Kapitel 18
Der Wecker ging, aber ich hatte nicht viele Stunden geschlafen. Es war ein unruhiger Schlaf. Meine Zunge lag pelzig im Mund wie eine ungeschälte Kiwi. Ich ließ die Beine vom Bett rutschen, setzte die Füße auf den Teppichboden und blieb, das Gesicht in den Händen, vornübergebeugt sitzen. In meinem Kopf hämmerte es. Ich stand im Zeitlupentempo auf, zog am Rollo und sah eine weiße Wand vor mir. Nebel vor dem Fenster, Nebel in meinem Kopf. Ich spazierte ins Bad und schaute in den Spiegel. Das Veilchen war gepflückt, ich hatte es ausreichend gekühlt. Nach Dusche und Rasur ging es in die Küche, ich nahm ein zusammengewürfeltes Frühstück ein. Nach der Koffeinversorgung meiner Gehirnzellen schnappte ich mir das Telefon und rief Deeken an. Er war noch nicht an seinem Platz oder er ließ sich verleugnen. Ich schrieb Antje ein paar Zeilen aufs Handy und fragte, ob es Neuigkeiten zu ihrer Überfahrt heute Abend gebe. Ich hatte das Smartphone noch nicht aus der Hand gelegt, da klingelte es. Antje fragte, was denn auf Norderney passiert sei. Sabine Bakker habe angerufen und ihr erzählt, dass Jan Gronewold erstochen aufgefunden wurde, diese Nachricht verbreite sich in Windeseile. Ich gab Antje eine grobe Zusammenfassung der Ereignisse. Antje war froh, dass ich heil aus der Sache herausgekommen war, und bat mich, gut auf mich aufzupassen. Gegen Ende des Gesprächs bestätigte sie, dass die Fähre gegen achtzehn Uhr einlaufen würde. Ich lächelte ihr durch die Leitung zu und hoffte, sie würde es hören. Wir legten auf.
Danach versuchte ich es ein letztes Mal bei Deeken, aber es war kein Durchkommen. Gegen neun Uhr fünfundvierzig verließ ich die Wohnung, der Termin mit der ehemaligen Inselhebamme Meina Sigges stand an. Ich nahm Antjes Rad und fuhr vom Damenpfad über die Beneke- und die Nordhelmstraße in die etwa drei Kilometer entfernte Lippestraße. Der Morgen war schimmernd. Über den Straßen und zwischen Häusern hingen Nebelbänke. Der Frost hatte aufgehört, aber der Boden war nass und rutschig. Am Straßenrand stand ein Auto mit geöffneter Motorhaube, der Nebel verursachte Fehlzündungen. Eine Straße weiter schob die Stadtreinigung Schneehaufen zusammen. Mir begegneten fröhlich pfeifende Menschen, die ihren Alltagsbeschäftigungen nachgingen. Ein Spiegel des Absurden: Am Vorabend stirbt ein Mensch auf grauenvolle Weise, am nächsten Tag wird zusammengefegt, und das Leben geht weiter.
Die beschauliche Umgebung der Lippestraße war bisher vor überteuerten Investitionsburgen verschont geblieben. Ihre Tentakel konnten die Immobiliengesellschaften bis hierher noch nicht ausstrecken. In der Nordhelmsiedlung sahen die Häuser mehr oder weniger gleich aus. Roter Klinker mit Walmdächern, aber auch neuere Häuser waren darunter, insgesamt ein harmonischer Anblick. Die Grundstücke machten einen gepflegten Eindruck. Das alleinstehende Haus von Frau Sigges war wohl eines der älteren, es war seit den Dreißigerjahren nur unwesentlich verändert worden, jedenfalls wirkte es so. Das Haus mit dem grauen Putz und der schwarzen Hundertneununddreißig auf heller Emaille stand abseits, einen Steinwurf von einem Jugendgästehaus entfernt. Der Nebel tropfte wie Tau vom schmalen Vordach des Eingangs. Rechts war eine schneebedeckte Rasenfläche, im Beet kugelrunder Buxus mit weißen Mützen, im Hintergrund kurze, schräge Bäume. Weit dahinter ein fast nebelfreier Blick auf Dünen mit großen Schneeflecken, der Himmel darüber war blass.
Ich stellte das Rad auf den Ständer, schloss es gewissenhaft ab, ging zur einfachen Haustür und drückte den elfenbeinfarbenen Klingelknopf mit feinen Rissen. Ich vernahm ein Geläut wie von fernen Kapellchen. Drinnen rührte sich etwas, schlurfende Schritte kamen näher. Die Tür öffnete sich einen Spalt, eine Kette hielt sie fest, ich sah in Dunkelheit und Leere. Eine Stimme hinter der Tür sagte: „Wer ist da?“
„Ich bin es, Frau Sigges, Frank Gerdes. Wir waren für heute zehn Uhr verabredet.“
„Ja, einen Moment bitte.“ Sie machte die Tür zu, die Kette wurde ausgehängt, die Tür ging ganz auf. Meina Sigges’ Gesicht zeigte eine seltsame Mischung aus Anspannung und Erleichterung. „He!“ Ihre Anspannung legte sich. „Sie haben es nicht vergessen“, sagte sie in einem Ton, als erwarte sie die Auszahlung ihrer Festgeldeinlage nach dreißig Jahren. Ihr massiver Körper war in eine blau karierte Kittelschürze gezwängt, damit füllte sie den gesamten Türrahmen aus.
Ich sagte: „Wenn ich etwas zusage, dann halte ich es für gewöhnlich ein.“
„Das ist heutzutage nicht selbstverständlich, Herr Gerdes.“ Wir tauschten einen Händedruck. „Dann kommen Sie mal rein!“ Ihr Mund verzog sich zu einem unsicheren Lächeln, die Augensäcke schimmerten silbrig. Sie drehte sich um, ich stieg die einzige Stufe hinauf, trat in den Flur und drückte die Tür mit den schmalen Fenstern hinter mir zu. Ich folgte Frau Sigges durch einen dunklen Flur. Rechts führte eine Holztreppe in den ersten Stock. Frau Sigges hatte Probleme beim Gehen, sie humpelte etwas. Ihr rechtes Bein wirkte steif. Sie hatte 4711 aufgelegt, was mir kleine Atemaussetzer bescherte. An der Garderobe überreichte Frau Sigges mir feierlich einen mit Ornamenten verzierten Bügel, mit dem sie mich auch zum Ritter hätte schlagen können. Ich legte ab, steckte brav den Bügel in die Jacke, Frau Sigges platzierte ihn neben ihrem Pelzmantel, den ich aus der Kirche kannte. Sie ging mir voraus in das Zimmer rechts und winkte zum Zeichen, dass ich ihr folgen sollte. Im Vorbeigehen schaute ich links durch eine halb offene Tür in ein Schlafzimmer. Blaugraue Tapeten mit breiten Mustern, auf dem Doppelbett eine Tagesdecke mit zarten, blauen Blüten. Über dem Bett ein Gemälde, Engelsfantasie inmitten eines Naturpanoramas. Auf dem Nachtschränkchen stand ein relativ großes Foto in einem silbernen Rahmen. Ich blieb kurz stehen, weil es meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Das Foto zeigte ein lächelndes Kind mit strahlenden Augen und lockigem Wuschelhaar, vielleicht ein Sigges-Enkelkind. Aber dieses Schwarz-Weiß-Foto war unscharf, als wäre es durch ein Teleobjektiv fotografiert und anschließend vergrößert worden. Ich fragte mich, ob es nicht geeignetere Fotos gab, um sie sich ans Bett zu stellen. Frau Sigges bemerkte meinen Blick, sie räusperte sich, ich setzte meinen Weg fort. Weiter ging es durch ein Esszimmer, und ich folgte ihr wie ein Schwiegersohn beim ersten Besuch der Familie.
Frau Sigges fragte: „Wie gut kennen Sie Norderney, Herr Gerdes?“
„Ich würde sagen, auf Tourismusniveau. Und seit Kurzem um ein paar Ecken mehr“, antwortete ich.
„Wissen Sie denn eigentlich, warum diese Gegend Nordhelmsiedlung heißt?“, fragte Frau Sigges mit aufgestellten Augenbrauen und wissenden Augen.
Ich hob die Schultern. Der kleine Frank hatte seine Hausaufgaben wieder nicht gemacht. „Da muss ich leider passen.“
Frau Sigges hob einen Finger und dozierte: „Nordhelm meint den Strandhafer, die Helmpflanze, die auf unseren Dünen wächst und diese durch ihre Ausbreitung befestigt. Schon im achtzehnten Jahrhundert wurde das Nordhelm-Ackerland östlich des Dorfes so genannt. Und in den Dreißigerjahren wurden hier die Siedlungshäuser errichtet, um die auf Norderney stationierten Soldaten und deren Familien der Seeflugstaffel und der Nordseefestung unterzubringen.“
„Soso“, sagte ich anerkennend, „das habe ich gar nicht gewusst.“ Die Versetzung ins nächste Schuljahr stand auf der Kippe.
Wir gingen durchs Esszimmer, breite Schiebetüren aus Eichenholz und Glas gaben den Weg ins düstere Wohnzimmer frei, das wegen eines großen Panoramafensters gerade noch ohne künstliche Beleuchtung auskam.
„Sehen Sie, man lernt nie aus!“ Frau Sigges nickte stolz. „Ich war nämlich jahrelang auch ehrenamtliche Fremdenführerin der Insel, wissen Sie? Wir sind bemüht, den ursprünglichen Charme dieser Siedlung zu bewahren, und ... ach“, sie stutzte und machte eine abwertende Handbewegung, „... deswegen sind Sie ja nicht hergekommen.“
Ich schaute mich um. Das Wohnzimmer mit dem fantastischen Seeblick hatte eine gediegene Ausstattung, sie war vielleicht mal sehr teuer. Versailles-Textiltapeten, Perserteppich, Bilder mit Jagdmotiven und Landschaften, die an den Teutoburger Wald erinnerten. Ein insgesamt düsterer Raum der schweren Eichenmöbel wegen. Zum Norden hin das Panoramafenster mit Aussicht über Dünen und Meer, links sah man noch den Rand einer umzäunten Sportanlage. Das Wohnzimmer beherbergte auch eine billige Bontempi-Orgel, die so gar nicht zum Rest der Einrichtung passen wollte. Ich wandte mich um. An der Wand links hinter mir war ein Sekretär mit passendem Regal darüber. In der Mitte des Wohnzimmers ein tiefer Eichentisch mit eingearbeiteten Walfängerkacheln – blaue Motive auf hellem Grund. Um den Tisch herum Plüschsofa und Plüschsessel mit gewundenen asymmetrischen Mustern auf dem Polsterbezug. Ich folgte Frau Sigges’ Blick hinaus über die Dünen. Insgesamt ein gemütlicher Ort, um seinen Vormittagstee zu genießen, mit Blick auf die kalte, raue See.
„Bitte nehmen Sie doch Platz!“ Frau Sigges wies auf den Dreisitzer mit vielen Kissen. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten, einen Ostfriesentee vielleicht?“ Ihr Gesicht spannte sich, aber die Stimme blieb sanft.
Ich nahm Platz auf dem gemütlichen Sofa und sagte: „Da sage ich nicht Nein. Bei diesem nasskalten Wetter ist das eine gute Idee!“
„Ich bin gleich wieder da.“ Frau Sigges bewegte sich in die Küche, die Tür ließ sie angelehnt. Ich hörte Wasser kochen, es wurde umgegossen, unmittelbar darauf kam sie mit einem großen Tablett Geschirr und drei Stockwerken belegter Brote wieder herein. Sie kredenzte alles ganz ordentlich auf dem massiven Tisch. „Ich dachte, Sie haben vielleicht Hunger, wenn Sie sich heute Vormittag bei der Kälte auf den Weg machen“, sagte sie in fürsorglichem Ton. Bei der Menge an Wurst- und Käseschnittchen fragte ich mich, ob sie nicht noch weitere Gäste erwartete. Sie entzündete das Teelicht in einem Stövchen, ging noch einmal in die Küche, um die Teekanne zu holen, und stellte sie auf das Stövchen. In unmittelbarer Nähe wurden Kandiszucker und Sahne platziert. „Mit Kluntje?“, fragte sie, aber die Frage war reine Rhetorik. Bei „Nein“ wären mich die Walfänger holen gekommen. Frau Sigges ließ jeweils zwei Zuckerbrocken in die flachen Tassen mit rötlichen, japanischen Motiven fallen. Sie goss Tee auf die Kluntje, ich bedankte mich, was vom Knistern der Kluntje übertönt wurde. Als Nächstes verteilte sie mit einem gebogenen Löffelchen Sahne auf die Oberfläche des goldroten Tees, die abtauchte, um gleich darauf wie eine Gewitterwolke emporzusteigen. Als Frau Sigges die Zeremonie beendet und es sich mit dem Tee im Sessel gemütlich gemacht hatte, bewegte sie ihren Kopf ganz leicht zur Aussicht, wie um Kraft zu tanken für das, was sie sich vorgenommen hatte. Ihr graues Haar lag auch heute mittels Haarklammern fest an ihrem Kopf, kein Haar tanzte aus der Reihe. Frau Sigges nippte an der Tasse, sie wandte sich mir zu. Ihr Gesicht wirkte auf einmal weicher, ihr Mund verschwand ganz in sich. Sie wartete darauf, dass ich etwas sagte.
Ich tat ihr den Gefallen. „Frau Sigges, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass wir heute miteinander sprechen können ...“
Meina Sigges unterbrach mich, als hätte ich ihr das Stichwort geliefert, woran sie am meisten litt – an Einsamkeit. Sie sagte: „Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie hierhergekommen sind. Wissen Sie, Herr Gerdes, die Kirche wäre nicht der rechte Ort gewesen, um in aller Ruhe die Dinge zu besprechen, die eine besondere Aufmerksamkeit brauchen. Es kommt sonst nie jemand hierher, um mit mir zu reden. Und in der Kirche haben sogar die Wände Ohren, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Sie nahm noch einen winzigen Schluck und stellte Tasse und Untertasse zurück auf den Tisch. Ich nickte verständnisvoll. Frau Sigges lehnte sich zurück und strich ihre Kittelschürze über den Knien glatt.
Ich kam zum Thema zurück: „Nun bin ich ja da,
um ...“
Sie sah mich abschätzig an und fuhr dazwischen. „Wissen Sie, ich bemerke es immer öfter, dass die Menschen zwar vieles reden, aber immer weniger sagen. Menschen treten in unser Leben und wollen uns mit viel Geschwätz beeindrucken, aber die Worte sind leer, sie haben keinen Gehalt mehr. Und sie reden, als wäre ich taub.“
Ich nickte, rührte im Tee, nahm einen Schluck, hielt mich sonst aber zurück. Ich ahnte, dass sie mit dem Thema noch nicht durch war.
Und tatsächlich sagte sie weiter: „Ist Ihnen das auch schon aufgefallen, Herr Gerdes? Die Menschen hören gar nicht mehr richtig hin. Was man sagt, geht an ihnen vorbei. Oft merke ich es schon beim Sprechen, dass mein Gegenüber innerlich abgeschaltet hat, als spräche ich gegen eine Wand, als stünde mir eine Hülse von Mensch gegenüber. Die Menschen werden immer verrückter. Am liebsten möchte ich diese Leute schütteln, damit sie zu Verstand kommen. Geht es Ihnen auch so?“ Ich nickte stumm. Und ihr Mund versank wieder ins Nichts.
Ein paar Sekunden Stille, ich versuchte es erneut: „Das fällt mir hin und wieder auch auf, da gebe ich Ihnen recht. Aber es führt zu nichts, andere korrigieren zu wollen – so funktioniert das nicht. Man kann mit gutem Beispiel vorangehen und hoffen, dass es wahrgenommen wird.“
Frau Sigges schaute mich ernüchtert an, als wäre ihr plötzlich bewusst geworden, dass ich nicht gekommen war, um in den Chor gesellschaftlicher Uneigenarten einzustimmen, sondern etwas über Julia Heymann zu erfahren.
Ich hielt den Moment für gekommen, ihre Gedanken sanft auf das eigentliche Thema zu lenken. „Frau Sigges, Sie erinnern sich bestimmt an unser Gespräch in der Kirche. Es ging um Julia Heymann. Wir sprachen über Ihre aktive Zeit als Hebamme und davon, dass Julia Heymann ein Baby bekam und später Suizid beging. In diesem Zusammenhang erzählten Sie mir von Ihren Albträumen, die Sie des Nachts quälen ...“
„Ich weiß“, intervenierte Frau Sigges abrupt. Ich merkte, dass sie nicht an den Inhalt unseres Gesprächs erinnert werden wollte. „Da, da ging es ... mir nicht gut. Ich hatte da wohl einiges durcheinandergebracht“, fügte sie schnell hinzu und senkte den Blick. Ihre Tränen kamen ohne Ankündigung wie ein Schauer aus wolkenlosem Himmel. Aufgewühlt wischte sie sie mit gekrümmten Fingern weg. Ich sagte nichts. Frau Sigges dürfte inzwischen bemerkt haben, dass ich zu jenen Zeitgenossen gehörte, die zuhören können. Es wurde still in der dunklen Stube. Die Konturen ihres Gesichts schienen aus Eichenholz geschnitzt. Dunkle Flecken lagen unter der Haut, in die sich Sorgen eingegraben hatten.
Nach einer kontemplativen Viertelminute wagte ich einen neuen Versuch: „Gibt es etwas, was niemand sonst wissen sollte? Etwas, das Sie mir nur hier erzählen können?“ Ich baute ihr eine goldene Brücke, und ich hoffte, dass sie darüber auf mich zukam.
Meina Sigges hob den Kopf, schaute mich kurz an und wieder zum Fenster. Und mit einem Ausdruck in den Augen, den ich nicht deuten konnte, wandte sie sich mir wieder zu. „Nein, nein, da müssen Sie etwas falsch verstanden haben.“
Ich hob die Hand mit der Innenfläche nach oben. „Was war es, das ich falsch verstanden hatte, Ihrer Meinung nach?“
Ihr kleiner Mund bewegte sich, die Augen blieben starr. „Ich war gar nicht dabei, als Julia ... entbunden hatte. Man hatte mir nicht rechtzeitig Bescheid gegeben, denn als ich ankam, war ... der Junge schon geboren.“ Ich wartete ab. Frau Sigges fügte hinzu: „Der Junge war ... tot, er ... kam tot zur Welt.“
Das kam zum Teil überraschend. Rolf Heymann sagte zwar, dass das Kind tot auf die Welt kam, aber er sagte auch, dass Julia in Oldenburg entbunden hatte, nicht auf Norderney. Der Grund für diese unterschiedliche Darstellung mochte darin liegen, dass Rolf Heymann nicht in alles eingeweiht war, was seine Frau eingefädelt hatte, und Frau Sigges war als Inselhebamme viel näher am Geschehen als jeder andere. Eine weitere Frage geisterte seit dem Gespräch mit Bonno Cornelius in meinem Hinterstübchen herum.
Ich fragte: „Sagen Sie, war der Pfleger Bonno Cornelius bei der Entbindung dabei?“
Frau Sigges lachte hüstelnd auf. „Was, Bonno? Nein. Wo denken Sie hin? Der war nur für das Säuglingszimmer und aushilfsweise für die Nachsorge bei den Wöchnerinnen eingeteilt. Unter der Geburt hatte Bonno im Kreißsaal nichts verloren.“
Ich trank einen Schluck Tee und fragte: „Wissen Sie, wer bei der Geburt anwesend war?“
Mit leiserer Stimme sagte sie: „Ja, der Doktor war es.“ Sie führte eine Hand an ihren Mund, als wollte sie die letzten Worte festhalten, die ihr schon entwischt waren.
Mit Zurückhaltung in der Stimme fragte ich: „Doktor Jacobs half Julia ganz allein bei der Entbindung?“
Sie starrte mich ein paar lange Sekunden hindurch schweigend an, ihr Atem machte sanfte Zischer durch den stillen Raum. „Nein, nicht allein ... Julias Mutter war auch dabei.“
„Margarete Heymann?“
Meina Sigges nickte schwerfällig, als könne sie selbst nicht glauben, was damals passiert war.
Ich atmete tief ein und ließ mir das durch den Kopf gehen. Margarete Heymann hatte das Heft fest in der Hand gehabt – nichts überließ sie dem Zufall. Es war ihr sogar gelungen, die Hebamme herauszuhalten. Nur Doktor Jacobs war eingeweiht gewesen, und der kochte sein eigenes Süppchen. Geistesgegenwärtig schüttelte ich den Kopf, bemüht, meine Gedanken klar zu halten. Hier trafen unterschiedliche Interessen aufeinander, die sich auf unheilvolle Art ergänzten. Margarete Heymann war daran interessiert, die Schwangerschaft ihrer Tochter geheim zu halten, während Dr. Jacobs auf diese Weise an „Ware“ gelangte, die allerdings unter der Geburt verstarb. Dr. Menno Jacobs’ Rechnung ging nicht auf. Ich fragte: „Und war sonst noch jemand dabei?“
„Nein, nur der Doktor und Margarete.“
„Wissen Sie, warum das Baby starb? Was war die offizielle Todesursache?“
Sie seufzte tief und warf mir einen bekümmerten Blick zu. „Das habe ich nie erfahren, Herr Gerdes“, sagte sie, mit heiserer Stimme. „Das müsste eigentlich in der Patientenakte, also im Geburtsprotokoll, stehen.“
Mir war nur Julias Akte in die Hände gefallen. Vielleicht gab es eine eigene Patientenakte für das Kind, was ich aber bezweifelte. Ich sagte: „In der Patientenakte Julia Heymann ist nichts darüber vermerkt. Auch ein Geburtenprotokoll liegt der Akte nicht bei.“
Ihr Gesicht spannte sich. „Ist das wahr? Das ist aber seltsam, das kann eigentlich nicht sein. Ich hatte das Protokoll gesehen, damals.“
„Oder die entsprechenden Seiten wurden entfernt. Das lässt sich heute kaum mehr nachvollziehen“, schlug ich vor.
„Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„Aber wenn Sie das Protokoll gesehen haben, müssten Sie doch wissen, woran das Kind verstorben war.“
„Herr Gerdes, das ist so lange her, ich kann mich wirklich nicht erinnern. Wissen Sie, wie viele Geburten ich in den vielen Jahren betreut habe?“
Ich ließ diese Worte zwischen uns stehen, nahm die Teetasse an den Mund und leerte sie. Ich spürte, dass sie sich nicht erinnern wollte. Frau Sigges nippte an ihrem Tee und bot mir nochmals an, von den Schnittchen zu nehmen. Ich lehnte dankend ab. Die ganze Sache verbat mir jeden Appetit. Es fehlten wichtige Informationen, die ich mir von Frau Sigges erhoffte. „Frau Sigges, wie viele Geburten gab es denn im St.-Ludgerus-Hospital durchschnittlich?“
Sie zog nachdenklich die dünnen, nachgezeichneten Brauen zusammen. „Bis zur endgültigen Einstellung der Geburtshilfe 2012 waren es die letzten zehn Jahre etwa dreißig bis vierzig Entbindungen pro Jahr. Die Geburtenzahlen sanken seit den Sechzigerjahren kontinuierlich. Damals waren es noch etwa hundertfünfzig bis zweihundert.“
Ich offenbarte Frau Sigges meine Erkenntnisse,
die ich aus Gronewolds Listen gewinnen konnte: „Während der Jahre 1987 bis 1990 wiesen die Geburtszahlen eine signifikant höhere Geburtenrate aus,
etwa dreihundert pro Jahr. Können Sie sich das erklären?“
Auf einmal bekam sie runde Augen, und mit den Schultern zuckend sagte sie: „Nei-in, nein, das kann ich mir nicht erklären.“ Ihre Stimme bekam plötzlich einen helleren Unterton, als sie fortfuhr: „Oh, doch! Gerade fällt es mir wieder ein. Das war ein Fehler in der Statistik! Wir hatten damals Probleme bei der Umstellung auf die Computertechnik.“ Sie fummelte nervös an der Innenseite ihres Kragens herum.
Dass die Liste handschriftlich erstellt wurde, sagte ich nicht. Aber ich konfrontierte sie mit meiner Schlussfolgerung – einem halb offiziellen Ermittlungsergebnis sozusagen: „Nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte, waren in den betreffenden Jahren viele der im St.-Ludgerus-Hospital entbundenen Säuglinge an kinderlose Paare auf dem Festland vermittelt worden. Was wissen Sie darüber?“ Das Wort „verkauft“ verkniff ich mir.
„W-as, w-ie bitte? Das kann ja gar nicht sein, das wäre ja ungeheuerlich! Wie können Sie so etwas behaupten, ohne ...“
Ich unterbrach sie. „Ich würde es nicht behaupten, wenn ich es nicht belegen könnte. Ich möchte mehr über die Hintergründe erfahren und in inwieweit Pfarrer Martin Sander darin verwickelt gewesen ist.“
Sie legte die Hand vor den Mund. „Pfarrer Martin Sander? Sie meinen, der Pfarrer hatte etwas damit zu tun? Wie kommen Sie denn darauf?“
„Sie haben von seinem Doppelleben gehört, vielleicht gibt es da einen Zusammenhang? Irgendwoher musste das Geld ja kommen“, mutmaßte ich.
In ihrem Gesicht spielte sich eine ganze Bühnenvorstellung unterschiedlichster Ausdrücke ab. Sie sagte: „Aber das bedeutet ja, dass die kleinen Babys gegen Geld weitervermittelt wurden. Meinen Sie das, Herr Gerdes? Die Babys wurden verkauft?“
Sie selbst benutzte dieses Wort, und ich bestätigte es mit einem Nicken.
Frau Sigges fragte: „Wieso sollte man so etwas Schreckliches tun?“
„Die Gier ist wie Schmelzwasser – ist ein Pfad versperrt, sucht es sich einen neuen“, philosophierte ich.
Ihr Gesicht war auf einmal grau, der Blick unruhig. Sie lächelte hilflos und sagte: „Wie?“ Frau Sigges zog ihre Schlussfolgerungen. „Wollen Sie damit andeuten, dass ich bei so etwas mitgemacht habe?“
„Ich will nichts andeuten“, ich betrat ein Minenfeld, „aber vielleicht haben Sie es stillschweigend geduldet?“
Sie bewegte ihren Kopf langsam hin und her, als würde sie einem kleinen Kind etwas verbieten. „Das ist doch totaler Quatsch! Was wollen Sie mir denn unterstellen?“ Ihre Stimme wurde lauter, ihr Atem hastig.
Beschwichtigend hob ich die Hände. „Wenn Sie nichts damit zu tun haben, können Sie ganz beruhigt sein. Ich möchte lediglich wissen, ob Sie von den illegalen Adoptionsgeschäften etwas mitbekommen haben?“
„Nein, selbstverständlich nicht! Wo denken Sie hin?“ Frau Sigges vergaß für einen Moment zu atmen, sie schnappte nach Luft. „Herr Gerdes, hätte ich mich denn sonst auf dieses Gespräch mit Ihnen eingelassen?“ Sie wartete einen Moment still im Sessel, schien neuen Mut zu fassen. Meina Sigges erhob sich und ich vermutete schon, dass die Audienz beendet war, aber sie bewegte sich mit knisterndem Kittel zum Sekretär, auf dem zwei bis drei Fotos standen. Behutsam zog sie eine Schublade heraus und nahm ein Foto mit einem schlichten, silberfarbenen Rahmen heraus. Sie drehte sich zu mir herum. Das Bild wie eine Reliquie fest umklammernd, kam sie fast feierlich auf mich zu.
Sie sagte im verbitterten Ton: „Das hier, das ist der eigentliche Grund, warum ich Sie sprechen musste, Herr Gerdes. Ich weiß, Sie sind kein schlechter Mensch, Ihnen kann ich es anvertrauen.“
Erst als ich sah, dass ihre Verzweiflung nicht wich, bemerkte ich ihre tiefe Sehnsucht danach, ihr Geheimnis mit jemandem teilen zu wollen. Sie legte mir das Bild in den Schoß und setzte sich wieder in den Sessel, lehnte sich aber nicht an. Es war still. Bis auf das Ticken der Wanduhr gab es keine Geräusche. Wir bewegten uns nicht, sondern saßen da wie ausgestellte Figuren in einem Wachskabinett. In ihren Augen, so verzweifelt sie auch blickten, war etwas, das ich nie zuvor in den Augen eines Menschen gesehen hatte, und auf einmal liefen die Tränen wieder. Die Finger bewegten sich in der anderen Handfläche und auf einmal steckte da ein Papiertaschentuch, mit dem sie die Tränen trocknete. Sie lehnte ihren Kopf zurück und schloss die Augen. Ich blickte hinunter in meinen Schoß, nahm den Bilderrahmen in die Hand, hob ihn an, um die Frau auf dem Farbfoto besser betrachten zu können. Mir war sofort klar, dass ich dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte. Es zeigte eine lächelnde Frau, draußen neben einer Katze hockend, etwa Mitte dreißig, braunes, schulterlanges Haar, freie Stirn und klare Augen. Ich schluckte trocken. Das Gesicht war etwas fülliger, aber die hohen Wangenknochen, die geschwungenen, vollen Lippen ... das konnte doch nicht sein!
Ich ließ den Rahmen sinken und blickte Meina Sigges an. Sie öffnete ihre Augen, aber sonst zeigte das Gesicht keine Regung. Ich schaute noch einmal auf die Fotografie – kein Zweifel. Diese Aufnahme war zwar Jahre später gemacht worden, doch die Ähnlichkeit mit dem Gesicht auf dem Foto in Rolf Heymanns Börse war unverkennbar. Es war Julia Heymann, etwa zehn Jahre nach ihrem angeblichen Suizid. Sie war nicht tot, sie hatte sich nicht das Leben genommen. Verwirrt blickte ich Meina Sigges an. Sie rührte sich endlich, nickte fast unmerklich. „Julia Heymann lebt“, sagte die Hebamme. Ein fast lautloses Seufzen folgte, und ich spürte, wie das Aussprechen dieses Satzes ihre Seele befreite.
„Was ist wirklich passiert?“, fragte ich.
Sie starrte hinaus aufs Meer, als wüsste sie nicht, wo sie beginnen sollte. „Ich erzähle Ihnen ein Familiengeheimnis, Herr Gerdes.“
„Das soll es auch bleiben.“
Sie wandte mir ein müdes Gesicht zu, sah mich aus kummervollen Augen an, in denen neue Tränen schimmerten. „Ja, das war nicht einfach damals“, kam in einem hauchdünnen, fast schmerzlichen Ton. „Julia vertraute sich mir unmittelbar nach der Entbindung an. Sie wollte weg von ihren Eltern und aus diesen Verhältnissen, und ... sie wollte allen richtig wehtun. Julia wollte es ihnen heimzahlen. Das sei die Quittung für viele Jahre Schikane durch ihre Mutter und wohl auch durch die Schulkameraden, wie sie sagte.“
„Sie inszenierte ihren Suizid.“
Meina Sigges nickte. „Und das machte sie sehr gründlich.“
Ich schaute noch einmal aufs Bild, betrachtete den Hintergrund und versuchte schlau daraus zu werden. Verschwommenes Grün, Sträucher oder niedrige Bäume im Sommer. „Wohin hatte sie sich abgesetzt?“, wollte ich wissen.
„Sie ging nach Schottland. Niemand würde dort nach ihr suchen, meinte sie.“
„Nach Schottland?“ Das brachte mich auf eine Idee. „Haben Sie noch Kontakt zu ihr?“
Frau Sigges nickte. „Ja, wir haben seit ungefähr dreiundzwanzig Jahren Kontakt. Mal mehr, mal weniger.“
„Julia müsste heute um die ... fünfundvierzig Jahre alt sein.“
Meina Sigges nickte.
Ich fragte: „Glauben Sie, dass Julia einem Gespräch zustimmen würde?“
Ihre Augen wurden rund, langsam hoben sich die Brauen wie schwergängige Jalousien. „Einem Gespräch mit ... mit Ihnen?“, fragte sie.
„Ja, ganz diskret. Selbstverständlich bleibt Julias neue Identität geheim.“
Frau Sigges dachte nach, sie sagte: „Ich kann mir vorstellen, dass sie mittlerweile offen dafür wäre, weil ihre harte Schale langsam aufbricht. Allerdings wohl nur, wenn ich ein gutes Wort für Sie einlege.“
Ich ermutigte sie: „Es wäre mir eine große Hilfe, Frau Sigges.“
Sie zögerte. „Wissen Sie, es würde mich freuen, wenn Julia einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen würde. Sie sollte ihren Groll gegen die Norderneyer endlich aufgeben. Über die Jahre war sie sehr verbittert geworden. Die harschen Worte in ihren Briefen sprechen für sich. Es wäre schön, wenn es Ihnen gelingt, Julia dazu zu bewegen, wieder nach Hause zu kommen. Das wäre wie eine ... Auferstehung von den Toten.“
Ich fragte: „Was wissen Sie über Julias Familienstand? Hat sie in der Zwischenzeit geheiratet oder lebt sie mit jemandem zusammen?“
„Ob sie heute mit jemandem zusammenlebt, weiß ich nicht. Darüber hat sie nie viel geschrieben, ihre Briefe waren ja leider immer nur kurz und knapp, oft waren es nur Karten in einem Umschlag. Sie wollte sich unter keinen Umständen verraten, falls die Post in falsche Hände geraten sollte. Aber ich glaube nicht, dass sie geheiratet hat, ich hatte jedenfalls nicht den Eindruck. Ihr Freund Keno war ihre große Liebe, obwohl sie ja leider nie zusammengekommen sind.“ Sie schüttelte leicht den Kopf. „Ach, bitte verzeihen Sie, ich weiß gar nicht, inwieweit Sie informiert sind. Keno starb 2011 an Krebs.“
Ich sagte ihr, dass ich es wusste. Ich fragte: „Wie ist Julias Anschrift und die Telefonnummer?“
„Julia lebt unter einem anderen Namen, Herr Gerdes. Bitte versprechen Sie mir, dass Sie sorgsam damit umgehen. Wenn das rauskommt, wäre der letzte Rest Vertrauen auch noch weg.“
„Selbstverständlich, Frau Sigges. Sie können sich auf mich verlassen. Ich benötige diese Angaben nur, um mit Frau Heymann in Kontakt zu treten.“
Sie schien beruhigt zu sein. „Julia heißt heute Shona MacKenzie.“ Frau Sigges hievte sich aus dem Sessel, ging wieder zum Sekretär und zog an einer anderen Schublade. Darin kramte sie herum, nahm einen weißen Umschlag heraus und las vor: „Shona wohnt in Dundee, in dem Stadtteil Broughty Ferry, in der Blake Avenue 56.“ Sie schaute in einem Verzeichnis nach und nannte mir zudem Julias Telefonnummer.
Ich notierte mir die Angaben im Smartphone, stand auf, bedankte mich und sagte: „Wenn Sie heute noch Kontakt mit ihr aufnehmen könnten, um mich gewissermaßen bei ihr anzumelden, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Das würde mir sehr weiterhelfen!“
„Ja, das mache ich“, versicherte sie.
„Darf ich Sie heute Nachmittag anrufen?“
Frau Sigges hob leicht ihre Hand, wie um ihre Zuverlässigkeit zu unterstreichen. „Ich erwarte Ihren Anruf heute Nachmittag.“ Ein unverbindliches Lächeln huschte über ihr Gesicht. Wir standen da und sahen uns an. Gern hätte ich das Lächeln auf ihrem Gesicht konserviert, aber Meina Sigges war müde und sehnte sich nach Ruhe. Von den zubereiteten Broten hatte ich kein einziges genommen, sie würde es an ihre Nordhelmer Nachbarn verfüttern müssen. Ich dankte für den Tee. Frau Sigges begleitete mich durch den Flur, ich nahm meine Jacke vom Bügel und zog sie mir im Gehen über. Dann trat ich durch die Haustür nach draußen, drehte mich zu ihr um und bedankte mich für ihr Vertrauen. Sie nickte, ohne den Kopf zu heben, machte die Tür fest zu und ging zurück in ihr stilles Reich mit Panoramablick.