Kapitel 19

Ich radelte zurück zu Antjes Wohnung und sah mir dort online die Flüge nach Schottland an. Sogar für diesen Abend war noch was zu bekommen, von Hamburg nach Glasgow. Diesen Flug speicherte ich vorsorglich ab. Gleich darauf machte ich im Inselmarkt Kruse ein paar Besorgungen und fütterte Antjes Kühlschrank damit. Ich bekam Hunger, machte mir ein einfaches Essen: leicht aufgeschlagene und gewürzte Eier mit Milch in der Pfanne verrührt, dazu Schinkenwürfel. Während des Essens ging ich die letzten Ereignisse noch einmal durch. Julia Heymann war am Leben, somit war sie eine weitere Verdächtige. Etwas unrühmlich: gerade erst wieder am Leben und schon verdächtig. Wenn sie es auch der Entfernung wegen nicht selbst getan hatte, sie könnte aber jemanden auf ihre Mutter und Dr. Jacobs angesetzt haben. Zudem fragte ich mich, ob Julia Heymann und Bonno Cornelius sich kannten. Cornelius machte aus seiner persönlichen Betroffenheit keinen Hehl. Er klagte über die seltsamen Vorkommnisse in der St.-Ludgerus-Klinik, machte die Verwechslung von Säuglingen publik, wenngleich mit angezogener Handbremse. War Bonno Cornelius der allzu willige Vollstrecker für Julia Heymann? Es gab noch zu viele unbekannte Größen in dieser Gleichung: Was hatten Pfarrer Sander und Gronewold damit zu tun? Nach wie vor fehlte mir der Blick fürs Große und Ganze, was war die Schnittmenge in dem System Jacobs/Sander/Gronewold? Vielleicht würde das Gespräch mit Julia Heymann etwas ergeben, wenn es denn stattfände.

Gegen sechzehn Uhr rief ich Frau Sigges an. Sie sagte, Julia Heymann sei mit dem Gespräch einverstanden. Ich bedankte mich und sagte ihr, dass ich Frau Heymann noch heute anrufen würde. Kurz darauf wählte ich ihre Nummer mit der +44er-Vorwahl, ich vernahm ein förmliches: „Hello?“

Ich legte meine Stimme in manierliche Falten. „Guten Tag, spreche ich mit Shona MacKenzie?“

Ihre Antwort kam eisig und direkt wie ein Kundenservice für Gefrierschränke. „Sie sind Herr Gerdes, Meina Sigges hat Sie mir angekündigt.“

Meine Stimme straffte sich. „Ganz genau.“

Frau Heymanns Stimme klang rauchig. „Sie sind in Familienzusammenführung unterwegs, oder wie soll ich Ihren Anruf verstehen?“

Ich antwortete ebenso direkt. „Ganz bestimmt nicht. Wenn Frau Sigges das so gesagt hat, entspricht das wohl eher ihrem Wunsch.“ Ich ging aufs Ganze. „Ich bin mit privaten Ermittlungen betraut und bearbeite gerade einen Fall zum Tod von Doktor Jacobs. Es haben sich Zusammenhänge ergeben, die mich dazu veranlassen, mit Ihnen über ...“

Shona MacKenzie alias Julia Heymann fuhr hektisch dazwischen: „Das ist ziemlich viel Text, mit dem ich nichts anfangen kann.“ Sie unterbrach sich. „Was sagten Sie? Doktor Jacobs ist tot? Das ist ja ... äh, was habe ich damit zu tun?“

„Ich möchte mit Ihnen jetzt nicht über Doktor Jacobs sprechen, sondern über das, was Sie vor achtundzwanzig Jahren dazu bewogen hat, zu gehen.“

„Als ob Sie das etwas anginge!“, blaffte sie durch den Hörer.

Ich ließ es hinter schottischem Hochnebel verblassen, suchte nach anderen Worten. „Sie haben natürlich recht, es geht mich nichts an. Sie könnten mir aber durch das, was Sie erlebt haben, zu einer anderen Sichtweise auf das St.-Ludgerus-Hospital verhelfen ...“

Sie intervenierte, aber ihr Tonfall war jetzt weniger aggressiv: „Was kann ich dazu schon beitragen?“

„Frau MacKenzie, ich glaube, es ist auch in Ihrem Sinne, wenn wir am Telefon auf Einzelheiten verzichten. Sie brauchen sich keine Sorgen bezüglich Ihrer neuen Identität zu machen, die ich nach unserem Gespräch vergessen haben werde.“

„Ha! Das klingt ja überzeugend!“ Julia Heymann klang jetzt lockerer. „Na gut. Und darum wollen Sie nach Schottland kommen?“

„Ich sage es mal so, ich brauche dringend eine Luftveränderung.“

„Das ist der Inselkoller, stimmt’s?“

„Ich kann es nicht treffender sagen.“

Eine Pause, ein Knistern in der Leitung – Nessi hatte angebissen. Dann sagte sie: „Meinetwegen, kommen Sie. Wann können Sie hier sein?“

Ich warf einen kurzen Blick in meinen Laptop, der Flug ging noch heute Abend. Ich sagte: „Morgen gegen zehn, schottischer Zeit?“

„Das passt.“

„Bis dann.“

„Und, Herr Gerdes?“

„Ja?“

Ein Zögern, dann: „Nennen Sie mich Julia.“

„Gut. Ich bin Frank.“

Wir legten auf, ich klickte auf „Buchen“, umgehend ging die Bestätigung ein. Über die Homepage der Fluggesellschaft checkte ich ein, der Boardingpass mit dem QR-Code landete per E-Mail auf meinem Smartphone. Ich packte ein paar Sachen und schaute nebenbei auf den Abfahrtsplan der Frisia-Reederei. Die Fähre ging um fünf, Antje und ich würden uns verpassen – leider anders als geplant. Kein Sonnenuntergang auf der Promenade, kein gemeinsamer Spaziergang. Schade. Ich nahm meine Tasche und spazierte zum Anleger. Auf dem Weg rief ich Antje an und hielt sie auf dem Laufenden.

Sie war alles andere als begeistert. „Und du glaubst, wir sehen uns in diesem Leben noch mal wieder?“

„Ja, später“, antwortete ich.

„Später ist auf der Walz. Du weißt nie, wann es bei dir einkehrt.“

„Ich rechne mit übermorgen“, prognostizierte ich.

„Ich nehme dich beim Wort.“

„Dann machen wir einen Champagner auf“, schlug ich vor.

Antje lachte und fragte: „Aldi oder Brut?“

„Cuvée Brut 2002 liegt in deinem Kühlschrank bereit.“

Ihre Stimme bekam einen feierlichen Ton: „Oh, charmant, Herr Gerdes.“ Sie lachte wieder. „Hab einen guten Flug, mein Lieber. Bis dann!“

„Danke. Der Schlüssel liegt übrigens unter der Mülltonne.“

„Prima. Ich hoffe, es ist der Schlüssel zum Glück.“

Wir beendeten das Gespräch. Auf See kreuzten sich unsere Fähren. Als wir aneinander vorbeifuhren, winkten wir uns zu. Ein Bild des Schicksals? Wir fuhren so oft im Leben aneinander vorbei – für mehr hatte es nicht gereicht ...

An Land startete ich den Volvo und brauste davon. Ich schaffte es rechtzeitig nach Hamburg-Fuhlsbüttel und erreichte meinen Flieger.