkt Pfarrer Sanders im Dezember.“

„Das war der Zwanzigste“, warf Deeken ein.

„Was machte Keno Schnieder an ebendiesem Tag und auch zum Zeitpunkt des Mordes an Doktor Jacobs am 16. Januar?“ Deeken notierte die Daten, dass es auf der Tischplatte kratzte.

Er hob die Augenbrauen. „Was versprichst du dir davon?“ Er drehte am Kuli herum. „Sind das nicht wieder neue Sackgassen?“

Ich dachte laut nach: „Neue Wege entstehen, indem wir sie gehen.“

„Die Prosa ist unüberhörbar, Gerdes.“ Der Kuli flog auseinander. „Nietzsche?“

Ich zeigte auf den Reiseprospekt. „TUI.“

„Du verrennst dich da in Einzelheiten.“ Er schob auf dem Tisch die Einzelteile des Kulis zusammen.

Ich sagte: „Wenn ich mich verrenne, werde ich das zu spüren bekommen. Ich fürchte, dass diese Fälle auf eine Weise in Verbindung stehen, die wir noch nicht durchschauen.“

Deeken schraubte den Schreiber zusammen und widmete sich einem anderen Papierstoß, als wollte er Zeichen für eine Beschlussfassung setzen und zum Ende kommen. Ich erhob mich von meinem Stuhl und steckte die Hände in die Taschen. Schließlich winkte er müde mit einer Hand und zischte: „Und nun weggetreten zum Zapfenstreich, Gerdes. Es war ein langer Tag.“

Ich sah auf die Uhr und sagte: „Es ist erst Mittag!“ Als ich meine Hand auf die Türklinke legte, räusperte er sich, ich drehte mich zu ihm um.

Er sagte: „Sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe, melde ich mich.“

„Das ist ein Wort.“

Er drückte seinen Stummel aus und fragte: „Was zahlst du eigentlich an Finderlohn, Gerdes, wenn ich diesen Keno Schnieder gefunden habe?“

Ich sagte: „Einen Single Malt am Jüngsten Tag.“

„Und du meinst, ich brauche dann einen?“

„Einen mit extra viel Eis.“ Ich öffnete die Tür. „Bis zum nächsten Mal“, sagte ich und ging hinaus. Insgeheim hoffte ich, ihm nicht allzu schnell wieder zu begegnen. Aber ich sollte mich irren. In nicht einmal sieben Stunden würden wir uns unter scheußlichen Umständen wiedersehen ...